Kaspar Hauser ist wohl das bekannteste Beispiel eines Kindes, das durch Vernachlässigung großen Schaden erlitt. Vorbeugung, die so etwas verhindert, verringert menschliches Leid und sollte nicht an den Kosten scheitern, denn die Vernachlässigung von Kindern ist für eine Gesellschaft sehr teuer. Das amerikanische Zentrum für Krankheitskontrolle hat errechnet, dass die Vernachlässigung von Kindern in den USA allein im Jahre 2008 Kosten von 110 Milliarden Euro erzeugte, also rund 370 Euro je Einwohner. Besser wäre es, das Geld für die Vorbeugung auszugeben, denn die Kinder wachsen dann gesünder auf und leben länger.
Vernachlässigung dagegen - und das meint nicht nur Missbrauch, sondern auch Schläge, Hunger, Missachtung und Demütigung - verkürzt das Leben. Professor Ulrich Egle, psychosomatischer Arzt, Schmerz- und Bindungsforscher aus Freiburg:
"Die Hauptfolge ist, dass die Lebenserwartung deutlich runter geht. Und die Studien, die wir jetzt zur Verfügung haben, Langzeitstudien zeigen, dass das 15 bis 20 Jahre Unterschied bringen kann."
Dass der Unterschied so groß ist, überrascht zunächst. Aber wenn man sich vorstellt, wie lange die Kindheit dauert und wie groß die Unterschiede zwischen liebevoller Pflege und Vernachlässigung sein können, dann werden die Folgen verständlicher. Ulrich Egle skizziert die Zusammenhänge:
"Wir wissen heute, wie die vermittelnden Faktoren aussehen, wenn die Kindheit schwierig war: Es kommt zu Veränderungen in bestimmten Hirnbereichen, es kommt aber auch zu Veränderungen im Verhalten, das heißt in der Art, wie man mit belastenden Situationen im Alltag umgeht. Und diese ungünstigen Strategien von Bewältigung führen dazu, dass das Stressempfinden massiv ansteigt. Dieses Stressempfinden versuchen die Betroffenen dann dadurch auszugleichen, indem sie bestimmte Risikoverhaltensweisen sich aneignen."
Stress der Mutter hat Folgen für das Kind
Vernachlässigung führt zu einer höheren Empfindlichkeit gegenüber Stress, also übermäßiger Belastung, und zu riskanten Gegenmaßnahmen, um mit Stress fertig zu werden. Beides gemeinsam führt dann zu Erkrankungen in Folge dieses Verhaltens. Ulrich Egle zählt ein paar Risiken auf:
"Ganz einfach frühes Rauchen in der Jugend und so, Alkohol, Drogen und einige Andere. Wir wissen heute, dass diese Risikoverhaltensweisen wiederum die Chance erhöhen, bestimmte körperliche Erkrankungen zu entwickeln. Und die körperlichen Erkrankungen, um die es da geht sind: Herzinfarkt, Schlaganfall, bestimmte Formen von Leberentzündungen, bestimmte Tumorerkrankungen, und all diese gar nicht so seltenen Erkrankungen sind alle geeignet, dass die Lebenserwartung sich verkürzt."
Es gibt noch weitere Mechanismen, die sich ungünstig auf das Leben des Kindes auswirken können, und das sogar über Generationen hinweg, berichtet Sonja Entringer, Professorin für Medizinische Psychologie an der Charité in Berlin:
"Man weiß mittlerweile, dass Stressoren in der frühen Kindheit, massive Stressoren, wie Trauma-Erfahrungen, sexueller Missbrauch, physischer Missbrauch assoziiert sind mit einer ganzen Reihe von biologischen Veränderungen, die dann für ein erhöhtes Depressionsrisiko im späteren Leben prädisponieren. Diese physiologischen Veränderungen und auch das Depressionsrisiko, wenn eine Frau zum Beispiel schwanger wird, mit diesen Erfahrungen, bringt die Frau in die Schwangerschaft sozusagen mit."
