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"Fröhlich und aggressiv für die eigene Überzeugung"

Der Vater wollte, dass er Pastor wird, er selbst entschied sich für eine kaufmännische Lehre. Der Weg führte Hans Apel schon bald in die Politik. Er teilte im Bundestag die Bank mit Herbert Wehner, stritt unter Kanzler Willy Brandt als Staatssekretär in Brüssel um den EU-Regionalfonds, focht mit Kanzler Helmut Schmidt als Verteidigungsminister um den NATO-Doppelbeschluss. Und er wählte auch mal die CDU, wenn ihn die christliche Überzeugung drängte.

Moderation: Rainer Burchardt |
    "Hans Apel, geboren am 25. Februar 1932 im Hamburg. Nach dem Abitur 1951 Lehrer als Im- und Exportkaufmann. Studium der Wirtschaftswissenschaften. Promotion. 1958 bis 1961 Sekretär der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament. Seit 1955 Mitglied der SPD. Mitglied des Bundestages von 1965 bis 1990. 1974 bis 1978 Bundesfinanzminister. Danach bis zum 1. Oktober 1982 Bundesverteidigungsminister. Seit 1993 Honorarprofessor der Universität Rostock. Hans Apel ist seit 1956 mit Frau Ingrid verheiratet. Sie haben zwei Kinder."

    Rainer Burchardt: Herr Apel, Sie sind 1955 in die SPD eingetreten. 1955 war ein ja doch auch deutschlandpolitisch ein interessantes Jahr. Adenauer kam aus Moskau zurück, brachte die letzten 10.000 Kriegsgefangenen wieder mit, im übertragenen Sinne. Es deutete sich der Eintritt in die NATO an in Deutschland. Die SPD hatte gerade die Wiederbewaffnungsdiskussion hinter sich, Godesberg stand bevor. Was waren für Sie damals die entscheidenden Momente, der Sozialdemokratischen Partei beizutreten?

    Hans Apel: Mein Vater ging in den Krieg als kleiner Nazi hinein und kam als Christ und Pazifist zurück. Und in diesen ersten Jahren nach dem Kriege habe ich mich für Politik überhaupt nicht interessiert, Sankt Pauli und meine Freundin, das war’s. Und als dann die deutsche Wiederbewaffnung begann, schleppte mich mein Vater ununterbrochen zu den großen Friedenskundgebungen von Gustav Heinemann und Helene Wessel. Gustav Heinemann war gerade als Innenminister zurückgetreten und hatte mit Helene Wessel, der Vorsitzenden der Zentrumspartei, eine neue Partei, die Gesamtdeutsche Volkspartei gegründet. Mein Vater ist da nicht eingetreten. Ich habe die auch 1953 gewählt, diese Partei.

    Rainer Burchardt: Sie haben Ihre Stimmen gesplittet?

    Hans Apel: Ja. Aber hinterher habe ich zu meinem Vater gesagt, wenn man konsequent die Wiederaufrüstung verhindern will, muss man in die SPD eintreten, das ist die Friedenspartei. Das fand er völlig unmöglich. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon verlobt, und er hat zu meiner Frau gesagt: Deinen Mann, den kann ich da nicht stoppen. Du darfst nicht in irgendeine Partei eintreten, denn er wird in Sibirien landen, und da musst du die Kinder, die ihr ja wohl hoffentlich bekommen werdet, großziehen. Das war seine Grundhaltung. Und so war ich dann in der SPD und als Pazifist.

    Rainer Burchardt: Stichwort Kinder. Im Zweiten Weltkrieg gab es da ja die sogenannte Kinderlandverschickung. Die Nazis sorgten dafür, dass, also Deutschland, die nachwachsende Jugend dann irgendwo aufs Land kommt, um aus dem Bombenhagel rauszukommen. Sie haben sich dagegen gewehrt, oder Ihr Vater hat sich dagegen gewehrt. Was war damals das Motiv dafür, und sind Sie ihm dafür dankbar, oder haben Sie das für eine falsche Entscheidung gehalten?

    Hans Apel: Nein, ich bin ihm im Nachhinein dankbar. Die Erklärung ist ganz einfach. Ich war das einzige Kind. Meine Mutter war schwer krank. Die ist ja auch gleich nach dem Kriege, 1946, gestorben. Und da musste jemand sein, der einkauft, der sie in den Keller bringt, der sie aus dem Luftschutzkeller wieder rausholt, und, und, und. Da konnte ich nicht in die Kinderlandverschickung, auch wenn das eine schlimme Konsequenz hatte. Ich wurde nämlich 1944 mit einem Ukas aus der deutschen Oberschule ausgeschlossen. Aber da war ja bereits klar, dass der Krieg verloren war, und das hatte dann am Ende auch überhaupt keine Konsequenzen.

    Rainer Burchardt: Sie haben dann nach dem Krieg eine kaufmännische Lehre begonnen. Sie sind im Grunde genommen, wenn man so will, sind Sie ja in die Wirtschaft gegangen. War das eigentlich zwingend für Sie?

    Hans Apel: Nein, ungerne. Denn mein Vater kam an und sagte: Du machst ja demnächst Abitur, ich habe schon mit unserem Pastor gesprochen, du wirst Pastor, du kriegst auch ein Stipendium. Und da hat meine jetzige Frau und damalige Freundin gesagt, wenn du Pastor wirst, heirate ich dich nicht. Am Ende des Lebens, als ich nun permanent über Christentum geredet habe, hat sie gesagt, vor wenigen Jahren also, nun habe ich ja doch ein Pastor gekriegt. Und dann sagte mein Vater: Und was willst du? Und da habe ich gesagt, ich möchte Chemie studieren, das war meine einzige Eins im Abitur. Dafür haben wir kein Geld. Und dann hat er gesagt, dann machst du eben eine kaufmännische Lehre, und dann sehen wir mal weiter.

    Rainer Burchardt: Sie sind dann aber, wie man heute sagen würde, von der Politik relativ schell angefixt gewesen. Sie waren hier Juso-Funktionär in Hamburg und haben auch einflussreiche Positionen gehabt. Man erinnerte sich ja, und der Name Apel war so eines der Nachwuchstalente in den 50er Jahren. Willy Brandt hätte da wahrscheinlich, wenn er Sie gekannt hätte, vergesst mir den Apel nicht in Hamburg, gesagt. War das für Sie damals auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe, oder war die mehr persönlich motiviert, dass Sie sagen, ich brauch jetzt irgendwo auch ein sozial orientiertes Betätigungsfeld, und da bin ich genau richtig, wenn schon nicht Pastor?

