Kate Maleike: Der Betreuungsschlüssel in deutschen Kindertagesstätten hat sich in den vergangenen Jahren verbessert, aber es gibt nicht genug Personal. Mit diesem Befund überschreibt die Bertelsmann Stiftung ihren heute veröffentlichten "Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme". Jedes Jahr werden dafür die Daten der Statistischen Landesämter und vom Bund zusammen ausgewertet, und Anette Stein ist für diesen Monitor verantwortlich. Ich grüße Sie, Frau Stein!
Anette Stein: Hallo, Frau Maleike!
Maleike: Wenn man sich jetzt den Monitor aus dem letzten Jahr anschaut, dann wird man feststellen – wir kommen ja gleich sicher noch auf die Ergebnisse –, dass viele Dinge ähnlich sind. Also, Baden-Württemberg ist das Land mit der besten Betreuungsrelation, es gibt ein starkes Ost-West-Gefälle, und wir brauchen dringend mehr Personal in den Kitas. Mal vorweg: Was hat sich aus Ihrer Sicht wirklich verändert?
Stein: Insgesamt kann man sagen, dass in vielen Bundesländern die Personalschlüssel verbessert wurden, und das ist schon erst mal anzuerkennen, denn es hat gleichzeitig ja auch weiter einen Ausbau an Plätzen stattgefunden. Trotz dieser Investition haben weiterhin allerdings die wenigsten Länder einen Personalschlüssel, den man kindgerecht nennen kann oder der gute Bildung und Betreuung für alle Kinder ermöglicht. Es gibt eben, wie Sie schon sagten, enorme Unterschiede zwischen den Bundesländern, und das heißt, dass Bildungschancen in Deutschland nach wie vor davon abhängig sind, wo die Kinder gerade wohnen.
Maleike: Kommen wir mal auf den Personalschlüssel: Wie hat der sich wirklich spürbar verbessert?
Stein: In den letzten drei Jahren wurde in dem Krippenbereich eine Verbesserung von 4,8 Kindern auf 4,3 Kinder pro Fachkraft erreicht, und im Kindergarten, bei den älteren Kindern ab 3, von 9,8 auf 9,3 Kinder. Das ist ein rechnerischer Personalschlüssel, muss man immer dazusagen. Das bedeutet in der tatsächlichen Alltagssituation, in der Kita ist das noch etwas schlechter, denn wir wissen, dass ungefähr mindestens ein Viertel der Arbeitszeit der Fachkräfte für andere Tätigkeiten benötigt wird, als die, die direkt mit dem Kind laufen.
Maleike: Also ist es eine rechnerische Verbesserung, aber es ist noch Luft nach oben, wenn man über eine wirkliche spürbare Verbesserung für die Kinder und natürlich auch für die Erzieherinnen und Erzieher nachdenkt?
Stein: Es ist eine deutliche Verbesserung, aber die reicht noch nicht aus, um von einem pädagogisch sinnvollen Betreuungsschlüssel zu sprechen, und da Bildungschancen sehr stark in den jungen Jahren davon abhängig sind, wie gut Kinder gefördert werden, empfehlen wir eben Personalschlüssel im Krippenbereich von 1 zu 3 und im Kindergartenbereich von 1 zu 7,5.
Für eine kindgerechte Betreuung würden 100.000 zusätzliche Fachkräfte benötigt
Maleike: Sie haben den Personalmangel da mit angesprochen, da habe Sie auch eine Zahl ermittelt. Wie groß ist die Lücke im Moment?
Stein: Wenn man den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung für einen kindgerechten Personalschlüssel folgen will, dann brauchen wir gut 100.000 zusätzliche Fachkräfte, und das würde knapp fünf Milliarden Euro kosten, ungefähr 30 Prozent mehr als das, was wir jetzt in dem Bereich ausgeben.
Maleike: Wer ist im Moment Spitzenreiter, was die Betreuung angeht, und wer macht das Schlusslicht?
Stein: Baden-Württemberg ist sowohl in der Krippe als auch im Kindergarten Spitzenreiter. Das Schlusslicht im Krippenbereich ist Sachsen, und im Kindergarten Mecklenburg-Vorpommern. Dort werden jeweils fast doppelt so viel Kinder betreut wie das in Baden-Württemberg der Fall ist.
Maleike: Also haben wir die Schere Ost-West auch jetzt noch.
Stein: Die Schere Ost-West haben wir weiterhin, und im Kindergarten muss man sagen, ist die Schere auch in den letzten Jahren zwischen den Bundesländern sogar noch weiter auseinandergegangen.
