Jochen Spengler: Die Rechtsradikalen haben gestern die erste Runde der Regionalwahlen in Frankreich gewonnen. Die Partei Front National landet in sechs von 13 französischen Regionen auf dem ersten Platz und verbucht etwa 28 Prozent der Stimmen. Parteichefin Marine Le Pen kam im Norden sogar auf über 40 Prozent. Zweiter Sieger die konservativ-bürgerliche Opposition um den früheren Staatschef Nicolas Sarkozy mit etwa 27 Prozent und die regierenden Sozialisten von Präsident Francois Hollande kommen mit 23 Prozent nur auf Platz drei.
Wir wollen nun eine weitere Einordnung dieser Resultate versuchen mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot. Guten Tag, Frau Guerot.
Ulrike Guerot: Guten Tag!
Der Front National ist nicht neu
Spengler: Wir finden hierzulande, wenn es um den Front National geht, Attribute wie Rechtsradikal oder Rechtsextrem. Was ist er denn nun, rechtsradikal oder rechtsextrem?
Guerot: Na ja, erst mal beides, oder zumindest müsste man sagen, er war beides. Der Front National ist nicht neu, hat eine lange Geschichte von über 30 Jahren, kam Anfang der 80er-Jahre massiert auf in Frankreich und war zu diesem Zeitpunkt durchaus radikal. Wir erinnern uns an den Vater Jean-Marie Le Pen, der mit unakzeptablen Holocaust-Bemerkungen Furore gemacht hat in Frankreich. Und das hat natürlich wirklich Untertöne, die in Frankreich auf verschiedene radikale Spektren verweisen. Was jetzt aber neu ist, ist, dass Marine Le Pen - der Vater wurde ja aus der Partei ausgegrenzt - genau die bürgerliche Mitte sucht, und das hat sie seit 2012, den letzten Präsidentschaftswahlen, wirklich sehr erfolgreich gemacht. Insofern könnte man heute durchaus formulieren, dass Marine Le Pen oder der Front National de facto inzwischen so etwas ist wie eine Volkspartei in Frankreich.
Radikalität in der Latenz
Spengler: Offen nach rechts allerdings?
Guerot: Natürlich offen nach rechts. Die Ambivalenz, die Marine Le Pen eigentlich ganz gut hinkriegt, ist, dass sie sich in die bürgerliche Mitte bewegt. Wir können das auch an soziologischen Daten herunterbrechen. Zum Beispiel arbeitende, berufstätige, emanzipierte Frauen zwischen 30 und 40 sind eine der großen Gruppen, bei denen Marine Le Pen inzwischen sehr erfolgreich ist, nur um mal ein Beispiel zu nennen. Übrigens auch die Jugend. Die jugendliche Bevölkerung, Altersgruppe 18 bis 25, wählt verstärkt oder über den nationalen Durchschnitt den Front National. Auf der anderen Seite verliert Marine Le Pen aber nicht diese radikalen extremen Gruppen, die in der Gründungsbewegung den Front National genährt haben. Sie schafft beides. Sie hält diese Radikalität in der Latenz, spricht das aber nicht mehr aus und macht sich damit sozusagen selber für eine bürgerliche Mitte in Frankreich.
Spengler: Das heißt, auch in Deutschland gibt es zum Front National eigentlich keine analoge Entsprechung? So eine Partei haben wir hier nicht?
Guerot: Na ja, das müsste man jetzt in Deutschland mal abwarten, wie die Alternative für Deutschland sich entwickelt. Wir hatten da ja auch im Grunde eine bürgerliche Partei, die mit den Herren Henkel und Lucke erst mal einen professoralen Charakter hatte und die sich jetzt unter Frau Petry natürlich in andere Dimensionen bewegt, und die Frage ist, ob es der AfD auch gelingen könnte, so eine Verkoppelung hinzubekommen, dass man Teile eines bürgerlichen-konservativen Bürgertums irgendwo hat, aber trotzdem natürlich sich irgendwo am Rand in Migrationsfragen radikalisiert. Ich kann das nicht bewerten, wie die Entwicklung der AfD sein wird und ob man es irgendwann mal gleichstellen kann mit dem Front National.
