Man kann in der Innenstadt keine 50 Meter gehen, ohne dass einem ein Flugblatt in die Hand gedrückt wird. Schauspieler in fantasievollen Kostümen werben für die Shows, in denen sie am Abend auftreten. Das Publikum hat die Qual der Wahl. Wie findet man das Richtige, wenn das Angebot so riesig ist? Shona McCarthy, die das Fringe-Festival leitet, empfiehlt systematisch vorzugehen, und das, was einen nicht interessiert, von Anfang an auszuschließen:
"Ich frage sie also: Wofür interessieren Sie sich besonders? Ist es politisches Theater? Ist es eine Komödie oder ein neues Stück? Ist es Musik? Wir haben auf unserer Website aber auch im gedruckten Programm Filter, damit es leichter wird, das zu finden, wofür man sich wirklich interessiert."
Das größte Kunstfestival der Welt
4000 Produktionen sind in diesem Jahr zu sehen. Das Fringe ist das größte Kunstfestival der Welt. Es wächst und wächst – allen Brexit-Diskussionen zum Trotz. Noch sind die Rahmenbedingungen günstig, sagt Shona McCarthy:
"Im Augenblick braucht man kein Visum, um am Fringe-Festival teilzunehmen oder beim Organisationsteam mitzuarbeiten. Ein einfacher Einladungsbrief genügt. Wir bemühen uns sehr, diesen Status zu behalten."
Shona McCarthy ist sich nicht sicher, ob das gelingen wird. Und auch Fergus Linehan, ihr Kollege vom Edinburgh International Festival macht sich Sorgen:
"Das größte Problem, das der Brexit mit sich bringt, ist die Unsicherheit. Ich brauche einen Planungsvorlauf, um das Festival vorzubereiten, und doch weiß niemand, wo wir in drei oder vier Jahren stehen werden. Schon jetzt hat unsere Währung an Wert verloren. Ich kann also weniger Geld ausgeben, um Künstler einzukaufen. Unsere größte Angst ist, dass das Land durch den Brexit in eine Rezession rutscht."
Handlungen alter Stücke aktualisiert
Dabei hat Fergus Linehan in diesem Jahr noch einmal aus dem Vollen geschöpft. Zur Festivaleröffnung gab es ein riesiges kostenloses Open-air-Konzert der LA Philharmonic. Außerdem hatte die Theaterinszenierung "Peter Gynt" Premiere, eine Koproduktion mit dem National Theatre London. Der Autor David Hare hat Ibsens "Peer Gynt" adaptiert und die Handlung ins heutige Großbritannien verlegt:
"Im Stück kommt Boris Johnson nicht vor – ich habe, als ich es schrieb, nicht für möglich gehalten, dass er mal unser Premierminister wird. Nun ist er im Amt. Es ist bekannt, dass er es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt – so wie die Hauptfigur des Stücks. Peter Gynt ist eine Figur, die den heutigen Zeitgeist repräsentiert."
Der Regisseur Jonathan Kent hat das Stück als opulenten Bilderreigen inszeniert, mit dem phänomenalen James McArdle in der Titelrolle. Wir begegnen ihm in einem schottischen Dorf, auf einem Golfplatz in Florida und in einem saudi-arabischen Luxushotel. Und immer ist England gemeint.
Härterer Stoff
Und auch am Fringe-Festival, bei dem traditionell viel Unterhaltung angeboten wird, findet man dieses Jahr härteren Stoff. Die Fringe-Direktorin Shona McCarthy erklärt:
"Das Fringe bildet ja immer den Zeitgeist ab und dieses Jahr gibt es bei uns mehr politisches Theater als je zuvor. Es gibt Produktionen über den Klimawandel, über Flüchtlinge und über Genderidentität. Das sind Themen, die den Menschen wirklich unter den Nägeln brennen. Das Politische hat heute eine neue Dringlichkeit."
Auch wenn die Probleme, um die es geht, zum Teil recht alt sind. Der schwarze Schauspieler Daniel Ward arbeitet in der Performance "Der Kanarienvogel und die Krähe" Erfahrungen aus seiner Schulzeit auf. Er stammt aus einer armen Familie und konnte mit Hilfe eines Stipendiums ein weißes Elite-College besuchen.
Kampf der Kulturen
Daniel Ward tritt in einem kleinen Zirkuszelt auf – auf der einen Seite der Manege stehen er und der Rapper Nigel Taylor, auf der anderen Seite zwei weiße Cellisten, die die Rollen der Lehrer und der weißen Schüler übernehmen.
Der Kampf der Kulturen wird musikalisch ins Bild gesetzt – auch als Daniel Ward die Parabel erzählt, die dem Stück den Titel gibt. Es geht um eine Krähe, die sich auf einen Baum verirrt, auf dem ein Schwarm Kanarienvögel zu Hause ist. Die Krähe spürt, dass die Kanarienvögel vor ihr Angst haben. Sie versucht, weniger laut zu krächzen – doch trotzdem findet sie keine Freunde. Enttäuscht kehrt sie zu dem Baum zurück, auf dem die Krähen leben. Doch auch dort wird sie nun gemieden. Mit ihrer sanft gewordenen Stimme erscheint sie den anderen Krähen fremd.
Die Aufführung lebt vom Charme der Performer, die die Zuschauer zum Mitsingen, Mitklatschen – sogar zum Mitspielen auffordern. Mit großem Erfolg. Als in einer Szene eine Schulstunde gezeigt wird, bei der die Klasse eine überstrenge Lehrerin durch Zwischenrufe zur Weißglut treibt, machen auch die Zuschauer mit – und als die Lehrerin ihren einzigen schwarzen Schüler als Auslöser des Tumults bestrafen will, hagelt es Protest. Rassismus wird im Theaterzelt nicht geduldet. Die Performance gehört zu den Perlen im diesjährigen Fringe-Programm – politisches Theater, das gute Laune macht.