    Hans Apel: Ich muss ganz offen sagen, mein Einstieg in die Politik, der war sehr zufällig. Ich war ja inzwischen Beamter des Europäischen Parlaments geworden, von 1958 an. Aber es wurde immer langweiliger. Ich hatte meine Doktorarbeit dort fertig geschrieben, ein Buch geschrieben, und nun wollte ich da weg. Und da ich eine kaufmännische Lehre hatte im Im- und Export und inzwischen mehrere Sprachen sprach und diese europäische Erfahrung hatte, sah das gut aus. Und da traf ich mehrere Hamburger Abgeordnete, die mich fragten, was ich mache. Denen habe ich das erzählt, und da haben sie gesagt, dann kannst du auch für den Bundestag kandidieren. Und so ist es dann gekommen durch glückliche Umstände. Es war da kein Impetus dahinter, sondern, ganz offen gesagt, viel Glück und viel Zufall.

    Rainer Burchardt: Wir sollten vielleicht noch mal auf das erste K kommen bei diesem Dreiklang, Kirche. Sie sind nach wie vor, bei Johannes Rau hat immer gesagt bibelfest, ich vermute, Sie sind es auch. Es kommt auch keine Prüfungsfrage jetzt. Aber bedauern Sie selber, dass Sie den Weg nicht eingeschlagen haben, denn die Turbulenzen, die Sie später, und über die wir ja gleich noch sprechen werden, erlebt haben, die haben ja ein durchaus auch anstrengendes Leben für Sie gebracht?

    Hans Apel: Also ich bin eigentlich froh darüber, denn wir sind ja 1999, wir beide, aus der Nordelbischen Kirche ausgetreten. Wir haben dann geguckt, in welche Freikirche wir gehen könnten. Sonntags tue ich immer einen feinen Anzug an und fuhr mit meiner Frau los, und dann sagte sie immer, ach, der Herr Kirchentester geht wieder auf Tournee. Schließlich haben wir eine Freikirche gefunden. Ich kenne mich also einigermaßen gut aus in der gesamten kirchlichen Landschaft.

    Rainer Burchardt: Welche Freikirche ist das?

    Hans Apel: Diese heißt jetzt Selbstständige Evanglisch-Lutherische Kirche. Es ist eigentlich überall gleich, kleinkariert, ängstlich, eigentlich überhaupt nicht so, wie ich mir einen Christen vorstelle, fröhlich und aggressiv für die eigene Überzeugung.

    Rainer Burchardt: Warum sind Sie damals aus der Nordelbischen ausgetreten?

    Hans Apel: Ja, das hat einen langen Weg. Das fing damit an, dass ich auf dem Kirchentag hier in Hamburg, 1981 ganz genau, niedergebrüllt wurde, mit Blutbeuteln beschmissen wurde, mir keiner beistand. Aber damals war ich opportunistisch. Ich war Abgeordneter. Ich wollte wiedergewählt werden und hatte einfach nicht den Mut auszutreten. Nun war ich ja inzwischen nichts mehr, und dann begann das ganze elende Kapitel der kirchlichen Segnung homosexueller Paare. Und da habe ich gesagt, für den Sauhaufen will ich nicht im Jahr 10.000 DM und mehr Kirchensteuer bezahlen. Ich finanziere so etwas nicht. Das ist gegen Paulus und gegen das Neue Testament und schwupp, waren wir draußen.

    Rainer Burchardt: Wir haben jetzt einen großen Sprung gemacht, aber ist das auch damals der Grund gewesen, weshalb Sie, das haben Sie auch bekannt, mehrfach die CDU gewählt haben?

    Hans Apel: Ich habe es einmal bekannt, dass ich CDU gewählt habe. Und das war nach der Wahl, deswegen ist ja auch kein Parteiausschlussverfahren hinterher gekommen. Und ich habe hinzugefügt, das war der Grund, ich wähle keine Partei, die eigentlich ohne Not das Bild von Ehe und Familie dadurch ankratzt, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften faktisch gleichgestellt werden. Nun ist die CDU inzwischen auf demselben Wege, noch nicht ganz so weit, mal sehen, was wir das nächste Mal wählen.

    Rainer Burchardt: Aber Rot-Grün hat ja nun in den 90er Jahren exakt diese Politik durchgezogen. Wäre da nicht für Sie ein Parteiaustritt konsequent?

    Hans Apel: Nein, also wissen Sie, von dem, was die Führungsschicht macht, von dem, was die 600.000 oder weniger Sozialdemokraten denken, da gibt es einen himmelweiten Unterschied. Und ich sage ganz offen, ich bin dieser Partei zu einem großen Dank verpflichtet. Sie hat mir eine Perspektive gegeben, die ich so gar nicht gehabt hätte, und ich werde da nicht austreten. Ich bleibe in dieser Partei bis zu meinem seligen Ende.

    Rainer Burchardt: Sie waren ja einer auch der bekanntesten Leute im Seeheimer Kreis. Jeder weiß ja, Seeheimer Kreis ist das, was man die rechte SPD nennt, und die auch immer gut aufgepasst hat. Sie haben auch beim sogenannten NATO-Doppelbeschluss oder bei diesem denkwürdigen Parteitag, als Helmut Schmidt genau noch 13 Stimmen hatte, weil er Befürworter der Pershing-II-Stationierung war, haben Sie für ihn gestimmt und sich auch ganz strikt gegen die Partei gestellt. Ist das Ihre politische Heimat, die rechte Sozialdemokratie?

    Hans Apel: Ach, wissen Sie, ich kann eigentlich mit den Begriffen rechts und links nicht so viel anfangen. Das würde vor allen Dingen ja auch implizieren, dass links gleich progressiv gleich Antidoppelbeschluss wäre. Nee, nee, so einfach ist das nicht. Es war damals nicht mehr meine politische Heimat, weil die Partei, und da sehe ich Parallelen zu heute, ausbrechen wollte aus der Verantwortung. Natürlich heißt Verantwortung auch beim NATO-Doppelbeschluss, dass man von den Wählern, die ja leicht auch emotional aufgeladen werden können, abgestraft werden kann. Aber einfach mal davonlaufen, mit dem Ergebnis, dass man dann von 1982 bis 1996, also 14 Jahre in der Opposition bleibt, das ist ein schwaches Bild. In der Opposition kann man nichts gestalten. Eine Partei, die in die Opposition will, ist eigentlich die Wählerstimmen nicht wert, die für sie abgegeben werden.

