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Friedrich Nietzsche - Der Reformator

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sinnierte Friedrich Nietzsche über ein geistiges Reformprojekt. Mit diesem wollte der Philosoph der Kultur seiner Zeit einen griechischen Begriff der Kultur entgegensetzen.

Von Peter Bürger |
    Erstens: Das Leiden an der Moderne

    Der kritische Intellektuelle, der sich zutraut, das Ganze einer Kultur, ja einer Gesellschaft in den Blick zu nehmen, um es zu verändern – mit Nietzsche zu reden: der Reformator – ist spätestens seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften von der weltgeschichtlichen Bühne abgetreten. Gleichwohl geht, denkt man an Benjamin, Bataille und Breton, von der Gestalt des Reformators immer noch eine ungebrochene Faszination aus, die in der Hoffnung gründet, dass nach Baudelaire "die Tat die Schwester des Traums" sein könnte.

    Wie kaum ein Autor hat Nietzsche die Widersprüche der Gestalt durchlebt, durchlitten und mit der unerbittlichen Schärfe seines analytischen Verstandes durchdrungen. Er hat sie unter der Maske des Philosophen, des Künstlers, des Religionsstifters verfolgt, stets auf der Spur nach ihren geheimsten Motiven, den Fäden, die ihr bewegtes Innenleben mit ihren weit gespannten Plänen verbinden. So hat er den Ursprung des reformatorischen Projekts in den Spannungen und Abgründen einer Seele entdeckt, die es mit sich selbst nicht aushält.

    Glaubt man dem Zeugnis seines Leipziger Studienfreunds Heinrich Romundt, muss sich Nietzsche bereits damals mit Reformplänen getragen haben, jedenfalls berichtet dieser, Nietzsches Gedanken von einer Wiedergeburt des griechischen Dramas würden auch nach seinem Weggang aus Leipzig dort ihre Wirkung tun. Dass Nietzsche dabei mehr im Sinn hatte als eine Theaterreform, zeigen die Briefe an seine Freunde. Es geht um nicht weniger als eine Reform der zeitgenössischen Kultur, die von einer kleinen Elite ihren Ausgang nehmen soll, in deren Mittelpunkt er Richard Wagner und sich selbst sieht.

    Wir erleben in seinen frühen Texten die Geburt der Kulturrevolution aus dem Geist des humanistischen Gymnasiums. Dass die Leipziger Studienfreunde aktiv an Nietzsches Reformplänen teilnehmen, ja sie sogar anregen, zeigt ein kulturkritischer Brief Erwin Rohdes vom Dezember 1870:

    "Ein neues Mittelalter befürchte ich nicht. Aber eine immer ödere, immer frechere ‚Jetztzeit’ in entsetzlicher Steigerung: Zweckmäßigkeit überall und ein völliges Abdorren aller tiefsten Kräfte, aller künstlerischen schaffenden Fähigkeit."

    Postwendend antwortet Nietzsche darauf mit emphatischer Zustimmung und mit einem Programm:

    "Ich wollte Dir nämlich nur sagen, dass ich ganz gleich fühle wie Du und es für eine Schmach halte, wenn wir nicht einmal aus diesem sehnsüchtigen Schmachten durch eine kräftige That herauskommen". [...] Es ist ein ganz radikales Wahrheitswesen hier [auf der Universität] nicht möglich. Insbesondere wird etwas wahrhaft Umwälzendes von hier aus nicht seinen Ausgang nehmen können."

    Dass das von Nietzsche skizzierte Unternehmen für die daran Beteiligten nicht nur materiell, sondern auch ideell ein Risiko darstellt, liegt auf der Hand. Schließlich denkt er an eine äußerst enge Verflechtung von gemeinsamem Arbeiten und Leben.

    Das eigentliche Problem des Projekts aber liegt darin, dass es die intendierte Kulturrevolution von einer allererst zu schaffenden Gemeinschaft abhängig macht, die zunächst nur durch die kompromisslose Absage an die eigene Zeit zusammengehalten wird, während die positive Entsprechung dazu, die moralische Haltung jedes einzelnen Mitglieds sich erst in der Gemeinschaft herausbilden soll. Er träumt von einer "klösterlich-künstlerischen Genossenschaft":

    "Wir leben, arbeiten, genießen für einander – vielleicht dass dies die einzige Art ist, wie wir für das Ganze arbeiten sollen".