"Gute Kita bedeutet gute Bildungschancen"
Maleike: Sie haben die Bildungsgerechtigkeit, oder besser gesagt Ungerechtigkeit, schon angesprochen. Es gibt seit Jahren, muss man schon fast sagen, auch jetzt noch mal verstärkt die Forderung, ein Kitaqualitätsgesetz einzuführen, das sozusagen die Qualität in den Kindertagesstätten bundesweit regeln würde. Sozialverbände zum Beispiel fordern das. Was würde denn so ein Gesetz ändern können?
Stein: Gute Kita bedeutet gute Bildungschancen, und die dürfen ja nicht davon abhängig sein, wo ein Kind gerade lebt, also wo sein Wohnort ist, und die Veränderung über so ein Kitagesetz wäre, dass es eben unabhängig vom Wohnort einen Mindestqualitätsanspruch gibt, und gerade die Personalschlüssel wären da sehr entscheidend. Das heißt, wenn man so ein Gesetz hat und das dann auch in die Umsetzung bekommt, dann hätten irgendwann Kinder unabhängig davon, wo sie gerade leben, vergleichbar gute Rahmenbedingungen für gute Kitas.
Maleike: Welche Signale gibt es denn, dass so ein Gesetz wirklich kommen könnte, denn bislang sind die Regelungen ja Ländersache?
Stein: Es gibt schon seit geraumer Zeit Gespräche zwischen Bund und Ländern und auch den Trägern für ein solches Qualitätsgesetz. Im Herbst ist angekündigt, dass es einen ersten Zwischenbericht gibt. Die Gespräche werden ansonsten, sage ich mal, außerhalb der Öffentlichkeit geführt, und soweit wir das wissen, ist es schon so, dass bisher auch noch von Landesseite große Vorbehalte sind, dass der Bund nicht nur finanziell, sondern eben auch inhaltlich in den Bereich reinkommt. Gleichwohl gilt es auch heute schon, dass der Bund ja die Rahmengesetzgebung gibt. Also der Bund ist ohnehin schon in der Verantwortung beteiligt, aber ob es wirklich gelingt, zu einem gemeinsamen Gesetz, zu einer gemeinsamen Finanzierung für die Qualität zu kommen, das bleibt jetzt abzuwarten.
Flüchtlingskinder in Kitas
Maleike: Ich würde gern zum Schluss noch auf eine wichtige Veränderung zu sprechen kommen, die auch die Kitas in den letzten Monaten erreicht hat: Viele Flüchtlingskinder gehen in die Kitas, sollen in die Kitas, um dort eben auch Zugang zu anderen Kindern zu bekommen, Zugang auch zu ersten Bildungserfahrungen. Wie groß schätzen Sie diese Herausforderung im Moment ein?
Stein: Das ist eine große Herausforderung, die auf die Kitas hinzukommt. Ich glaube auch, dass das im Augenblick unterschätzt wird, weil es wird vor allen Dingen über Schule gesprochen. Dabei wissen wir aber, dass ja gerade die ersten Lebensjahre ganz entscheidend sind, sowohl für Bildung als auch für Integration. Was wir im Augenblick aber noch nicht wissen, ist, über wie viel Kinder reden wir eigentlich genau. Es gibt jetzt erste Schätzungen zwischen 44.000 und 58.000 zusätzlichen Plätzen, die man da braucht. Klar ist, dass die Kinder, die mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet sind, in jedem Fall auch so einen Personalschlüssel benötigen würden wie den, den wir im Augenblick fordern und den wir ja noch nicht in Deutschland haben. Vermutlich wird es aber auch zusätzliche Bedarfe geben, damit wir wirklich individuell auf die verschiedenen Herausforderungen dieser Kinder reagieren können. Das ist etwas, was zusätzlich noch zu den Anforderungen, die jetzt schon im Raum stehen, hinzukommt.
Maleike: Wer muss für Sie jetzt handeln?
Stein: Das ganze Thema, eine gute Qualität in Kita zu realisieren bundesweit, kann nur angegangen werden, wenn alle gemeinsam auch eine gemeinsame Kraftanstrengung laufen und eine gemeinsame Qualitätsoffensive, und das heißt, Bund, Länder, Kommunen, Träger und Eltern können das auch nur gemeinsam stemmen und müssen auch gemeinsam dieses Thema angehen.
Maleike: Anette Stein war das, Bildungsexpertin bei der Bertelsmann Stiftung, zur Lage der deutschen Kitas.
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