Vereinfacht dargestellt fragt das Gehirn des Foetus beim Gehirn der Mutter nach, wie es denn mit Belastungen umgehen soll und entwickelt sich dann entsprechend. Wenn aber das Gehirn der Mutter Probleme hat mit Stress umzugehen, oder, wenn eine Schwangere in Situationen kommt, die sie überfordern, dann besteht Gefahr für das Kind. Sonja Entringer:
"Diese Idee, dass sich Stress negativ auswirkt, das gibt es ja schon lange. Also der Gedanke taucht schon in der Bibel auf, in frühen indischen Schriften; das hat sich so jetzt bestätigt und wir haben auch immer besser jetzt die biologischen Mechanismen untersucht, wie das wirklich auch passieren kann, also wie die Stresserfahrung der Mutter tatsächlich auch auf die nächste Generation, auf die Nachkommen übertragen werden kann."
Frühe Kindheit ist entscheidend
Dabei sinkt in der Schwangerschaft die Stressempfindlichkeit automatisch. Das dient nicht nur dem Schutz des Foetus vor einer erhöhten Stressempfindlichkeit, sondern auch seiner Lebenserwartung. Stress der Mutter wirkt sich nämlich auch auf die Erbanlagen des Kindes aus. Dabei spielen die Telomere an den Enden der Erbanlagen eine Rolle. Man kann sie sich sehr vereinfacht als Handgriffe vorstellen, an denen die Chromosomen bei jeder Zellteilung fest gehalten werden.
"Telomere sind Marker auf den Chromosomen, die mit jeder Zellteilung etwas kürzer werden und die werden als ‚biologische Uhr' betrachtet. Je kürzer die Telomere, desto weniger oft kann die Zelle sich noch teilen und desto früher bricht sozusagen das physiologische System zusammen. Und in vielen Studien konnte gezeigt werden, dass sich psychische Stressbelastung über verschiedene biologische Mechanismen auf Telomer-Verkürzung auswirkt. Und wir konnten zeigen, dass sich bereits Stresserfahrung im Mutterleib auf Telomerlänge bei den Nachkommen auswirkt."
Das Neugeborene einer gestressten Mutter hat sehr wahrscheinlich kürzere Telomere und wird weniger lang leben, weil sich seine Zellen weniger oft teilen können. Das ganze Leben, Fühlen und Denken eines Menschen wird also schon vor seiner Geburt beeinflusst. Man kommt schon mit mehr oder minder guten Karten auf die Welt. Aber: Was man damit anfängt, entscheidet sich nach der Geburt vor allem in der frühen Kindheit.
Wer ein Neugeborenes auf den Arm nimmt, bekommt von der Mutter sofort den Hinweis: "Köpfchen halten!", denn die Nackenmuskeln des Kleinkindes können den Kopf noch nicht halten. Nach einiger Zeit kann der Säugling selbst den Kopf heben und halten. So ähnlich brauchen Kinder auf vielen Gebieten zur richtigen Zeit die geeignete Unterstützung. Das gilt sowohl für den Körper, als auch für den Geist. Manche Fähigkeiten muss man nach einander lernen und viele am besten in einem bestimmten Zeitraum. Sabine Pauen, Professorin für Psychologie an der Universität Heidelberg erklärt, wie diese Zeitfenster entstehen:
"Wir wissen aus der neuropsychologischen Forschung, wann in bestimmten Gehirnbereichen die Synapsen, die Verbindungen zwischen den Neuronen ganz stark sich vermehren und dann auch wieder reduzieren. Das sind eigentlich die Phasen, in denen Erfahrungen einen ganz besonders starken Einfluss haben. Also das ist biologisch gesteuert, aber wie es dann nachher inhaltlich ausgestaltet wird, hängt von den Erfahrungen ab, die das Kind macht."
Entwicklung im richtigen Zeitfenster
Ganz viele dieser Zeitfenster, in denen Erfahrungen besonders stark wirken, liegen in der frühen Kindheit. Eltern, die genügend Zeit und Kraft haben, aber auch das nötige Feingefühl, spüren oft intuitiv, was ihr Kind gerade braucht. Etwa, dass man das Kind beruhigt, wenn es erregt ist, denn das kann es zunächst noch nicht selbst. Es muss erst lernen, seine Gefühle zu meistern. Kurz: Man lernt am leichtesten, wenn man das geeignete Zeitfenster ausnutzt. Das gilt sowohl für körperliche Fähigkeiten, wie etwa das Sehen, als auch für geistig-seelische Fähigkeiten, die im Gehirn ihre Spuren hinterlassen. Sabine Pauen:
"Sprachenlernen ist ein Beispiel dafür, dass eben die Entwicklung sich in Zeitfenstern vollzieht. Hier in einem Zeitfenster, das ein bisschen länger ist, nämlich bis zur Pubertät, geht man davon aus, dass man Sprachen auch problemlos akzentfrei lernen kann. Aber wenn es dann um eine Ebene geht, wo man Simultandolmetscher werden will, dann muss man eigentlich von Geburt an zweisprachig aufwachsen, um das gut machen zu können."