    Der zweite Anstoß zu Nietzsches Reform-Gedanken rührt von der Musik Wagners her. Der Eindruck, den diese auf ihn macht, ist so überwältigend, dass sich ihm die Koordinaten von Kunst und Wirklichkeit verrücken:

    "Und wie ich vom Mannheimer Concert zurückkam, hatte ich wirklich das sonderbar gesteigerte übernächtige Grauen vor der Tageswirklichkeit: weil sie mir gar nicht mehr wirklich erschien, sondern gespenstisch."

    Erfahrungen wie diese bestärken ihn in dem Gedanken, "eine völlig neue Cultur" wäre von der Wagnerschen Musik her zu entwerfen, in der die Abgründe des Lebens sich in einer Weise offenbaren, die "die Tageswirklichkeit" bis zur Unwirklichkeit verblassen lässt. Der häufige und gerngesehene Gast in Tribschen, Wagners Villa am Vierwaldstädter See, findet hier "[sein] Italien", ein Leben in den Werken der Kunst und der Philosophie:

    Wagner spielt aus eigenen Kompositionen, aber auch aus Mozarts "Entführung" und "Figaro", man verständigt sich über die Philosophie Schopenhauers und deren problematischen Einfluss auf die zeitgenössische Jugend, tauscht Schriften aus, liest gemeinsam E. T. A. Hoffmann, Keller und Kleist und diskutiert Manuskripte Nietzsches. Aus seiner Übereinstimmung mit Wagner, der "Einheit zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie", schließt Nietzsche auf die Möglichkeit einer "neuen Daseinsform", deren Umrisse er "aus hellenischen Analogien" gewinnen möchte.

    Die heraufzuführende Reform imaginiert er als Zurückgehen zu einem tragischen, Zeitalter, was für ihn gleichbedeutend ist mit einer Rückkehr des deutschen Geistes zu sich selbst. In einem Brief an seinen Lehrer Ritschl nennt Nietzsche die Tragödienschrift "etwas von der Art eines Manifestes". Da er als Zielvorstellung aber die Rückwendung zu den mythischen Quellen des deutschen Geistes und des deutschen Wesens vor Augen hat, vermag er keine Anweisungen zu geben, wie das anvisierte Ziel zu erreichen wäre; denn mit jeder Handlungsmaxime würde er die Adressaten seiner Botschaft, die er bezeichnenderweise als "meine Freunde" anspricht, nur noch mehr in die Welt einer pragmatischen Rationalität verstricken, aus der er sie doch gerade herausführen möchte. Es geht ihm nicht darum, durch Argumente zu überzeugen, sondern vielmehr darum, in eine Geisteshaltung einzustimmen:

    "Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe.[...]. Eines Tages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er den Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken."

    Ganz ähnlich wird er seine Abhandlung "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" mit einem Hinweis auf die Mission jener Jugend, jenes ersten Geschlechtes von Kämpfern und Schlangentötern ausklingen lassen, das einer glücklicheren und schöneren Bildung und Menschlichkeit voranzieht. Wie später gegen Ende des Jahrhunderts allgemein wird hier das Stichwort Jugend zum Signal eines Aufbruchs, der sich selbst zum einzigen Inhalt hat.

    Was in der Außensicht als Unbestimmtheit und Leere des Projekts erscheint, wird von Nietzsche als unausweichliche Konsequenz seines Leidens an der Moderne erlebt. Nicht "eine exzentrische Laune" sei sein Plan, sondern "eine Noth", d. h. eine Notwendigkeit.

    Nietzsche hat den Schönheitsschleier des Apollinischen im Sinn. Aber ist nicht auch die Reform "eine herrliche Illusion", deren der Reformator bedarf, "um leben zu können"? Er kann das eigene Dasein nur ertragen, wenn er hoffen kann, der modernen Welt, an der er leidet, die Form seiner Sehnsucht aufzuprägen.

