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Friedrich Luft: "Über die Berliner Luft"
Ironischer Kulturkritiker der Großstadt

Wie sieht ein Elefant von innen aus? Kann man mit oder ohne Bart besser fluchen? Friedrich Luft, der große Feuilletonist, ging den Fragen des Alltags mit feiner Ironie und stilistischer Eleganz nach. Seine aufmerksamen Beobachtungen zeigen, wie vielfältig das Feuilleton in seiner goldenen Zeit war.

Von Tobias Lehmkuhl |
    Undatiertes Foto: Der Theaterkritiker Friedrich Luft am Schreibtisch
    Gehörte wie Alfred Kerr, Kurt Tucholsky oder Alfred Polgar zu den Feuilletonisten, die Zeitungs- und Literaturgeschichte schrieben: der Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft (undatiertes Foto) (picture-alliance / akg-images)
    Das Feuilleton ist eine recht junge Erfindung. Ein eigenständiger Platz innerhalb der Tageszeitung wurde ihm erst im 19. Jahrhundert eingeräumt. Ein Platz, den es wie auch manche Zeitung überhaupt, hier und da schon wieder hat räumen müssen. Und so, wie manche das grundsätzliche Aussterben der Tageszeitung befürchten, befürchten viele, dass das Feuilleton noch weit früher zu Grabe getragen werden wird.
    Ja, mit einigem Recht könnte man behaupten, dass es das Feuilleton im klassischen Sinne schon längst nicht mehr gibt. Sicher, es gibt das Kultur-Ressort, in dem Theaterstücke und Bücher rezensiert, neue Platten vorgestellt und über die Entwicklung der Neuen Medien berichtet wird. Was sich früher aber "Unterm Strich" fand, die kleine das große Ganze erhellende Alltagsbeobachtung, das, was der Flaneur an Kuriositäten und philosophischen Erleuchtungen am Straßenrand aufliest, das gibt es nicht mehr.
    Ja, auch im Feuilleton wird heute und mehr denn je über den Zustand der Welt nachgegrübelt, wird uns erklärt, was es zu bedeuten hat, wenn die Frau des amerikanischen Präsidenten einen weißen Hut aufhat oder dass man besser wegschaut, wenn der russische Präsident den Oberkörper frei macht. Es wird über die Demokratie reflektiert und ob sie noch zu retten ist oder darüber nachgedacht, was das Smartphone mit unseren Köpfen anstellt. Im Grunde werden weit mehr Dinge im Feuilleton verhandelt als jemals zuvor, Wissenschaft und Politik sind auf den Seiten der Kultur heute präsenter als vor 20 und erst recht als vor 100 Jahren.
    Und doch scheint das Feuilleton als Ort des gebildeten Großstädters Vergangenheit. Denn heute ist das Feuilleton global. Der Horizont endet nicht mehr am äußeren S-Bahn-Ring, der Horizont umspannt jetzt die ganze Welt. Der Feuilletonist ist in Los Angeles genauso zu Hause wie in Shanghai, alles ist verfüg- und erreichbar. Bleibt die Frage, ob damit etwas gewonnen ist, zumal für das Schreiben von sogenannten Feuilletons, ob Ernsthaftigkeit und die drängende Frage nach Relevanz nicht jene Leichtigkeit und jenen Humor verdrängt haben, der einst der Grund waren, warum man diese Artikelchen unterm Strich so gerne las.
    Freilich kann sich der Autor dieser Zeilen selbst nicht mehr an jene vermeintlich Goldenen Jahren erinnern, als Alfred Kerr, Kurt Tucholsky oder Alfred Polgar Zeitungs- und zugleich Literaturgeschichte schrieben, als sie definierten, was Stil ist und ganz neue Erzählweisen schufen. Der nun vorliegende Band mit Feuilletons von Friedrich Luft bietet aber noch einmal Gelegenheit zurückzuschauen, auf jene Zeit, deren letzter Repräsentant Luft womöglich war. Die Vergänglichkeit, muss man dazu sagen, ist freilich des Feuilletonisten ureigenstes Gebiet.