    Rainer Burchardt: Das hat Herbert Wehner damals auch schon sehr weitsichtig kommen sehen. Und da wir gerade bei Herbert Wehner sind, Sie schreiben auch einmal, Sie waren sein Banknachbar eine Zeit lang im Bundestag. Und er hat Sie eigentlich öfter mal zur Ruhe ermahnt, weil Sie sich teilweise auch über Redner oder Reden, die da gehalten wurden, auch von eigenen Leuten, erregt haben. War Wehner auch so etwas für Sie wie ein Förderer, ein Übervater?

    Hans Apel: Also Wehner war und ist eigentlich das einzige politische Vorbild, das ich für mich auch heute noch in der Politik sehe, weil er streng zu sich selbst, absolut für die Partei, und auch mit einer ungeheuren Kraft seine Position vertrat und durchsetzte. Das eigentliche Drama war, dass er am Ende seines Lebens das nicht mehr konnte, und deswegen eigentlich einen schlechten Abgang hatte, auf jeden Fall nicht den, den er verdient gehabt hätte, denn er ist ja der eigentliche Schmied des Eintritts der Sozialdemokraten in die Große Koalition und damit auch anschließend des Beweises, dass Sozialdemokraten regieren können.

    Rainer Burchardt: So, und jetzt sind wir wieder da, wo wir vorhin schon waren, nämlich in den 50er oder Ende der 50er Jahre, Stichwort ist Godesberg. Das hat ja im Wesentlichen Herbert Wehner auch mit seiner großen Rede damals befürwortet und hat die Sozialdemokratische Partei ja auch regierungsfähig gemacht. Das fing ja dann mit der Großen Koalition. Haben Sie da für sich selber auch einen Impetus gespürt und gesagt, hier bin ich genau richtig, das ist genau der Weg?

    Hans Apel: Also wir Jungen, wir waren ja mit einer stattlichen Zahl 1965 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt worden. Wir wollten die Große Koalition nicht. Anschließend wusste ich sehr genau, dass das der richtige Weg war und das, was wir dann in der Großen Koalition und auch anschließend in der Sozialliberalen Koalition durchgesetzt haben, hat diesem Land ganz großartig gedient, und das wollte ich als Politiker. Ich wollte nicht rumkrakeelen, sondern ich wollte gestalten, und das konnten wir dank Herbert Wehner. Und es gibt ja auch Situationen, wo Wehner dann mir unheimlich geholfen hat. Ich erinnere mich an eine Kabinettsitzung, wir springen jetzt wieder in die Zukunft oder in die frühere Vergangenheit, als mir Helmut Schmidt und auch Finanzminister Matthöfer Hunderte von Millionen, die ich brauchte, um dieses Tornadoflugzeug zu finanzieren, verweigern wollten. Und da hat der Wehner nur einmal im Kabinett gebrüllt: Meint ihr, wenn ihr ihm das Geld nicht gebt, dass dann das Flugzeug billiger wird, oder wollt ihr nur den Apel loswerden? Und da fiel die Klappe, und das Geld kam.

    Rainer Burchardt: War er für Sie auch Bruder im Geiste? Sie haben sicherlich nicht so viel gebrüllt, aber deutliche Worte haben Sie eigentlich auch, nicht nur einmal, gefunden?

    Hans Apel: Er war Bruder im Geiste, weil er Asket war. Und das bin ich auch mein Leben lang gewesen. Wir beide, unsere Kinder werden in Ohnmacht fallen, was sie alles an Geld erben werden, wenn wir endlich tot sind.

    Rainer Burchardt: Warten Sie auf die Erbschaftssteuer?

    Hans Apel: Ja, dennoch, dennoch. Also weil wir es nicht fertig kriegen, unnötig Geld auszugeben, kleines Segelboot, bescheidenes Auto, Schmorkohl. So ist das eben, und da bleibt bei dieser hohen Ministerpension zwangsläufig Geld über.

    Rainer Burchardt: Da müssen wir vielleicht doch noch mal ganz weit zurück, nämlich in den Krieg oder in die Nachkriegszeit. Da bekennen Sie auch, dass Sie zu den Kohlenklauern gehört haben. Hat Sie das geprägt?

    Hans Apel: Ja, das war ganz einfach. Mein Vater arbeitete bei einem englischen Nachschublager als Lagerarbeiter, weil er ja Nazi gewesen war. Aber er war völlig unfähig zu klauen. Er war auch völlig unfähig, Kohlen zu klauen, er war ein ehrlicher Mensch. Wenn ich ihn aufziehen wollte, fragte ich ihn immer: Papa, wenn du in der Firma schreibst, wechselst du dann den Bleistift? Und da wir nicht verfrieren wollten, musste einer Kohlen klauen. Da habe ich das besorgt. Insofern hatte ich immer eine sehr praktische Ader.

    Rainer Burchardt: Zu der praktischen Ader gehört auch Ihr Bekenntnis, dass es in der Politik nicht immer fair zugehen muss. Auch das sagen Sie, auch da klingt ein bisschen der Herbert Wehner durch. Man könnte auch, wenn man es ganz auf den Punkt bringt, sagen, da ist auch ein bisschen Macchiavelli mit drin. Ist das auch Ihr Lebensweg in der Politik gewesen, dass Sie – Sie sind ja an sich vom Gestus her ein freundlich erscheinender Mensch, aber Sie können auch schon mal hinlangen, oder Sie können auch schon mal sagen, so geht es nicht oder nicht mit mir?

    Hans Apel: Also das hat zwei Seiten. Die eine Seite ist, dass ich ungern lüge. Auf einem Kirchentag, ich war zu der Zeit Finanzminister, habe ich reden sollen zum Thema "Ohne Gnade kann ich nicht leben". Und da habe ich am Ende dann gesagt, auch ich lüge, bin manchmal unfair und brauche deswegen Gott um Vergebung. Das war natürlich eine Steilvorlage für die Union. Immer wenn ich im Plenum redete, brüllten die dazwischen: Er lügt ja schon wieder, er hat es ja selber auf dem Kirchentag zugegeben. Und Schmidt wurde am Ende so fuchsteufelswild, dass er endlich zu mir sagte, nur hör endlich mit deinem christlichen Exhibitionismus auf. Das ist die eine Seite. Die andere Seite, ich bin in Alt-Barmbek groß geworden. Da musste man zuerst dem anderen eine knallen, wenn man nicht selber verprügelt werden wollte. Und insofern, die NATO-Strategie der Flexible Response passte schon zu mir, nämlich lieber schneller reagieren als zu spät. Und manche haben schwer unter meinem flinken Mundwerk leiden müssen, das ist mir durchaus bewusst.