    Zweitens: Die Sehnsucht nach Einheit

    Im Sommer 1875 macht Nietzsche Aufzeichnungen zu den Schriften, "Richard Wagner in Bayreuth" und "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen". Liest man sie parallel, so fällt auf, dass für Nietzsche Empedokles und Wagner gleichermaßen Verkörperungen des Reformators sind; wobei er in der Gestalt des ersten das Scheitern thematisiert, während er Wagner mit seinen Hoffnungen belehnt:

    "Das ist eine Revolution, was jetzt in Bayreuth vor sich geht, die Constitution einer neuen Macht, die fern davon ist, sich nur aesthetisch zu fühlen."

    Der Parallelismus zwischen Empedokles und Wagner wird von Nietzsche bis ins Einzelne durchgeführt. Er betrifft gleichermaßen die Mittel wie die Triebkräfte der Reform. Will Empedokles seine Reform "mit Hülfe der großen hellenischen Feste" verwirklichen, so Wagner die seine mit Bayreuth. Nicht Lehre soll die neue Ethik sein, sondern eine gemeinschaftlich praktizierte Lebensform – wie im alten Griechenland. Nietzsche lässt die Gestalten seiner Reformatoren sich ineinander spiegeln und spiegelt sich selbst in ihnen. Nicht wie bei Schopenhauer will er die Liebe im Tristan verstanden wissen, sondern wie bei Empedokles.

    Es fehlt ganz das Sündhafte, sie ist Anzeichen und Gewähr einer ewigen Einheit.
    Auch im Kontext der Empedokles-Studien liest er die "Geschlechterliebe" als Symbol der "Sehnsucht nach Einheit". Wo Nietzsche sich als der große Reformator träumt, vertraut er auf die alles verbindende Kraft des Eros. "Einstmals soll alles wieder ein einziges Leben sein, der seligste Zustand". Die Sehnsucht nach Einheit ist bei Nietzsche so stark, weil er die sogenannte "Urentzweiung" an sich selbst mit so ungeheurer Intensität erfährt.

    Im Schlussabsatz seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hat Nietzsche der Kultur seiner Zeit, die nur noch "Dekoration des Lebens" ist, einen "griechischen Begriff der Cultur" entgegengesetzt.

    "Der Begriff der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einheit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen."

    Wie Nietzsche die Kultur nicht der Natur entgegensetzt, so auch nicht dem Leben und dem Wollen. Sie gilt ihm überhaupt nicht als eigenständiger, von der Lebenspraxis abgehobener Bereich, vielmehr besteht sie gerade in der Übereinstimmung der verschiedenen Sphären des Daseins. Nietzsche hat die Einheit aller Bereiche des Lebens mit dem Begriff des Dionysischen zu sichern versucht, den er zugleich als lebensweltliche und als ästhetische Kategorie verwendet. Dass "die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen", ist ihm zufolge die Wirkung der dionysischen Tragödie. Wie überhaupt die dionysische Weltbetrachtung "die Grunderkenntniß von der Einheit alles Vorhandenen" vermittelt.

    Freilich gibt es in der Tragödienschrift auch Sätze, in denen Nietzsche auf der Reinheit der "aesthetischen Sphäre" besteht, nämlich dort, wo es ihm darum zu tun ist, die immer wieder behauptete moralische Wirkung der Tragödie zugunsten der "aesthetischen Lust" als nebensächliches Moment darzustellen. Zu diesen Formulierungen wird er durch den für die Schrift konstitutiven Gedanken gedrängt, "dass nur als aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint".


    In der Tat kann es eine ästhetische Rechtfertigung der Welt nur geben, wenn das Ästhetische als eigene Sphäre gesetzt ist. In Nietzsches Schrift stehen zwei unterschiedliche Konzeptionen des Ästhetischen nebeneinander, je nach dem, ob er dem Gedanken der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins folgt oder der Sehnsucht nach einer Einheit, welche die Trennungsprozesse der Moderne überwindet.