    "Hier liegt die Tragik des Kurzprosaikers: Man könnte dreist die letzte Weisheit publizieren - mit der nächsten Zeitungsnummer ist sie schon passé und Makulatur. Jemand kann sich die blutendsten Verse vom Herzen reißen, gibt er sie ins Morgenblatt, so schnalzt mancher Leser wohl beim Morgenkaffee genießend die Zunge. Aber nichts hindert den gleichen Leser, mit dem gleichen Gedicht am Abend das Herdfeuer zu entfachen."
    Bücherverbrennung: ein "Schmierentheater"
    Heute würde sich Friedrich Luft wohl verwundert die Augen reiben, wenn er sähe, dass eine Auswahl seiner Feuilletons in der Anderen Bibliothek vorliegt. Mit den edlen Bänden dieses Verlags käme wohl niemand auf die Idee ein Herdfeuer zu entfachen, wie offenes Feuer heutzutage ja überhaupt kaum mehr zu finden ist. Nein, ein wenig Eitelkeit und Koketterie des Feuilletonisten ist freilich dabei, wenn er die Kurzlebigkeit seiner Erzeugnisse beklagt. Denn erstens hat Luft immer wieder auch Sammlungen seiner Feuilletons, Kritiken und Glossen in Buchform veröffentlicht, zum anderen liegt in der Geschwindigkeit des Schreibens und Veröffentlichens für den Feuilletonisten durchaus der Reiz seines Gewerbes: In minimaler Zeit, maximal brillant sein, wie ein Hundertmeterläufer, der in zehn Sekunden schier Unglaubliches vollbringt, dessen Tat hernach aber, so er, was in den seltensten Fällen vorkommt, keinen Rekord aufstellt, fast ebenso schnell vergessen ist. Feuilletonisten sind Sprinter, die lange Distanz liegt ihnen nicht. Weder Polgar noch Kerr, Weder Tucholsky noch Luft haben je einen Roman geschrieben - auch Tucholskys "Schloß Gripsholm" ist ganz aus dem Geiste des Feuilletons geschrieben, jener heiteren Lust an der Vergänglichkeit.
    Friedrich Lufts Roman „Über die Berliner Luft“ und im Hintergrund das ehemalige RIAS-Gebäude
    Beobachtungen aus dem Großstadtalltag: "Über die Berliner Luft" (Cover: Die Andere Bibliothek / Hintergrund: Deutschlandradio / Mila Hacke)
    Tucholsky und Luft trennt zwar keine ganze Generation, ihr Schaffen aber überschneidet sich, wenn auch nur um wenige, so doch um entscheidende Jahre. Als Tucholsky sich 1935 das Leben nimmt, hat Luft gerade angefangen in Zeitungen zu publizieren. So weit es in dieser Zeit überhaupt noch möglich war, denn schon im Mai 1933 war es zu der großen Bücherverbrennung gekommen, deren Zeuge auch der junge Student wurde.
    "Ich bin mit hingegangen, habe mir das angesehen und habe natürlich, als vom Theater geschulter junger Mann, erkennt, welche große, gemeine, infernalische, theatralische Wirkung so etwas hatte. Und man konnte verstehen, wie nun langsam neben einem einer oder der andere abbrach, der sich früher auch negativ zu den Nazis verhalten hatte, wie die plötzlich in den Sog des großen Schaugepränges mit hineinkamen und wie sie sich aufgeilten an dieser brutalen Dramatik und Theatralik, die da betrieben wurde. Nun muß ich aber sagen - vielleicht kommt da meine ästhetische Veranlagung zum Tragen -, daß ich also ziemlich schnell, oder sofort oder von vornherein auf dieses Schmierentheater, das es dann ja doch war, nicht hereinfiel."
    Friedrich Luft hatte das Glück, wie Wilfried F. Schoeller in seinem kenntnisreichen Nachwort zu der vorliegenden Auswahl schreibt, zwei reiche schottische Onkel zu besitzen, die ihn, Tochter eines Berliners und einer Frau aus Edinburgh, finanziell unabhängig machten. Er musste sich in Deutschland nirgendwo andienen und konnte viel reisen. Damit war es ab 1939 allerdings vorbei, doch auch während des Krieges blieb Luft das Glück hold. Er musste nicht an die Front, sondern durfte Drehbücher schreiben. Nicht für Propaganda-Spielfilme, sondern für ideologisch viel unververfänglichere Sachfilme: "Die Gasmaske bei Mensch und Pferd" war etwa sein Werk.
