Im Pfarrhaus von Röcken, einem weiß verputzten Fachwerkhaus wurde vor 170 Jahren der Philosoph und Provokateur Friedrich Nietzsche geboren. Röcken: Ein weltentferntes Dorf im südlichen Sachsen-Anhalt, auf halber Strecke zwischen Naumburg und Leipzig. Hinter dem Haus liegt ein parkähnlicher Garten, der zur philosophischen Einkehr einlädt. Nietzsche nannte die Zeit in Röcken ein unbekanntes Zauberreich.
"Trautes Dörflein! Wie gedenk ich Dein.
Hätte ich Flügel, ich würde mich über Höhen
Und Thäler schwingen und Dir zueilen."
Auf der Südseite der romanischen Kirche, der Taufkirche Nietzsches, befindet sich das Grab des Antichristen Nietzsche. Einer der Gründe, warum Röcken eine Pilgerstätte ist. Für Nietzscheaner aus der ganzen Welt. Nur: Damit könnte es bald vorbei sein. Denn bis jetzt war das Pfarrhaus – das immer noch der Kirche gehört – der Wohnsitz des ortsansässigen Pfarrers. Doch der im August neu gekommene Theologe Armin Pra will lieber im benachbarten Lützen wohnen. Sei bequemer, sagt er: "Leider ist das Haus und die Wohnung kaum geeignet, um im 21. Jahrhundert noch vernünftig zu wohnen. Die Fenster ist undicht."
Weshalb über eine grundlegende Sanierung und eine Neu-Nutzung nachgedacht werden muss, sagt Pastor Armin Pra. Er kann sich im Pfarrhaus Röcken beispielsweise eine internationale Nietzsche-Begegnungsstätte vorstellen. "Wir brauchen jetzt einfach mal eine Zeit, um zu überlegen, was wir wirklich aus Nietzsches Geburtszimmer machen."
Das Pfarrhaus in Röcken sei ein Stück Weltkulturerbe. Dessen Pflege könne man aber nicht der 60 Mitglieder zählenden Kirchengemeinde allein überlassen, die mit dem Nietzsche-Erbe völlig überfordert sei, so Armin Pra weiter. "Und da muss man im Land sehen, dass wir auch für Nietzsche eine Lobby finden."
Wertschätzung nach Kassenlage?
Nur: Ob Kultus- oder Wissenschaftsministerium – in der Landesregierung Sachsen-Anhalts fühlt sich für Nietzsches Erbe niemand verantwortlich. Ganz im Gegensatz zu Luther, Händel oder dem Bauhaus – alles Namen mit denen man in Sachsen-Anhalt gut Kasse macht – ist Nietzsche in Sachsen-Anhalt so gut wie vergessen. Nietzsche ist eben kein glänzender Werbeträger, sondern eher sperrig. Weshalb man wohl einen großen Bogen um einen der bedeutendsten Querdenker der europäischen Geistesgeschichte mache, vermutet Ralf Eichberg. Direktor des Naumburger Nietzsche-Dokumentationszentrums. "Ich empfinde es so, dass man sich lieber mit Dingen beschäftigt, die weit genug weg sind. Nietzsche ist jemand, der steht uns noch zu nah, der spricht uns wirklich noch persönlich an. Nietzsche ist ein Kritiker, ein Kritiker der Moral, des Christentums."
Wertschätzung nach Kassenlage nennt Ralf Eichberg den Umgang des Landes Sachses-Anhalt mit Nietzsche. Als Beleg führt er die finanzielle Ausstattung des Naumburger Nietzsche-Zentrums an. 2013 habe man vom Land noch 30.000 Euro bekommen, jetzt sei es gerademal die Hälfte, obwohl man sich – weltweit – einen Namen gemacht habe. In Naumburg lagern zum Beispiel kostbare Nietzsche-Ausgaben.
Im Herbst bekomme man, ergänzt Eichberg, der in Berlin an der Humboldt-Universität zur Editionsgeschichte Nietzsches promoviert hat, den kompletten Nachlass von Mazzino Montinari; einem der bedeutendsten Nietzsche-Forscher, der in den 1970 und 1980er Jahren das neue Nietzsche-Bild mitgeprägt hat und Herausgeber der 15 Bände umfassenden kritischen Studienausgabe ist. "Also ich könnte mir schon vorstellen, dass man in dem Pfarrhaus in Röcken ein Museum etabliert, was die Familiengeschichte der Nietzsches zeigt, seine Auseinandersetzung mit dem Christentum."
Dass mit dem leer stehenden Pfarrhaus in Röcken einer der wenigen authentischen Lebensorte Nietzsches nun verfallen könnte, sei eine bedrohliche und unerträgliche Situation, so Nietzsche-Kenner Eichberg weiter. Und erzählt – um die Bedeutung von Röcken ins richtige Licht zu rücken – eine beeindruckende Geschichte: Leipziger Buchmesse. Pankaj Mishra. Der große englisch-indische Autor bekommt den Buchpreis. Was verlangt er? Er möchte nach Röcken gefahren werden. Und er ist dann ans Grab getreten und wollte ganz alleine zehn Minuten am Nietzsche-Grab stehen. Das ist doch schon eine besondere Situation.