Spengler: Frau Guerot, um es noch mal ganz deutlich zu machen. Wenn Sie sagen, das ist im Prinzip eine Partei, die sich auf die Mitte zubewegt, heißt das, die Partei ist nicht mehr rassistisch, ist nicht mehr EU-feindlich?
Guerot: Sie ist auch nicht ausgesprochen nicht mehr rassistisch. Der Trick liegt gerade da, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Marine Le Pen hat in ihren Netzwerken wirklich durchaus auch noch radikale Leute, die sie aber sehr geschickt stillstellt. Gegen die wird auch vorgegangen. Deswegen hat sie ja ihren eigenen Vater aus der Partei herausgeschmissen. Aber in der Latenz ist das natürlich noch vorhanden. Sie macht sich aber wie gesagt sehr ansprechbar, vor allem für eine wirtschaftlich und sozial Frustrierte immer größer werdende Öffentlichkeit, und hier - das muss man auch dazu sagen - vor allem auf dem Land. Frankreich ist nicht wie Deutschland ein homogenes Wirtschaftsland mit Mittelstand überall, sondern hat regionale Ballungsgebiete und hat große - - Zwei Drittel Frankreichs sind absolut ländlicher Natur. Wenn Sie auf die Wahlkarte des Front National gucken, ist der Front National der Ansprechpartner für die Globalisierungsverlierer im ländlichen Frankreich.
Globalisierungsverlierer im ländlichen Frankreich
Spengler: Nun gibt es auf dem Land vermutlich wenige Moslems wie ja auch hier. Wie erklärt sich dann dennoch dieser starke Rückhalt?
Guerot: Na ja. Das liegt daran, dass sich Marine Le Pen oder der Front National aus verschiedenen Bewegungen nährt. Oben natürlich im Norden ganz stark für Marine Le Pen sind die alten Kohleregionen, wo die ganzen Industrialisierungsverlierer leben, der Abbau der Industrialisierung. Im Süden, zum Beispiel in Marseille, im Großraum Marseille sind es die ehemaligen Algerier und Franzosen, die da alle wohnen und die natürlich diesen islamophoben Rassismus schüren, den der Front National nutzt. Dahinter steht aber - und das ist jetzt, wo Marine Le Pen sich auf die bürgerliche Mitte zubewegt - so eine verlorene Landbevölkerung, die nicht mehr so genau weiß, wo sie hingehört, die keine Erzählung mehr hat in Frankreich, und da besetzt Marine Le Pen, das ist ganz wichtig, den Begriff der Republik. Sie ist die Frau der verlorenen Franzosen und sie schafft es, damit eine Erzählung zu schaffen, je suis la République, ich bin eure Republik, ich bin das eigentliche Frankreich. Das sind Erzählungen, die knüpfen im Grunde an an solche Personen wie Jeanne d´Arc zum Beispiel und sie kann sich damit sehr geschickt als "Retterin Frankreichs" gegen eine politische Klasse stilisieren. Ich sage nicht, dass das irgendwie gut zu heißen ist; ich sage aber, dass das in Frankreich erzähltypisch zumindest zu funktionieren scheint.
Spengler: Gibt es ein Rezept gegen diese Strategie?