    Das subjektive Bestreben, die verlorene Einheit wiederherzustellen, vermag nichts gegen die objektive Bewegung des Zerfalls. Fast scheint es, als wäre es die Kraft, die das Zerfallen bewirkt. Nietzsche skizziert zwar keine Logik des Zerfalls – ein Konzept, das bei Adorno auftaucht, ohne dass er es je ausgefüllt hätte –, aber eine Energetik. Ihr zufolge wäre das Verlangen nach Einheit nicht nur Anzeichen, sondern Triebkraft eines unaufhaltsamen Zerfallsprozesses.

    Drittens: Der "misslungene Reformator"

    Nietzsches lebhaftes, über Jahre anhaltendes Interesse für die Vorsokratiker ist eines an den Gestalten dieser Philosophen, die er unter dem Gesichtspunkt der "Identität von Leben und Philosophie" betrachtet. Er hat dabei ein Philosophieren im Sinn, das nicht, wie das moderne, "politisch und polizeilich [...] auf den gelehrten Anschein beschränkt" bleibt, wie es heißt, sondern mit einer beispielhaft wirkenden Lebensform zusammenfällt.

    Um sie als Ganzheiten zu verstehen, muss man in jedem von ihnen den Versuch und Ansatz zum griechischen Reformator erkennen; sie sollten vorhergehen wie eine "Morgenröthe vor der Sonne". Aber die Sonne kam nicht, der Reformator misslang: so blieb die "Morgenröthe" fast nur eine gespenstische Erscheinung.

    Nietzsche geht es um etwas anderes als um ein Stück Philosophiegeschichte, nämlich um die Möglichkeit einer "Reformation" in seiner Zeit. Dabei dürfte er das gespenstisch Unwirkliche auch der eigenen Bemühungen gespürt haben, dass ihn 1888 fast in den Wahnsinn treibt.. Besonders von Empedokles spricht er mit einer Anteilnahme, als habe er sich mit diesem Mann identifiziert, der im 5. Jahrhundert v. Chr. in Agrigent als Arzt, Wissenschaftler, religiöser Reformer und Priester-König gewirkt hat.

    An Empedokles kann man nie ohne tiefe Trauer denken; er war dem Bilde jenes Reformators am ähnlichsten; dass es auch ihm misslang und er zeitig verschwand, wer weiß nach was für schrecklichen Erfahrungen und in welcher Hoffnungslosigkeit – das war ein panhellenisches Verhängnis. Seine Seele hatte mehr Mitleiden als irgendeine griechische Seele.

    Aus den Schriften von Freud wissen wir, dass sich unsere Trauer immer auf unseren eigenen Verlust bezieht. Nietzsche trauert über den zukünftigen Verlust eines Bildes, das er sich von sich selbst gemacht hat. Er trauert, weil er ahnt, dass auch er den Reformator nicht verwirklichen wird, dass ihm "nach was für schrecklichen Erfahrungen und welcher Hoffnungslosigkeit" das Schicksal des Empedokles beschieden sein könnte.

    In den Aufzeichnungen Nietzsches zu einem Empedokles-Drama steht im Mittelpunkt des Geschehens die Pest in Agrigent, die man wohl als Symbol der Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung deuten darf. Empedokles, den die Agrigenter zu ihrem König wählen wollen, setzt der Pest "große Schauspiele, dionysische Bacchanale" entgegen:

    Die Kunst offenbart sich als Prophetin des Menschenwehs. Empedokles will heilen, scheitert und beschließt daraufhin, "das Volk zu vernichten, um es von der Qual zu befreien". Das Drama endet in allen Versionen mit dem Freitod des Empedokles im Krater des Ätna.

    Das Ungeheure der Entwürfe liegt in den Gegensätzen, die Nietzsche in der Figur zusammenschließt, ihr dadurch eine letztlich zur Selbstzerstörung drängende Energie verleihend. Empedokles, der Auserwählte, der Mitleidvolle, dem die Natur nahe ist, dem ein Tier in den Krater folgt, hat zugleich ein zutiefst gebrochenes Verhältnis zur Natur. Er "stürzt den Pan, der ihm die Antwort verweigert". Als die Frau, die Empedokles liebt, ihm ihre Liebe offenbart, "schaudert [er] vor der Natur zurück". Den großen Menschen trennt eine Kluft vom Leben, die Frau ist für ihn ein Abgrund. Hat Nietzsche im Schauder des Mannes vor dem "Weib" die Bedrohung des Geistes durch die Natur gesehen? Oder hat er in dem Motiv den Antrieb des Reformators vermutet, dessen Ziel ja "Cultur" als Einheit aller Bereiche des Daseins ist?