    Rainer Burchardt: Sie haben ja damals für Ihre Zeit, ich denke jetzt gerade so an die ausgehenden 60er, Anfang der 70er Jahre, dann gesehen, oh, da kommt einiges auf mich zu. Ich spreche jetzt von der Sozialliberalen Koalition. Und Sie sind dort in der Zeit ja auch der junge Mann von Scheel gewesen, von Walter Scheel. Und Walter Scheel war ja nicht immer mit Ihnen zufrieden oder Sie nicht immer mit ihm. War das eigentlich eine Leidenszeit oder waren Sie – Sie waren Staatssekretär oder Staatsminister im Auswärtigen Amt, also zumindest im Auswärtigen Dienst, auch aufgrund Ihrer Europa-Erfahrung, und haben Sie gesagt, was dilettieren die hier eigentlich rum?

    Hans Apel: Also ich wollte da ja nicht hin. Willy Brandt hatte gesagt, geh doch da bitte hin. Ich hab gesagt, nein, ich bin Vorsitzender des Verkehrsausschusses, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, das will ich nicht. Willy hat das zur Kenntnis genommen. Ich kriegte einen Anruf von Herbert Wehner, der brüllte und sagte, wenn du das nicht machst, wirst du dich wundern, was wir mit dir machen. Also bin ich dahingegangen. Aber es war schon ganz schön langweilig, das muss ich sagen. Am Ende gab es einen großen Knall, und dann war ja auch meine Vorstellung dort weitgehend beendet. Willy Brandt hatte auf einem Gipfeltreffen 500 Millionen DM für den neu zu gründenden Regionalfonds zugesagt.

    Rainer Burchardt: In Europa, in Brüssel?

    Hans Apel: In Brüssel.

    Rainer Burchardt: Ja.

    Hans Apel: Und der Finanzminister Helmut Schmidt sagte, 50 Millionen, keinen Pfennig mehr. Da bin ich da nach Brüssel gefahren, Walter Scheel war krank, mit Nierensteinen im Krankenhaus. Und da war es sehr schwierig. Als ich in der Tour de Table, also die erste Runde, wo jede Delegation sagt, was sie einbringen will, sagte, 50 Millionen, da haben die gelacht. Sir Alec Douglas-Home, der britische Außenminister, sagte: Junger Mann – so in diesem Stile –, das hat man natürlich gern, wenn man jung ist, ich war schon 1938 in München dabei. Wobei ich dazwischenbrüllte: Und darauf sind Sie heute auch noch stolz. Also lange Rede kurzer Sinn. Am Ende habe ich erklärt, Deutschland sei nicht der Zahlmeister Europas, und die Veranstaltung war beendet. Aber da mich fast die gesamte deutsche Presse lobte, und Walter Scheel sich kaputtlachte, kriegte ich noch nicht mal Prügel im Kabinett dafür.

    Rainer Burchardt: Was hat Helmut Schmidt dazu gesagt?

    Hans Apel: Helmut Schmidt hat dazu gar nichts gesagt. Ich hab dann später mal mit Willy Brandt darüber geredet. Ich hab gesagt, du, ich verstehe das nicht, du bist doch Kanzler, damit hast du doch alle Möglichkeiten, dem Schmidt auch ein Ukas rüberzuschicken. Na ja, du kennst ja Helmut selbst. Da war mir klar, dass die Zukunft von Willy Brandt in dieser dann immer schwieriger werdenden ökonomischen Konstellationen nicht gut sein konnte.

    Rainer Burchardt: Wie ging denn das überhaupt mit Ihnen und Willy Brandt. Es ist ja nicht so, dass Sie nun täglich mit ihm zusammen waren, aber da wurden ja, und wenn man jetzt mal aus Herbert Wehners Sicht das so sieht, und der ja Ihnen sehr viel näher war, das schließe ich einfach aus Ihren Worten, war Willy Brandt natürlich so etwas wie vielleicht eine Repräsentationsfigur, mehr aber auch nicht. Und wenn man dann nachher, 1974, sich auch überlegt, wie dann die unschöne Ablösung gelaufen ist, hat Herbert Wehner ja auch seinen Verdienst dran. Haben Sie das kommen sehen?

    Hans Apel: Ich sage ja gerade, im Nachhinein weiß ich, dass es so kommen musste. Damals war ich genauso empört wie die meisten in der Fraktion.

    Rainer Burchardt: Aber doch nicht nur wegen dieser europäischen Geschichte?

    Hans Apel: Nein, natürlich nicht. Aber ich will Ihnen über Willy Brandt eine Geschichte erzählen. Ich war in Brüssel im NATO-Rat, und ich war wirklich am Ende. Der Tornado war nicht finanziert, es fehlte an allen Ecken und Kanten Geld. Keiner mochte mich mehr leiden in der Republik. Und Politiker sind eitel, das hat mich alles sehr gestört. Da kommt eine Ordonanz rein, knallt die Hacken zusammen und sagt zu mir: Herr Minister, ein Herr Brandt möchte Sie sprechen. Ich dachte, das ist der Generalinspektor der Bundeswehr, der hieß auch Brandt. Dann bin ich rausgegangen, und da war das Willy am Telefon, und Willy sagte mit seiner rauchigen Stimme: Hans, ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Wann bist du denn wieder in Bonn. – Ja, dann und dann. – Dann komm in die Baracke, und dann trinken wir ein paar Sherrys. – Kein Mensch hat von mir mehr ein Stück Brot genommen, und mein Parteivorsitzender lädt mich so ein. Das habe ich dem nie vergessen. Er war nicht der Allerstärkste, aber er hatte diese Art von Menschlichkeit, die tief gewirkt hat.

    Rainer Burchardt: Er war wahrscheinlich der Kanzler zur richtigen Zeit in dieser Situation, wenngleich Herr Herbert Wehner eigentlich die Sozialliberale Koalition damals nicht wollte. Er wollte ja eine Fortschreibung der Großen Koalition. Hatte er recht, nachträglich?