    Kriegserfahrungen im Feuilleton
    Nach dem Krieg engagierten ihn die Amerikaner vom Fleck als Chefredakteur ihrer "Neuen Zeitung". In dieser Zeit, in den Jahren zwischen 1945 und 1947 erschienen dann eine Reihe von Feuilletons aus seiner Feder, die er mit dem Namen Urbanus zeichnete und damit zugleich als das markierte, was sie sein sollten: Blätter und Berichte aus dem Geist der Großstadt. Diese lag freilich in Trümmern, und so wie langsam der Wiederaufbau Berlins begann, so suchte Luft an die Tradition des Feuilletons anzuknüpfen, wie es in den zwanziger Jahren gepflegt wurde, ja wie es zu schönster Blüte gelangt war. Das bedeutete zuallererst eine stilistische Anstrengung: spielerische Eleganz, feine Ironie, die Fähigkeit auch über große Gefühle zu sprechen ohne in Kitsch und Pathos abzudriften. All das war zwölf Jahre lang nicht möglich gewesen.
    Ob es nach Weltkrieg und Holocaust wieder möglich sein könnte, war die Frage. Dazu mussten eben diese wenig kurzweiligen Themen, mussten, um glaubwürdig zu bleiben, der Schrecken und die Schande ins Feuilleton geholt werden. Und tatsächlich griff Luft immer wieder die Erfahrung des Krieges auf, die er mit den meisten seiner Leser teilte, etwa in dem 1946 erschienen Text "Berlin vor einem Jahr", als sich in den letzten Kriegstagen alle Berliner in Kellern verkrochen.
    "Am Boden war im Schein der Kerze die Blutlache des getroffenen Tellerwäschers zu sehen. Die Nacht wurde lang. Draußen tobte die Schlacht, unwirklich, abstrus und wie in einer fremden Welt des Irrsinns. Man war überwach und betrachtete plötzlich alles mit einer Schärfe und Abgezogenheit, als stünde man neben sich selber. Dann nickte man ein. Und erwachte von nahem Geschrei vor der Kellertür: hier hätten welche auf einem platten Handwagen die Leiche des gefürchteten Blockwarts gebracht, des bis vorgestern Volkssturmwütigen. Es habe sich aus dem Fenster gestürzt, sich selbst und seine Frau. Wohin mit der Leiche? Man solle sie in den Vorgarten werfen! Man tat es. Dort lag sie noch Tage."
    Die Unbilden des Kriegs und des Nachkriegs, den Mangel an Nahrung, das Leben auf Lebensmittelkarten, beschreibt Luft ohne Lamoryanz. Bei 1,86 Meter Größe wiegt der Chefredakteur der "Neuen Zeitung", wie er selbst angibt, ein Jahr nach dem Krieg gerade einmal 61 Kilogramm. Vielleicht war es tatsächlich der Hunger, der ihn ein einziges Mal dazu hinreißt, nicht die Sprache des Feuilletonisten, sondern die des Faschisten zu wählen. In seinem "Brief an einen Schwarzhändler" heißt es:
    "Und vergeßt nicht, daß Ihr Hundsfötter seid, allzumal, und eine mindere Sorte Mitmensch in dieser stöhnenden Zeit. Ihr seid überfällig und ein böses Geschwür. Ihr vergeßt es zu leicht. Wir verachten Euch alle, wie ich Sie, Teuerster, besonders der Verachtung versichere."
    Der Holocaust kommt in Lufts Zeitungstexten, zumindest in dieser Auswahl, dagegen nicht vor. Nicht direkt. Denn wer wollte schon der eigenen Schande beim Morgenkaffee ein ums andere Mal ins Auge blicken? Indirekt aber schwingt in Lufts Text hin und wieder mit, dass hier etwas verdrängt wird und dass dies dem Autor durchaus bewusst ist. Dann nämlich, wenn er beobachtet, wie durch rastlose Tätigkeit die Ruhe des Nachdenkens vermieden werden soll.