    Für Nietzsche ist der Reformator ein in sich zerrissenes Zwitterwesen von Gott und Mensch, das letztlich an seinen eigenen Widersprüchen scheitert:


    "Aus einem apollinischen Gott wird ein todessüchtiger Mensch [...] In seiner Gottähnlichkeit will er helfen. Als mitleidiger Mensch will er vernichten. Als Dämon vernichtet er sich selbst."

    Nietzsche entwirft ein zutiefst pessimistisches Gegenmodell zur Dialektik Hegels. Wo diese über die Negation zur Negation der Negation fortschreitet bzw. in der Synthese den Streit von These und Antithese zur Versöhnung bringt, lässt Nietzsche den Gegensatz in der Selbstvernichtung verschwinden. Zwar lässt sich der Wille zu vernichten noch als Negation des Willens zu helfen begreifen, nicht mehr aber die Selbstvernichtung als Negation der Negation im Sinne der Dialektik. Sie negiert Position und Negation gleichermaßen, ohne sie zur Synthese zu bringen, in ihr stürzen die Gegensätze zusammen. Was bei Hegel die Mitte der Vermittlung ist, wird bei Nietzsche zu einem Abgrund, in dem die Gegensätze untergehen.

    Am Schluss des ersten Empedokles-Fragments blitzt für einen Augenblick die Perspektive eines überrationalen Wissens von sich selbst auf. Empedokles wird durch die Stufen Religion, Kunst und Wissenschaft. Aus der Religion durch die Erkenntnis, dass sie Trug ist, und der Lust am künstlerischen Scheine durch das erkannte Weltleiden. Das Weib als Natur. Jetzt betrachtet er als Anatom das Weltleiden, wird Tyrann, der Religion und Kunst benutzt, und verhärtet sich immer mehr. Er beschließt Vernichtung des Volks, weil er dessen Unheilbarkeit erkannt hat. Das Volk, um den Krater versammelt: er wird wahnsinnig und verkündet vor seinem Verschwinden die Wahrheit der Wiedergeburt. Ein Freund stirbt mit ihm.

    Nietzsche, der die Religion früh hinter sich gelassen hat und sich in der Tragödien-Schrift gerade anschickt, die Lust am künstlerischen Schein zu verherrlichen, "weiß" bereits, dass es ihn auch über diese Position hinaustreiben wird – der Text macht aus Empedokles einen Getriebenen. Er entwickelt ein Instrumentarium, mit dem sich "das Weltleiden" analysieren lässt, das er aber mehr und mehr auch gegen sich selbst richtet. Obwohl er die eigene Verletzlichkeit sowie die daher rührenden Gefährdungen nur zu gut kennt, wird auch er sich in der Position des Starken verhärten, um schließlich im Wahnsinn zu enden, nachdem er die Lehre von der ewigen Wiederkehr verkündet hat. Freilich, er wird ohne Freund sterben, keinen Trost finden in mann-männlicher Nähe.

    Die Empedokles-Fragmente zeigen den Reformator als einen zerrissenen Menschen, den seine sich im Schauder vor der Natur der Frau offenbarende Lebensuntüchtigkeit über sich hinaustreibt und dazu drängt, ein Projekt zu entwerfen, zu dessen Verwirklichung es göttlicher Kräfte bedürfte. Scheiternd wird der Mitleidvolle zum Tyrann, der schließlich im Wahnsinn der Selbstvernichtung seine letzte Zuflucht findet.

    Viertens: Die Psychologie des Reformators

    Während seiner mittleren Schaffensperiode, in der er sich als Psychologe und Aufklärer versteht, erhebt Nietzsche für sich selbst keinen kulturrevolutionären Anspruch mehr; die Gestalt des Reformators lässt ihn gleichwohl nicht los. Jetzt interessiert ihn, was er in der "Götzen-Dämmerung" abschätzig "die Psychologie der ‚Verbesserer’ der Menschheit" nennen wird. Im 68. Aphorismus der "Morgenröthe" entdeckt er in den Schriften des Apostels Paulus die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen. [...]ohne die Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine Christenheit.