    Hans Apel: Nein, er hatte nicht recht. Damals war ich auch der Meinung von Herbert Wehner, aber im Nachhinein muss ich sagen, das waren schon wichtige Jahre für unser Land und auch für die Sozialdemokratie. Dass dann der Ausstieg aus der Regierungsverantwortung so lamentabel war, dass plötzlich die Erhardts und die Lafontaines und die vielen Opportunisten die Regierungsverantwortung wegwarfen nach der Melodie "Opposition macht mir Spaß", das hat mich enttäuscht bis heute. Aber das war schon eine wichtige Zeit. Und in der Großen Koalition wäre es so nicht mehr weitergegangen. Das wäre ähnlich gegangen wie heute, mit Hauen und Stechen. Und die Sozialdemokraten hatten bewiesen, dass sie regieren konnten. Sie mussten das nicht erneut beweisen. Union hatte sich langsam unter Rainer Barzel wieder gefunden. Das wäre sicherlich für unser Land weniger erfreulich gewesen.

    Rainer Burchardt: Für Sie ging es dann ja, wie man so gemeinhin sagt, steil bergauf. Sie waren relativ schnell dann Bundesfinanzminister und haben in dieser Position ja doch eine Menge bewirken können, zumindest was Steuerreformen angeht, und was letztendlich auch, na, ich will mal sagen, zumindest der Ansatz der Sanierung von Staatsfinanzen war. Sind Sie dann enttäuscht worden auch von jemandem wie Helmut Schmidt, der sicher auf Sie sehr gesetzt hat?

    Hans Apel: Eigentlich nicht. In dieser Zeit nicht. Später habe ich manchmal, als ich Verteidigungsminister war, Probleme mit Helmut Schmidt, in dieser Zeit nicht. Da war das einfach Genscher. Die FDP und insbesondere Genscher, und der verwechselte ja immer Politik mit Meteorologie, machte immer den Finger nass, und dann merkte er, woher den Wind weht, und dann war seine politische Marschroute ja auch gegeben. Immer, wenn ich Haushalt sanieren wollte, waren die Etats der FDP natürlich tabu. Ich forderte im Bundestagswahlkampf 1976 zwei Punkte Mehrwertsteuererhöhung, habe ich immer wieder gefordert. Helmut Schmidt hat mir nicht widersprochen. Am Ende kriegten wir ein Prozent, und die FDP zwang uns mehr, als die Einnahmen aus diesem einen Prozent wieder auszugeben.

    Rainer Burchardt: Sie waren natürlich übermütig, weil Sie damals 10,6 Prozent bekamen und auch der Retter der Sozialliberalen Koalition war. Kohl hatte damals 48,6. Da kann man heute nur von träumen, von solchen Zahlen.

    Hans Apel: Das ist richtig. Das kommt ja auch nie wieder. Das Parteispektrum hat sich da aufgefieselt. Ich denke, in der Großen Koalition haben wir einen Fehler gemacht. Wir hatten ja in dem Koalitionsvertrag den Satz drinstehen, wir würden in diesen Jahren ein Mehrheit bildendes Wahlrecht verabschieden. Ich glaube, der Republik wäre viel erspart geblieben, vielleicht sogar bis heute. Wir hätten dann in der Tat eine höhere Konzentration.

    Rainer Burchardt: Wollte ich gerade fragen: Würden Sie das heute wieder befürworten, Rückkehr oder hin zum Mehrheitswahlrecht?

    Hans Apel: Ich würde das befürworten. Na, es gibt ...

    Rainer Burchardt: Gerade, wo die Linke jetzt stark geworden ist, die wäre weg vom Fenster?

    Hans Apel: Es hieß ja Mehrheit bildendes Wahlrecht, also da gab es ja viele Modelle, das können wir jetzt nicht anleuchten. Ich habe das für richtig gehalten. Natürlich hätte das dann auch die Parteien verändert. Dann wären doch nach der Wende die PDSler zu uns gekommen. Das war im Übrigen ein Fehler, sie nicht reinzulassen. Und die Grünen wären wahrscheinlich bei uns gelandet, und dann wäre vielleicht die SPD implodiert. So ist sie klein, aber fein geblieben. Also, wie Sie wollen, in jedem Falle, das klappte dann nicht. Und das hat im Endeffekt auch komischerweise Herbert Wehner mit kaputtgemacht.

    Rainer Burchardt: Herr Apel, wenn man diese Zeit noch mal rekapituliert, ich meine jetzt die 70er Jahre, Bundeskanzler Helmut Schmidt, Bundesfinanzminister Hans Apel. War auch ein großes Thema, was heute wieder da ist, das war die Rente und die Frage der Rentenreform. Und es gibt ein Zitat, das man bisher immer nur Norbert Blüm zugeordnet hat. Sie haben es in einem Ihrer Bücher selber geschrieben, dass Helmut Schmidt mal irgendwo gesagt hat, die Rente ist sicher. Sie war es mitnichten, und Sie wussten das. Was haben Sie damals eigentlich getan? Sie schildern eine Situation am Brahmsee, am Urlaubsort von Helmut Schmidt, wo auch Walter Arendt dabei war, der damalige Bundesarbeitsminister. Da müssen doch die Fetzen geflogen sein?

    Hans Apel: Na ja, es war so: Die Haushaltsabteilung des Finanzministeriums weiß ja über jedes Haus, über jeden Etat mindestens so gut Bescheid wie die Verantwortlichen dort selbst. Und der Haushaltsdirektor kam zu mir, acht Wochen vor der Wahl, und sagte, die SPD sagt immer, die Rente sei sicher. Wenn ich mir die Zahlen angucke, wird nach gewonnener Wahl eine Rentenreform notwendig sein. Die Renten müssen gekürzt werden, nichts ist sicher. Ich habe darauf Helmut Schmidt einen Brief geschrieben und habe ihm gesagt, vor allen Dingen hör auf, solche Sachen zu behaupten, dass die Rente sicher ist. Und zweitens sieht es so und so aus. Und daraufhin wurden Arendt und ich dahin bestellt, an den Brahmsee, und in der Tat, es gab ein Riesentheater. Und Walter Arendt wusste sich kaum zu rechtfertigen. Deswegen hat er eigentlich auch seinen von ihm erbetenen Rücktritt nach der Wahl ziemlich klaglos hingenommen. Und Helmut Schmidt hat aber dennoch nicht aufgehört.

    Rainer Burchardt: Das ist eine sehr sibyllinische Formulierung. Hat Helmut Schmidt ihn rausgeschmissen?