Wie sehr das Kleinkind beim Lernen auf Eltern oder andere Bezugspersonen angewiesen ist, zeigte eine Studie in Rumänien, bei der man Kinder in Heimen mit solchen Kindern verglich, die vor dem sechsten Lebensmonat adoptiert wurden. Dabei achtete man auf vergleichbare Bedingungen. Nur hatten die Adoptiveltern gelernt, aufmerksame und feinfühlige Eltern zu sein.
"Da konnte nachgewiesen werden, dass sowohl bezüglich der Gehirnentwicklung dieser Kinder, als auch ihrer Verhaltensauffälligkeiten und ihrer kognitiven Entwicklung zwischen denen, die vor dem sechsten Lebensmonat adoptiert wurden und denen, die in dem Heim verblieben sind, nach dem sechsten Monat, ganz signifikante, hochsignifikante und lang anhaltende Unterschiede bestanden."
Jeder Mensch weiß, wie gut es tut, beachtet und geliebt zu werden. Der Mensch braucht das Gefühl, irgendwo dazu zu gehören. Die Forschung spricht von der Bindung zwischen Eltern und Kind. Eine gelungene Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern ist das wichtigste Gegenmittel gegen Stresserfahrungen in der Schwangerschaft. Gottfried Spangler, Professor für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie an der Universität Erlangen:
"Wir haben eben fest gestellt, dass sicher gebundene Kinder in Stresssituationen eben nicht nur auf der Verhaltensebene ihr Verhalten oder ihre Emotionen besser regulieren können, sondern, dass wir auch auf physiologischer Ebene sozusagen Entlastung feststellen können, beziehungsweise Kinder, die unsicher gebunden sind, bei denen können wir dann auf physiologischer Ebene auch dann Stress in Form von erhöhten Stresshormonen feststellen."
Viele Möglichkeiten, positiv Einfluss zu nehmen
Die bei Vernachlässigung zu wenig entwickelte Fähigkeit Mitmenschen zu verstehen, führt sowohl für die direkt und indirekt Betroffenen zu erhöhtem Stress. Gewalttäter können oft ängstliche und aggressive Gesichter nicht unterscheiden und schlagen deshalb zu, weil sie meinen, der Andere wolle sie angreifen. Dabei ist der nur ängstlich.
Gene, Epigenetik, Telomere, Gehirn, Botenstoffe, Hormone, Stress all das wirkt irgend wie zusammen mit Verhalten, Gesundheit, Lebensdauer, Gefühlen und Gedanken. Das bedeutet aber nicht nur, dass in der frühen Kindheit viel schief gehen kann, sondern, dass es auch sehr viele verschiedene Möglichkeiten gibt, darauf einen heilsamen Einfluss zu nehmen.
"Auch Leute, die eine sichere Bindung haben, kommen in Stresssituationen und müssen irgend wann schwitzen vor lauter Angst. Aber sie wissen dann in diesen Situationen vielleicht eher, oder wissen auch, dass sie sich nicht nur auf sich selbst verlassen müssen, sondern dass sie sich auch auf Andere verlassen können, dass sie Hilfe und Unterstützung von anderen holen können."
Selbstverständlich wäre es schön, wenn alle Eltern, ja alle Erwachsenen Kindern gegenüber immer genau das Richtige täten, aber das ist unrealistisch. Gottfried Spangler:
"Es geht uns ja auch in anderen Alltagssituationen so: Wenn wir gestresst sind, wenn wir belastet sind, dann reagieren wir plötzlich ganz anders, als wir das eigentlich wollen. Alle Eltern wissen, wenn sie gegenüber ihren Kindern verhalten, dass wir manchmal gut drauf sind und dann gelingt uns Vieles, so wie wir das wollen. Und wenn wir Stress in der Arbeit gehabt haben, dann reagieren wir plötzlich ärgerlich, obwohl uns das nicht angemessen scheint."