    Nicht als Offenbarung liest er die Briefe des Apostels, nicht mit den Augen des Gläubigen, der darin Hilfe für seine "persönliche Noth" sucht, sondern als Philologe, der "Thatsachen ablesen [kann], ohne sie durch Interpretation zu fälschen". Dass er gleichwohl interpretiert, und das mit seltener Kühnheit, daran kann kein Zweifel bestehen. Wenn er Paulus einen "jüdischen Pascal" nennt und ihn obendrein mit Luther vergleicht, bedient er sich erneut des Verfahrens, historische Gestalten ineinander zu spiegeln.

    Pascal habe sich selbst als hassenswert empfunden und dasselbe Gefühl gegen die ganze Menschheit gekehrt. Der Selbsthass wäre also die Kraft, die Paulus dazu treibt, der Frage, "welche Bewandtnis es mit dem jüdischen Gesetz habe", mit einer Unerbittlichkeit nachzugehen, die ihn schließlich zum Vernichter des Gesetzes machen wird.

    In seiner Jugend ein Eiferer für den jüdischen Gott und dessen Gesetz, ein Verfolger der Christen, macht Paulus an sich selbst die Erfahrung, dass sich das Gesetz nicht erfüllen lässt. Alle seine darauf gerichteten Anstrengungen sind umsonst.
    Das Gesetz war das Kreuz, an welches er sich geschlagen fühlte: wie hasste er es!
    Der Selbsthass schlägt um in den Hass auf das, was ihn von Gott trennt und es ihm unmöglich macht, das ersehnte gottgefällige Leben zu führen.

    An diesem Punkt angelangt, hat er einen epileptischen Anfall, der von einer Vision begleitet ist. Das Wesentliche aber sei, so interpretiert Nietzsche das Damaskus-Erlebnis des Paulus, dass ihm in diesem Augenblick zweierlei aufgegangen sei:

    "das Gesetz war dazu da, dass gesündigt werde, es trieb die Sünde hervor", und Christus war der "Vernichter des Gesetzes"

    Nietzsches Blick auf den Reformator hat sich gewandelt. Auch Empedokles war ein zerrissener, ein leidenschaftlich gegen sich selbst und andere wütender Mensch, aber er war zugleich voller Mitleid und voller Liebe. Wenn er sich verhärtete, zum Tyrannen wurde, dann auch, weil er einsehen musste, dass die Reform misslang, dass er das Volk nicht retten konnte. Paulus dagegen erscheint bereits vor dem Damaskus-Erlebnis als "bösartig im Hass".

    In der Deutung Nietzsches ist es ausschließlich seine Not, "seine persönliche Pein", die ihn zu dem Apostel macht, durch den der Glaube einer kleinen jüdischen Sekte zur Weltreligion wird. Diese "ungeheuren Folgen" aber haben ihren Ursprung im Selbsthass: "Der Fanatismus ein Mittel gegen den Ekel an sich", schreibt Nietzsche in den Fragmenten vom Sommer 1880, die die Morgenröthe vorbereiten. Die Umwertung der Werte, die er Paulus zuschreibt, erlebt dieser als Machtrausch: "um ihn selber dreht sich fürderhin die Geschichte", schreibt er.

    Im Antichrist, einer der drei im Jahre vor seinem Zusammenbruch in großer Hast niedergeschriebenen Schriften, kommt Nietzsche auf den Apostel Paulus zurück. Erneut hat sich sein Blickwinkel gewandelt. Es geht nicht mehr darum, den Reformator aus seiner psychischen Dynamik heraus zu verstehen, sondern ihn verächtlich zu machen, um dadurch dem Christentum seine Legitimationsgrundlage zu entziehen. Nietzsche will jetzt selbst eine Umwertung der Werte herbeiführen und das heißt, zunächst einmal die alten Werte zerschlagen. Die Radikalität der Kritik am Reformator lässt das eigene Reformprojekt eigentümlich unberührt. Während jene immer schriller wird, imaginiert Nietzsche sich als Umwerter aller Werte, der, nachdem er das Christentum vernichtet hat, den Gesetzen des Lebens wieder zu ihrem Recht verhilft.