    "Die Leute drängen zum Einganz der Untergrundbahn. Sie tragen Aktentaschen und weisen sich damit als tätig und emsig aus. Oder sie schleppen das Joch dieser Tage, den unvermeidlichen Rucksack, auf dem gebeugten Rücken. Aber eilig sind sie alle und sehr ernst und sehr rege und sehr wichtig und so wunderbar aufbauwillig, wie sie mit schnellem Atem zur U-Bahn drängen."
    Lehrstuhl der Heiterkeit
    Luft sieht die Aufgabe des Feuilletonisten gerade darin, stehen zu bleiben, den Blick schweifen zu lassen, ohne Aktentasche und Rucksack innezuhalten als sogenannter "Eckensteher des Alltags" um hernach, wie er schreibt, mit dreißig zwecklosen, aber sinnvollen Zeilen ein kleines Fenster aufzustoßen und Licht einzulassen in den täglichen Tag. Nicht zufällig liefert in diesen Zeiten des Schreckens und der Trauer eine kluge Rechtfertigung des Humors. Anlass ist die Idee einer zu entwickelnden neuen Wissenschaft, der Lachologie:
    "Vom Lehrstuhl der Heiterkeit würden Witz, Humor, Ironie, Sarkasmus, Schalkerei, Albernheit und alle Grade des Gelächters durch scharfsinnige und treffende Distinktionen festgelegt werden müssen. Und - beim heiligen Demokritos! - es wir ein Hauptspaß sein, wenn die Ulkprofessoren sich in die Haare kriegen, weil einer ein Lichtenberg-Anhänger und der andere vielleicht ein Wilhelm-Busch-Apostel ist. Es müßte die tötende, die lockernde, die balsamische Wirkung des Scherzes durch die Jahrhunderte streng nach historische Manier ergründet werden, und es würde herauskommen, daß mancher Krieg sich hätte vereiden lassen, wäre man ihm durch eine Scherz zuvorgekommen und hätte so die Spannungen ins Heitere gewendet und gelöst."
    So könnte man Heiterkeit und Ironie als politische Aufgabe betrachten. Bei Friedrich Luft zumindest geht mit den scheinbar harmlosesten Feuilletons niemals ein Geschmäckle von Weltflucht einher. Luft weiß, warum er mit der Sprache spielt, warum er stilistischen Eigensinn über jede Ideologie stellt. Der Feuilletonist ist ein Eckensteher, ein Beobachter, der zugleich darum weiß, dass er Teil jener Welt ist, die er beobachtet.
    "Ich glaube, daß ich im letzten Grunde nur an den Zweifel glaube. An das Glück des Unterscheidens. An die Wohltat des Denkens. Nicht an das Finden. Nicht an das Geborgensein. Nicht an die "Wahrheit". Aber an die Sehnsucht nach ihr, an die förderliche Unruhe, die das Leben bewegt. Ich glaube, daß ich im letzten Grunde nur an den Zweifel glaube."
    Das Hohelied des Bettes
    Ein Zweifler ist dieser Friedrich Luft, aber ein neugieriger Zweifler. Seine Feuilletons widmen sich dem Wetter wie der Wirtschaft, der Kneipe wie der Briefpost, er verfolgt das Treiben der "Antifluchliga", wie den "Streit um den Bart", erzählt von Begegnungen mit Menschen auf der Straße oder mit einem Sokrates beim Bier. Er schreibt über "Reiseroutiniers, Leute die sozusagen mit der Achse verwachsen sind" und nennt sie "reisende Dickhäuter. Gesellen, die den Schauer vor der Ferne verlernten. Achsensnobs. Kilometerhyänen." Auch manches Bonmot unterläuft ihm, mancher Aphorismus. "Der gemäßigte Stumpfsinn rettet den Menschen vor der gedanklichen Selbstzerfleischung", schreibt er. Und dann wieder singt das Hohelied der Bettstatt:
    "Ein Möbelstück nur, vier Beine. Eine Auflage. Ein Kissen. Eine Decke. Mehr bedarf es nicht. Und doch der magischste Gegenstand in des Menschen Dasein vom ersten Schrei bis zum Seufzer seines letzten Atemzugs."