    Hans Apel: Hm, ja, wie das so geht, nicht, mit gegenseitigem Einvernehmen, "Schmus mit Franzen, bums büs Buten", [norddeutsch platt: Schmuse mit Franzen, bumms bist du draußen – Anm. d. Red.] so nach dieser Melodie. Nur Helmut Schmidt hat weiter gesagt, die CDU würde, wenn sie über die Rente so redete, wie sie redete, lügen im Namen von Jesus Christus auch noch, wegen des C im Parteinamen. Und als wir dann die Wahl ganz knapp gewonnen hatten, mussten wir als Erstes so eine Art Rentenkürzungsschritt machen. Es gab einen Aufstand in der SPD, der Rentenbetrug hieß das Ganze.

    Rainer Burchardt: ... und Rentenlüge.

    Hans Apel: Ah, ja, Rentenlüge, noch besser! Sie haben es besser in Erinnerung als ich! Und dann wurde das Ganze mehr oder minder zurückgenommen und irgendwo, was weiß ich, verhackstückt. Ich wurde dann ja auch sehr bald Verteidigungsminister.

    Rainer Burchardt: Ja, waren Sie froh, dass Sie dann den Job loswaren oder wechseln konnten?

    Hans Apel: Ja und nein! Ich habe ja immer spitzmäulig, wie ich bin, dann auf der Hardthöhe gesagt, was ihr da macht, ist Science Fiction ohne Science. Und das hat die unheimlich geärgert, wie überhaupt meine flotten Sprüche ihnen Probleme gaben. Aber ich war wenigstens dieses elende Gezerre los.

    Rainer Burchardt: Hatten Sie das Gefühl, dass Sie akzeptiert waren bei den Uniformierten? Sie waren nie Soldat, und Sie betrachten sich ja auch selbst als Pazifisten. Was hat da ein Pazifist auf dieser exponierten Position auf der Hardthöhe verloren?

    Hans Apel: Na, ich war zu dem Zeitpunkt kein Pazifist mehr in dem Sinne. Ich hatte Glück. Ich war Pazifist, wurde von meiner Frau dazu gebracht, weil es dort eine Wohnung gab in Luxemburg, 1958 nach Luxemburg zu gehen, zuerst als Sekretär der Sozialistischen Fraktion, dann als Beamter des Europäischen Parlaments, sodass der große Schwenk in der SPD in dieser Frage von mir nur aus der Ferne betrachtet wurde.

    Rainer Burchardt: Also Wiederbewaffnungsdiskussion, NATO?

    Hans Apel: Ja, wenn ich Deutschland gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich wegen meiner Sturheit zu diesem Zeitpunkt aus der Partei ausgetreten. Ich hatte inzwischen gelernt, dass das alles Unsinn war, dass wir schon sehr wohl Gegengewichte brauchten gegen den Warschauer Pakt. Ich war am Ende ja auch Befürworter des NATO-Doppelbeschlusses, aber natürlich hing mir diese Vergangenheit an. Helmut Schmidt sagte: Erstens kannst du rechnen, zweitens bist du schneller als die, und drittens kennst du mehrere Sprachen, du wirst mit denen fertig.

    Rainer Burchardt: Schmidt war ja auch mal Verteidigungsminister, der wusste, wovon er spricht?

    Hans Apel: Ja, aber er war auch nicht gerade einer der Beliebtesten, um es mal freundlich zu sagen. Bei mir war das dann so: Ich habe erst mal ein Vierteljahr mehr oder minder geschwiegen. Ich habe mir sehr schnell das angeeignet, was dazugehörte. Wir haben einfach, meine Frau hat mich immer abgefragt, die Rangabzeichen gebimst. Und in der Marine hatte ich bis zum Schluss Probleme.

    Rainer Burchardt: Als Segler?!

    Hans Apel: Ja, aber die haben so einen Tüttelkram da oben drauf. Bei den anderen wusste man, in dem Moment, wo goldene Sterne sind, sagst du am besten, Herr General, stimmt immer. Und dann habe ich auf sie gehört und habe wirklich geführt. Also nach einem Jahr hatte ich das Gefühl, warten die da gut. Er ist kompliziert. Er spielt auf der Hardthöhe mittwochs Fußball und dann auch noch mit den Boten und den Köchen. Nur ein Offizier ist dabei, das fanden wir alles ein bisschen merkwürdig. Schorsch Leber hatte das nie getan, das war alles ganz anders. Und ich war Christ, ich war frech, aber na gut. Es ging eigentlich. Und als ich denn da nach etwa vier Jahren wegging, haben sie mich gemocht. Und sie behaupten das heute noch, aber das sagen sie wahrscheinlich jedem, den sie treffen.

    Rainer Burchardt: Aber das war für Sie natürlich damals eine wahrscheinlich doch sehr spannende Zeit. Es tat sich ja auch etwas, was jetzt Entspannungsphase angeht oder die einleitende Entspannungsphase. Auf der anderen Seite natürlich NATO-Doppelbeschluss, Pershing und was Sie da so alles an der Hacke hatten. Was war mehr Stress für Sie, der Bundesfinanzminister oder der Bundesverteidigungsminister?

    Hans Apel: In jedem Fall der Bundesverteidigungsminister, denn die Partei war am Ende nicht mehr bereit, mit mir zusammen Versammlungen zu machen. Ich wurde ausgeladen.

    Rainer Burchardt: Wegen Ihrer Position zum NATO-Doppelbeschluss?

    Hans Apel: Ja, ja, wegen meiner Haltung zum NATO-Doppelbeschluss. Von den Gewerkschaften wurde ich immer, insbesondere von meiner eigenen, der IG-Metall, mit "Genoske Apel" angeredet, in Anspielung an den ersten sozialdemokratischen Reichswehrminister 1919. Ich habe gerade heute noch in einem anderen Zusammenhang ...

    Rainer Burchardt: Der auch auf Leute hat schießen lassen?

    Hans Apel: Ja ... gehört, dass sie die Gewerkschaften mich zu diesem Zeitpunkt als Schreibtischtäter bezeichnet haben in ihren Organen. Also das war schon eine schwierige Zeit, umso mehr als ich davon überzeugt war, dass das, was Helmut Schmidt und ich wollten, absolut notwendig war, was sich im Übrigen dann ja auch gezeigt hat, als alle diese Mittelstreckenraketen von Helmut Kohl, von Reagan und Gorbatschow abgerüstet wurden. Ich kann immer noch nachts nicht gut schlafen. Und das, mein vegetatives Nervensystem, ist nicht gut.

    Rainer Burchardt: Das kommt aus der Zeit?