Guerot: Na ja. Das Rezept kann auf jeden Fall nicht sein, dass wir jetzt in der Analyse, wie es ja auch jetzt sehr verstärkt passiert, einfach nur sagen, Marine Le Pen ist die Nutznießerin der Terroranschläge in Paris. Das ist einfach zu kurz gesprungen. Natürlich hat der Terror Marine Le Pen noch mal sehr befördert. Das gießt ja Wasser auf ihre Mühlen in der Islam-Feindlichkeit. Aber es ist nicht der eigentliche Grund. Der eigentliche Grund - und der ist seit Langem sichtbar, in allen Zahlen sichtbar; Marine Le Pen hat seit 2012 15 Prozentpunkte zugelegt - ist diese sozioökonomische Verwerfung, die wir in den letzten Jahren vor allem im Stadt-Land-Gefälle in Frankreich beobachten konnten. Insofern müsste man da ansetzen, wenn man eine Lösung sucht, und dann müsste man mal strittig stellen, ob jetzt zum Beispiel dieser Kampf gegen Terror eigentlich die richtige Lösung ist vor dem Hintergrund, dass wir jetzt eine Allianz machen zum Beispiel mit Russland, zum Beispiel mit Saudi-Arabien, aber Putin finanziert den Front National. Saudi-Arabien radikalisiert die Pariser Vororte. Also ist natürlich die Frage, wenn wir jetzt diskutieren, Kampf gegen Terror, ISIS und so weiter, sind das die Antworten, die Frankreich eigentlich braucht, oder sind das Ablenkungsmanöver.
Stadt-Land-Gefälle in Frankreich
Spengler: Und wenn Sie sagen, man müsste ansetzen an den sozioökonomischen Verwerfungen, was heißt das dann konkret?
Guerot: Na ja, man könnte ein bisschen sehr schnell in so einem Interview versuchen, die These zu wagen, dass das, was die Franzosen versucht haben, nämlich so eine Art Hartz-IV-Reform, die wir zu Beginn in Deutschland der letzten Dekade gemacht haben, dass die in Frankreich aus verschiedenen Gründen einfach schiefgegangen ist. Und die ist schiefgegangen, weil man mit dieser Reform im Grunde die ländliche Bevölkerung nicht hat mitziehen können. Es ist in Frankreich über diese ganzen Strukturreformen eigentlich nur gelungen, die städtischen Ballungsregionen Bordeaux, Lyon, Paris in diese Globalisierung mitzuziehen. Die sind im Moment auch ökonomisch nicht betroffen. Das Land fällt zurück, das ist der Nährboden für Marine Le Pen - das wäre eine sehr kurze Analyse.
Zersetzung der nationalen Demokratien in Europa
Spengler: 2017 gibt es Präsidentschaftswahlen. Marine Le Pen hat Chancen, dort die Mehrheit zu bekommen. Was würde das für die EU bedeuten?
Guerot: Das wage ich nicht auszusprechen. Man müsste sich dann wirklich sehr überlegen, ob man da noch irgendwie mit Pragmatismus, mit dem Wort des Pragmatismus operieren kann so nach dem Motto, dann müssen wir jetzt gucken, wie wir damit klarkommen. Aber natürlich kann man auch sagen, dass Marine Le Pen im Grunde absurde Forderungen hat, natürlich Euro-Austritt oder so - das ist ja nicht zu machen -, und dass man dann an der Realität sehr schnell sehen würde, dass sie ja gar nicht regieren kann mit ihren Forderungen. Trotzdem glaube ich, dass man das Phänomen nicht alleine isoliert beobachten kann oder betrachten kann. Wir müssen ja auch nach Polen gucken, nach Tschechien, nach Österreich, nach Dänemark und so weiter.
Spengler: Großbritannien!
Guerot: Großbritannien. Das heißt, wenn das ein generalisierendes Phänomen der Zersetzung der nationalen Demokratien in Europa ist durch Populismus, dann ist Marine Le Pen kein singuläres Problem und dann werden wir da ganz andere Antworten finden, weil dann natürlich die Desintegrationserscheinung der EU auf einmal sehr massiv zutage treten würde. Es geht hier jetzt nicht um Österreich oder Dänemark, sondern um das zentrale Partnerland Deutschlands.
Spengler: Das heißt, dann müsste sich die EU quasi neu erfinden?
Guerot: Das müsste man dann vielleicht doch mal überlegen.
Spengler: Ulrike Guerot, ich danke Ihnen für das Gespräch. Sie ist Politikwissenschaftlerin in Berlin und Frankreich-Kennerin.
Guerot: Ganz herzlichen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.