    Es mag naheliegen, in Nietzsches Äußerungen das Schwanken zwischen zwei unvereinbaren Positionen zu sehen, der überschwänglichen Hingabe an das Projekt einer Kulturrevolution und der unerbittlichen Entlarvung der Gestalt des Reformators. Eine solche Lesart ist möglich, verfehlt aber das Entscheidende; die Überblendung beider Perspektiven, die bereits die frühen Texte prägt. In ihr verbirgt sich Nietzsches Einsicht in die Widersprüche der Gestalt.

    Einerseits gründet die Notwendigkeit der Kulturevolution im Leiden des Reformators an seiner Zeit; andererseits ist sie unlösbar mit den seelischen Spannungen dessen verknüpft, der sie zu verwirklichen versucht: Empedokles schaudert vor der Natur und Paulus ringt mit den einander widersprechenden Impulsen seiner leidenschaftlichen und ehrgeizigen Seele. Der doppelte Ursprung des reformatorischen Projekts im Leiden des Reformators an seiner Zeit und an sich selbst schreibt sich diesem ein, bleibt aber dem Reformator selbst partiell verdeckt. Während ihm sein Leiden an der Zeit nur allzu bewusst ist und er diesem die konkreten Umrisse seines Projekts abgewinnt, bleiben ihm die Pfade seines eigenen Begehrens dunkel.

    Es bedarf wohl der eigenartigen Verschränkung von Erkenntnis und Blindheit, damit der Wille zu eingreifendem Handeln im Intellektuellen entstehen kann. Manches spricht dafür, dass sie einer vergangenen Epoche angehört. Zwar steckt noch in dem wahnhaftesten Glauben an die Macht des Wortes die Einsicht, dass alles menschliche Leben sich in einem diskursiven Rahmen vollzieht, der es durch und durch bestimmt, und dass mithin die Veränderung dieses Rahmens auch das Leben verwandelt.

    Und aus dieser Einsicht kann sich immer wieder der Gedanke erneuern, dass der Intellektuelle, gerade weil das Wort, und nicht die Aktion sein Medium ist, die Möglichkeit hat, in die lebensbestimmenden Diskurse seiner Zeit, Nietzsche würde sagen: die Tafeln der Werte, einzugreifen und dadurch die Gesellschaft zu revolutionieren. Freilich wird das nur geschehen, solange der Intellektuelle an der Welt leidet, in die er hineingeboren wird. Fällt dieses Leiden aus, erlebt er sich nicht mehr als Mensch gewordene Dissonanz, entfällt der Impuls, der den Reformator zum Handeln drängt, aber auch dessen Blindheit gegenüber dem eigenen Begehren.

    In einer Gesellschaft, in der die Durchsetzung der eigenen Interessen die legitime Grundlage jeden Handelns ist, unterliegt der Wille zur Macht keinen Tabus mehr. An die Stelle des Reformators, der sich stets am Abgrund des Scheiterns bewegt, tritt ein neuer Typus des Intellektuellen, der, seine Möglichkeiten kontrolliert und strategisch einsetzend, die eigene Diskursmacht als Ziel verfolgt und seine Äußerungen, die durchaus "engagiert" sein können, letztlich danach ausrichtet, ob sie sein Ziel befördern oder ihm abträglich sind.

    Der Reformator mit seinem Überschwang und seiner charakteristischen Blindheit gehört einer hinter uns liegenden Epoche der Moderne an, die mit Rousseau begann und mit Adorno endete; Sartre ist bereits eine Figur des Übergangs, er leidet nicht mehr an seiner Zeit. Wenn vom Reformator etwas in unsere ganz andere Zeit hinüberwirkt, so ist es paradoxerweise sein Scheitern, das zu ihm gehört wie auf den Bildern der Heiligen ihre Attribute. Ein Scheitern, das er in seinen luzidesten Augenblicken als sein Schicksal vor sich sieht und dem er sein Trotzdem entgegensetzt – in der Hoffnung, ja in der Gewissheit, dass es ein "gutes Leben" geben müsste – hier und jetzt.