    Hans Apel: Das kommt mit absoluter Sicherheit aus der Zeit. Und die "Albträume" in Anführungsstrichen, die ich manchmal habe, auch.

    Rainer Burchardt: Sind da Fiktionen oder unerledigte Sachen, die Sie gerne anders gemacht hätten?

    Hans Apel: Nein, eigentlich nicht. Ich hatte ja am Ende gar keine Wahl. Der NATO-Doppelbeschluss musste gemacht werden. Der Traditionserlass der Bundeswehr musste geändert werden gegen den Willen der Generalität. Der gilt bis heute. Wir mussten mit knappen Kassen auskommen und die Bundeswehr daran gewöhnen, dass das Schlaraffenland vorbei ist. Aber wenn Sie dann überall angemacht werden, und Sie am Ende durch Ihre Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluss wissen, dass nun Ihre politische Stunde, Ihr Schicksal geschlagen hat, dann ist das schwierig. Aber dann kam die Deutsche Einheit, und damit hatte ich neue Aufgaben.

    Rainer Burchardt: Da kommen wir gleich hin. Aber hatte denn eigentlich die relativ ambivalente Position der Bundesregierung in dieser Frage, hatte das für Sie auch direkte Auswirkungen bei Verhandlungen in Brüssel etwa, auf NATO-Ebene? Nahm die Position Deutschlands in der Stärke ab?

    Hans Apel: Nein, das kann man so nicht sagen. Ich hatte ja in dieser Frage einen Eckstein, und das war Genscher. In dieser Frage stand er, überhaupt keine Frage. An ihn kam deswegen auch keiner aus dem Kabinett vorbei, aber es war schon schwierig. Es war schon schwierig. Nun hatte ich einen großen Vorteil, ich spreche nicht nur fließend englisch, sondern wenn ich sie alle ärgern wollte, die zweite Amtssprache der NATO ist Französisch, habe ich französisch geredet, und dann mussten sie sich alle ihre Casquettes, also ihre Kopfhörer aufsetzen, und da habe ich mich diebisch gefreut. Kindskopf damals, Kindskopf heute. Nein, ich kam mit denen eigentlich persönlich ganz klar. Und ich konnte auch deutlich machen, dass nicht die Bundesregierung, sondern Gewerkschaften, evangelische Kirche, SPD wegläuft und nicht wir.

    Rainer Burchardt: Ich würde ganz gern an dieser Stelle doch noch mal ein bisschen mehr beleuchtet sehen Ihr Verhältnis sehen zu Helmut Schmidt. Sie sind ja beide Hamburger. Sie kommen eigentlich ja auch beide aus Hamburger Stadtteilen, wo nun nicht gerade der Adel geboren wird. Und ich vermute mal, die Jugend ist ähnlich gelaufen, wenngleich Helmut Schmidt im Zweiten Weltkrieg ja nun Hauptmann war. Ist Ihr Verhältnis eigentlich zu ihm ambivalent, oder wie ist es damals gewesen? Man hat ja immer so das Gefühl, irgendwann hat Schmidt dann den [im Hörprotokoll unverständlich, Anm. d. Red.] Posten gehabt, und Hans Apel hat dann salutiert und gemacht, was von ihm verlangt wurde.

    Hans Apel: Also fangen wir mal heute an. Heute sind wir die allerbesten Freunde, damals, in der Tat ambivalent. Auf der einen Seite war er der Boss, und er war gewohnt, alles besser zu wissen. Er wusste meistens auch alles besser. Einmal habe ich ihm in der Agrarpolitik widersprochen, im Kabinett, obwohl ich ja gar kein Landwirtschaftsminister war. Aber das war ein Thema, das mich immer sehr interessierte. Da hat er gesagt: Gut, wir wetten um fünf D-Mark. Das war für ihn schon ein außerordentlich hoher Einsatz. Und bei der nächsten Kabinettssitzung hat er mir ohne Kommentar fünf Mark übern Tisch geschmissen.

    Rainer Burchardt: Ehrenmann.

    Hans Apel: Nein, das war schon ambivalent. Und ich habe auch vor ihm bis heute ganz große Hochachtung, aber diese Wärme zum Beispiel, die mir in dieser Zeit Willy Brandt, aber auch Herbert Wehner immer wieder entgegengebracht haben, das war nicht seine Art. Und natürlich stand ich bei all diesen Fragen NATO-Doppelbeschluss in der vordersten Linie und kriegte die Prügel voll und ganz. Er konnte sich in der zweiten Linie halten. Er hatte ja seine Frontschweine.

    Rainer Burchardt: Aber war das nicht auch eine Solidarität der Hamburger damals, oder war das eine absolute Solidarität in der Sache oder beides?

    Hans Apel: Sowohl als auch. Ich denke, Hamburg hat nie die ganz zentrale Rolle gespielt, denn uns trennen ja doch immerhin 13 Jahre. Und das sind nicht irgendwelche 13 Jahre, sondern das ist eine andere Generation, zu der Helmut Schmidt gehört hat und immer noch gehört.

    Rainer Burchardt: Wie ist überhaupt bei Ihnen die Deutsche Einheit angekommen?

    Hans Apel: Sehr überraschend. Ich hab das nicht für möglich gehalten, und ich bin dann ja, weil ich ja nun auch viel Zeit hatte, für die Treuhand Aufsichtsratsvorsitzender bei drei Braunkohleunternehmen geworden und später auch noch Aufsichtsratsmitglied bei EKO Stahl in Eisenhüttenstadt. Im Nachhinein weiß ich immer noch nicht, wie das eigentlich zustande kam, wahrscheinlich durch eine Verkettung ganz schlimmer oder merkwürdiger Tatsachen und der Überzeugung der Führungsclique in der DDR, dass für sie der Ofen aus war.

    Rainer Burchardt: Hat sich die SPD eigentlich Anfang der 90er Jahre klug verhalten nach Ihrer Meinung, gerade im Hinblick auf die Deutsche Einheit, die Bemerkung von Oskar Lafontaine etwa, alles viel zu teuer, kann man nicht finanzieren, in der Sache vielleicht gar nicht so unrecht, aber war das nicht politisch dumm?