Auch Eltern brauchen Hilfe
Wenn man mal einen Fehler macht, muss das für das Kind keine schlechten Folgen haben, wenn sonst alles mehr oder minder in Ordnung ist. Wenn Menschen aber ständig unter großem Stress stehen, etwa, weil sie arm sind, oder alleinerziehend, oder krank, oder sich in einer persönlichen Krise befinden, etwa Eltern während der Scheidung, oder gar alles zusammen, dann kann es geschehen, dass die Kinder leiden und die Eltern lernen und üben müssen, wie sie reagieren sollten. Sie brauchen Hilfe. Nicht umsonst sagt man in Afrika, man brauche ein ganzes Dorf, damit ein Kind gesund groß wird.
"Der Vorteil der Großfamilie war auch das, dass ein Kind auch mehrere Möglichkeiten hatte. Also ein Kind bildet ja eine Bindung nicht nur zu einer Person, sondern hatte in der Großfamilie die Eltern, vielleicht die Oma, manchmal war noch eine unverheiratete Tante im Haus, sodass es viel mehr Möglichkeiten hatte, sodass es auch nicht sozusagen davon abhing, ob eine Person entsprechend verfügbar war, weil im Notfall hatte man noch eine andere Person."
Heute hat ein Kind, das in einer Kleinfamilie oder bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwächst, viel weniger Möglichkeiten.
Professor Manfred Cierpka leitet am Universität-Klinikum Heidelberg die Gebiete psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie und hat sich viele Jahre mit der Vorbeugung und verschiedenen Hilfen für Eltern und Kinder befasst. Deshalb sieht er in den Erbanlagen, dem Genom auch kein unabänderliches Schicksal:
"Den Genomsatz können wir nicht verändern, da kann man nichts machen. Aber die Umwelteinflüsse, da kann man eingreifen und kann dann auch helfen, dass die Verhältnisse so stabil sind, dass tatsächlich auch die Menschen entsprechend ihren Gegebenheiten, auch durch das Genom, gut heranwachsen können und sich gut entwickeln.
Die Gesellschaft könnte schädliche Einflüsse von werdenden Müttern fern halten und für Eltern Bedingungen schaffen, unter denen sie liebevoll und feinfühlig mit ihren Kindern umgehen können. Kurse und Hilfsangebote für Eltern und später in Kindergarten und Schule für das Kind könnten jene Mängel ausgleichen oder lindern, die wohl jeder Mensch irgend wann erleidet.
Auch als Erwachsener noch Hilfe finden
Auch wer als Erwachsener den Eindruck hat, dass in seinem Leben, vielleicht in früher Kindheit, etwas schief lief, der kann dann noch Hilfe finden. Ulrich Egle:
"Man kann mit gezielter Psychotherapie heute ganz viel tun, um diese ganze Stress-Thematik zu verändern. Man kann zum Beispiel diese besseren Konfliktbewältigungsstrategien für den Alltag kann man trainieren und aus schlechten, die einem sozusagen Kopfkino machen, wo alles nachwirkt, was wieder nicht gut gelaufen ist und was einen innerlich sehr absorbieren kann man Strategien entwickeln, wo genau das nicht mehr passiert."
Nur ist das dann meist wesentlich mühsamer und langsamer, als wenn man es in früher Kindheit gelernt hätte. Ulrich Egle sieht da noch viel Verbesserungsbedarf:
"Man könnte mit einem Fach - ins Unreine gesprochen - ‚Gesundheitserziehung' so in den Schulen ganz viel über diese neuen Erkenntnisse informieren, was da im Gehirn passiert, was gut ist, was nicht so gut ist. Man könnte sehr sehr viel Prävention durch frühe Information in den Schulen schon machen, dass zum Beispiel der Umgang mit kleinen Kindern - wenn die Betreffenden dann mal in dem Alter sind, wo das ansteht - dass der halt ein anderer ist. Und da muss man einfach sagen, da gibt es Schulen in England zum Beispiel, die machen das. Da wissen die Schüler tatsächlich, das und das ist wichtig und das sind die Zusammenhänge. Bei uns ist das völlige Fehlanzeige bisher."