    Gegenstände bieten sich dem Feuilletonisten überall, er muss nur Augen und Ohren offenhalten und er findet sie vor der Haustür. Eine Abteilung in der Sammlung "Über die Berliner Luft" ist gleichwohl Reiseskizzen des Autors vorbehalten. Als Chefredakteur der "Neuen Zeitung" wurde er Ende der vierziger Jahre zu einer Amerika-Reise eingeladen und berichtete nun seinen Lesern daheim, was für ein wundersames Land diese Vereinigten Staaten seien: Hier könne man noch um Mitternacht in einen Laden gehen und einkaufen, ja man dürfe sich diese unvergleichlich reiche Fülle eines amerikanischen Supermarkts selbst in den Einkaufswagen laden. Die Landschaft sei grandios, die Menschen erscheinen äußerst bemerkenswert. Es ist ein Land, dem offenbar viel zu danken ist. Gleichwohl, und das ist diesem Friedrich Luft hoch anzurechnen, bleibt er offen auch für andere Weltentwürfe. Seine Entscheidung, in West-Berlin zu bleiben und nicht im Osten für die sowjetischen Besatzungsbehörden zu arbeiten, ist zwar durchaus eine Entscheidung für die Demokratie und gegen die Idee des Sozialismus, aber keine, die ihn in den Stand versetzen würde, das Treiben in der anderen Hälfte Deutschlands von Grund auf zu verdammen. Im Gegenteil. Spätestens in den sechziger Jahren sieht Luft mit immer kritischerem Blick, was mit der Demokratie geschieht, wenn man sie nicht pflegt.
    "Wer heute sich umsieht, erkennt, daß die Einmütigkeit der Ziele verloren ist. Wer bei den Intellektuellen besonders Umfrage hält, erschrickt vor der Lethargie, die sich breitzumachen beginnt. Ein neuer, heimlicher Ekel vor der Beschäftigung mit dem Gemeinwohl ist zu spüren. Das böse Wort von der zweiten Emigration nach innen geht um. Wer die fünfzehn Tageszeitungen verfolgt, wie sie hier in vielerlei Lizensierung erscheinen, den kann allerdings häufig genug der Ekel vor dem Mangel an Sachlichkeit ergreifen. Die Jagdgründe des Allzupersönlichen werden mit List wieder aufgesucht. Kesseltreiben auf einzelne setzt ein."
    Marilyn Monroe und das Schaupalaver
    Besonders das von Luft sogenannte Schaupalaver ruft bei ihm allergische Reaktionen hervor, all die "Gespräche am Runden Tisch", die "Forum-Debatten" und "Prominenten-Diskussionen". Was hätte er erst zur heutigen Talkshow-Kultur, beziehungsweise -Unkultur gesagt! Vielleicht wäre er einfach mit seinem Neffen Klein-Fritzie in den Zoo gegangen.
    "Wie sieht der Elefant von Innen aus"? fragt der Neffe. Und damit ist die Reputation unseres Erdteils gerettet. Das ist Geist von Livingstones Geist. Das ist die selige Unersättlichkeit des Abendlandes. Nicht nur die Haut der Dinge, sondern ihr Inneres und ihren Ursprung. Klein-Fritzie hat mit diesen Worten mehr getan als nur eine dumme Frage gestellt. Er ist der langen Ahnenreihe würdig. Und wenn Urbanus ihn jetzt vor dem Elefanten küßt, so grüßt er damit einen ganzen Erdteil und dessen Überlegenheit."
    Dort im Zoo hätte er, und das ist dann wohl dem Geist der Zeit geschuldet und mutet heute etwas ungut an, jener, Zitat, "erfreulichen Spezies frischer Weiblichkeit" nachgeschaut, die in Berlin wachse und den Flaneur immer wieder entzücke. Gleichzeitig sah Luft, am Beispiel Marilyn Monroes, mit glasklarem Blick, wie Stars gemacht werden, und wie sie an diesem gemacht und immer wieder passend gemacht werden regelmäßig zugrunde gehen.