    Hans Apel: Das war alles dumm, was zu dieser Zeit geschah. Wie gesagt, diese Äußerungen, und Willy Brandt hat zwar ein Gegengewicht gesetzt, aber er war eben nicht mehr im Zentrum der Machtausübung der SPD, und dann auch die Art und Weise, wie sie mit den Sehnsüchten der PDSler umgingen, die nun unbedingt in die SPD wollten. Man hätte ja die Spitze nicht aufnehmen müssen, aber wenigstens viele Mitglieder. Obwohl, das hat mir später mal dann die immer noch amtierende Bürgermeisterin von Wismar erklärt, da hat sie zu mir gesagt, Hans, wir waren 13 Sozis, und die anderen waren 114, 114 bei der SED-PDS, wenn wir die alle aufgenommen hätten oder nur den größeren Teil, da hätten wir auch nichts mehr zu melden gehabt. Also waren wir ganz froh, dass die nicht rein durften. Das war naheliegend, aber doof. Und so ist dann die PDS wirklich zu einer CSU in Ostdeutschland aufgestiegen.

    Rainer Burchardt: Willy Brandt, den Sie gerade eben noch mal erwähnt haben, da hängt Ihnen auch etwas nach, eine politische Formel aus der Automobilindustrie, BMW, Brandt muss weg, wird Ihnen zugeschrieben, heute übrigens wiederbelebt bezogen auf Beck. Auch das hört man jetzt schon oder liest es.

    Hans Apel: Oh, Gott! Also im Notfall verlange ich Gebühren, das ist ja ein Plagiat!

    Rainer Burchardt: Bedauern Sie diese Äußerung?

    Hans Apel: Ach, wissen Sie, ich bin ja manchmal so was von doof! Wir sitzen so in der Fraktion uns gegenüber, wie wir beide hier, und es geht nun die große Frage, was wird mit Brandt. Und ich sage zu meinem Bank gegenüber, Freimut Duve, Abgeordneter aus Hamburg damals: Weißt du, was BMW heißt? Da sagt der, nee, das weiß ich nicht. Da sage ich, Brandt muss weg. Und da sagt er, und weißt du, was VW heißt. Nee, das wusste ich nicht. Von wegen. Und da habe ich zu ihm gesagt, halt bloß die Klappe, wenn das irgendwo rauskommt, dann bin ich aber dran. Der hat aber nicht die Klappe gehalten, der hat dafür gesorgt, dass es in alle Zeitungen kam. Und da musste ich zu Willy Brandt und mich entschuldigen. Aber ...

    Rainer Burchardt: Hat er Ihnen das verziehen?

    Hans Apel: Willy hat eigentlich alles verziehen. Er ist nun ja wirklich ein, wie ich finde, guter Mensch gewesen, vielleicht zu weich für die Politik, aber eben doch ein Mensch, der immer wieder wichtige Zeichen gesetzt hat.

    Rainer Burchardt: Aber er trat dann ja auch zurück, auch als Parteivorsitzender, und wurde abgelöst von Hans-Jochen Vogel. Sind Sie mit dem eigentlich gut klargekommen?

    Hans Apel: Nie! Also das war wirklich Feuer und Wasser. Ich: Temperament, immer noch ...

    Rainer Burchardt: Also Nord-Süd-Konflikt?

    Hans Apel: ... immer noch jugendbewegt, fröhlich. Und er war ja so was von knorrig und staubig und langweilig. Fürchterlich! Allerdings muss ich ihm eins zugute halten. Als ich 70 Jahre alt wurde, wir hatten vorher nie wieder Kontakt gehabt, hatte er mir einen Brief geschrieben und hat gesagt, ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag, lass uns mal unsere Fehde vergessen. Und daraus habe ich dann geschlossen, ich habe ihm freundlich geantwortet, dass er vielleicht doch dabei ist, sich zu ändern.

    Rainer Burchardt: Herr Apel, wir sollten zum Schluss unseres Gespräches auch ein bisschen Lokalkolorit versuchen hinzukriegen, und da geht es natürlich insbesondere um den Privatmann Apel. Sie sind Honorarprofessor, Sie lehren auch, promoviert waren Sie ohnehin seit Jahrhunderten. In Hamburg sind Sie fest verankert mit dem FC Sankt Pauli, kann man jetzt gratulieren, gerade wieder aufgestiegen, und mal gucken, was da rauskommt. Was bedeutet für Sie eigentlich für das Leben nach der Politik diese Stadt mit ihren vielfältigen Angeboten? Von Ihrer Frau spreche ich jetzt mal nicht, die haben Sie nun auch sehr oft erwähnt.

    Hans Apel: Nein, dieses ist unsere Stadt, hier fühlen wir uns wohl. Hier mögen uns die Menschen, ganz viele sprechen uns an, gerade in den letzten Tagen. Wie geht es denn Loki. Eine sagte, nachdem ich Loki mit einem Gehwagen gesehen habe, kann ich auch einen nehmen. Also ich habe das Loki alles geschrieben, denn die braucht ja ein bisschen Trost.

    Rainer Burchardt: Das ist die Frau von Helmut Schmidt, das müssen wir ja für Generationen sagen, die es nicht mehr wissen.

    Hans Apel: Ja, das ist unsere Stadt, hier leben wir, die lieben wir. Hier werden wir bleiben. Hier wissen wir auch, wo wir beerdigt werden. Das ist alles ganz prima. Und ohne den FC Sankt Pauli können wir nicht leben. Wir haben uns jetzt sogar für 4.300 Euro zwei Business Seats gekauft. Und sie wollen darüber eine Pressemitteilung machen, und ich habe ihnen dann gesagt, vergesst nicht, auch meine Frau ist seit 18 Jahren Mitglied des FC Sankt Pauli als förderndes Mitglied.

    Rainer Burchardt: Zum Schluss, wenn Sie sich was wünschen dürften, und das ist jetzt politisch gemeint, was würden Sie sich wünschen? Also was auch realistisch ist.

    Hans Apel: Also ich wünsche mir, dass die Große Koalition in Berlin über das nächste Wahljahr nicht hinausreicht, weil, was da dargeboten wird, ist nicht nur herzlich wenig, sondern nach meiner Überzeugung zerstörend für das Interesse und das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern in der Politik. Dieses Hickhack, dieses Sich-wechselseitig-Anmachen, dieses Nichts-auf-die-Reihe-Kriegen und dann der Mangel an Führungsqualität ist lebensgefährlich für eine parlamentarische Demokratie. Deswegen, das muss beendet werden, entweder durch Rot-Grün oder durch FDP/CDU/CSU, Lafontaine steht ja wohl nicht zur Debatte.

    Rainer Burchardt: Eine Ampelkoalition?

    Hans Apel: Wie soll denn das gehen? Dann lieber dieses Theater, das wir jetzt haben.