    Luft ist im besten Sinne Kulturkritiker. Die Auswüchse der Zeit prüft er mit kritischem Blick, ohne jemals in ein "Früher war alles besser" zu verfallen - ob es nun um den aufkommenden Starkult, die Debattenkultur oder Geschwindigkeitsrausch und Leistungszwang geht. So kolportiert er, wie Friedrich Wilhelm IV. einstens der Bau der Eisenbahnlinie Berlin-Potsdam schmackhaft gemacht werden sollte.
    "Er könne, wenn er mit der zu bauenden Bahn Berlin um sieben Uhr morgens verließe, um acht schon in Potsdam sein. Hier gab der dicke Monarch eine Antwort, die aus einer klassischen dummen Frage bestand: "Und was tue ich um acht in Potsdam?" Die Replik ist trefflich und entblößt das Problem der leerlaufenden Schnelligkeit bis aufs Fleisch. Die Fürsprecher der gedankenlosen Zeitgewinns standen aufs Mail geschlagen. Denn was mit den gewonnen Stunden begonnen werden sollte, das freilich hatten sie nicht überlegt."
    Ab Mitte der 60er-Jahre widmete sich Luft immer mehr dem Theater, seine Theaterkritiken erschienen schließlich in zwei Bänden im S. Fischer Verlag. Dem Feuilleton im Sinne kulturkritisch-ironische Alltagsbeobachtung widmete er sich fast gar nicht mehr. Vielleicht erschien ihm selbst die Goldene Zeit des Feuilletons, wie er sie kannte, in der er aufgewachsen war, passé. Vielleicht schien ihm auch, wurden die wichtigen Themen nicht mehr auf der Straße, sondern auf der Theaterbühne verhandelt. Grundsätzlich geäußert hat er sich nicht dazu, wie Grundsätze und Prinzipien ihn ohnehin immer skeptisch gemacht haben. Statt in Programmen und gelehrten Abhandlungen blätterte lieber in jenem Buch, das nun schon vor der Tageszeitung und vor dem Feuilleton ausgestorben ist, dem Telefonbuch, genauer dem Branchen-Adreßbuch für Berlin. Dort wird er fündig und weiß nun was all diese Menschen in diesem Rest von Stadt machen, wofür sie aufbauwütig ihre Aktentaschen durch die U-Bahn-Gänge tragen.
    "Es beginnt mit einem öligen Glockenklang. Eine verwunschene Glocke! In Berlin-N. Eine Aalräucherei. Hier stock ich schon, denn das gibt es also, und man wußte es nicht. Man schluckt kurz, und man schrickt kurz zusammen, wenn man, weiterblätternd, endlose Namen von Mitbürgern findet, die das schmückende Gewerbe der Herstellung von Abzeichen, Orden, Auszeichnungen und Medaillen betreiben. Und man schluckt wieder lustvoll über zehn vollen Seiten, auf denen die mehlige Liste der guten Männer aufgeführt ist, die in dieser Stadt Zucker, Teig, Sahne und Mehl zu Torten und Pâtisserie verarbeiten können. Gott segne ihr süßes Gewerbe - zehn Seiten lang! Kein Mangel andererseits an Obst- und Südfruchthändlern. Über acht Seiten erstreckt sich ihre vitaminreiche Front."
    Blättert man in Friedrich Lufts Feuilletons, verhält es sich ähnlich wie beim Blättern in einem alten Branchen-Adressbuch: Man staunt darüber, was es alles gibt, was für ein kurioser Gemischtwarenladen das Feuilleton einst war. Und wie es auf eine ganz andere und eigene Art von der Vielgestalt der Welt erzählt hat.
    Friedrich Luft: "Über die Berliner Luft. Feuilletons."
    Hg. von Wilfried F. Schoeller
    Verlag Die Andere Bibliothek, Berlin. 432 Seiten, 42 Euro