In kaum einem anderen Land wie in Deutschland ist es so schwer, ohne einen Schulabschluss einen Ausbildungsplatz zu bekommen oder einen Job zu finden. Dennoch ist die Anzahl derer, die die Schule ohne Abschluss abbrechen, relativ hoch: zuletzt waren das etwa zehn Prozent der 18- bis 25-Jährigen in Deutschland.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte dazu: „Eine der erschreckendsten Zahlen, die ich da gelesen habe, ist, dass die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss noch immer bei zehn Prozent liegt. Wir entlassen zehn Prozent der jungen Leute aus der Schule, ohne dass sie beruflich qualifiziert sind, das kann so nicht bleiben. Wenn wir über Fachkräftemangel reden, ist das die erste Aufgabe, die wir angehen müssen.“
Für diese Ankündigung gab es viel Zustimmung von den Kita-Verbänden. Diese argumentieren: Wer den Schulabbrechern von morgen helfen will, muss heute in die frühkindliche Bildung investieren. Anette Stein forscht bei der Bertelsmann Stiftung zu wirksamen Bildungsinvestitionen. Die Kita sei die erste Bildungsinstitution im Laufe einer Bildungskarriere und müsse daher gut ausgestattet sein. Dafür brauche es ausreichend qualifiziertes Personal sowie kindgerechte Personalschlüssel, sagte sie im Dlf.
Um dem Personalmangel zu begegnen müssten überdies die Rahmenbedingungen der Ausbildung und des Berufes "Erzieherin/Erzieher" attraktiver gemacht werden, hob Anette Stein hervor. Das „Gute-Kita-Gesetz“ habe zwar positive Auswirkungen gehabt, doch fehle die Vereinbarung auf gemeinsame Standards und gemeinsame Zielsetzungen sowie ein koordiniertes Vorgehen aller Bundesländer, so Stein.
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Stephanie Gebert: Stimmt denn diese Gleichung der Kita-Verbände, die meint, Bildungsbiografien starten in der Kita und deshalb muss dort zuerst vernünftig investiert werden?
Anette Stein: Also, was richtig ist, ist, dass die Kita natürlich die Grundlagen schafft auch für einen späteren, auch dann gegebenenfalls auch positiven Bildungsverlauf. Insofern ist die Kita die erste Bildungsinstitution, und es ist ganz wichtig, dass die gut ausgestattet ist, damit es auch später weiter gutgeht. Es reicht aber nicht aus, nur in gute Kitas zu investieren, weil das ist natürlich auch für die Schule dann eine entsprechende Herausforderung, auch dort muss es ausreichend Ressourcen geben, ausreichend Personal geben und vor allem gut qualifiziertes Personal. Was grundsätzlich bei all diesen Diskussionen auch mit zu bedenken ist, ist, dass Kinder ein Recht haben, auch heute, im Hier und Jetzt, gut aufwachsen zu können, insofern darf man auch nicht immer nur über die Zukunft reden, sondern man muss vor allen Dingen darüber reden, dass wir eine Kinderrechtskonvention haben. Und die gibt vor, dass sowohl in der Kita als auch in der Schule Kinder einen Rahmen vorfinden, mit dem sie gut aufwachsen können und wo sie Bildung erfahren.
„Brauchen ausreichend Qualifizierte für gute Kitas“
Gebert: Schauen wir mal explizit auf die Kitas. Sie haben gerade gesagt, es muss vernünftig investiert werden, das ist vielleicht auch das, was Herr Habeck da gerne versprechen würde. Das heißt, ausschließlich in Personal erst mal, wenn ich Ihrer letzten Erhebung glauben darf, die sagt nämlich, es fehlen bis ins Jahr 2030 etwa 230.000 Fachkräfte deutschlandweit.
Stein: Ohne Fachkräfte können wir keine gute Kita machen, das heißt, wir brauchen ausreichend in der Zahl, wir brauchen aber auch ausreichend Qualifizierte. Und gute Kita bedeutet, dass wir Personalschlüssel haben, die kindgerecht sind. Im Augenblick gibt es kaum ein Bundesland, das kindgerechte Personalschlüssel hat, und dafür brauchen wir eben mehr Personal, wir brauchen aber auch mehr Plätze weiterhin – und auch dafür fehlt es an Personal.
Gebert: Jetzt haben Sie in Ihrer Erhebung auch festgestellt, wie unterschiedlich da die 16 Bundesländer vorgehen. Welche Auswirkungen hat das denn ganz konkret für die Kinder, wenn es in dem einen Bundesland einen ganz anderen, kindgerechten Personalschlüssel gibt oder das anders ausgelegt als in einem anderen Bundesland?
Stein: Wir haben die Situation, dass wir im Augenblick in Deutschland keine gleichwertigen Lebensverhältnisse für Kinder haben. Die Bildungschancen sind davon abhängig, wo sie zufällig zur Welt kommen und wo ihr Wohnort ist. Das ist extrem ungerecht, das heißt, dass je nach Kita, je nach Region Kinder eben wirklich keine guten Rahmenbedingungen vorfinden. Es ist teilweise so, dass man sagen muss, die Personalschlüssel sind eigentlich schon Kindeswohl-gefährdend, denn bestenfalls kann da noch beaufsichtigt werden, Bildung ist in den meisten Fällen eigentlich gar nicht möglich mit diesem Personalschlüssel.
„Rahmenbedingungen für den Beruf attraktiver machen“
Gebert: Was wäre denn ein kindgerechter Personalschlüssel?
Stein: Bei Kindern unter drei Jahren wird rechnerisch ein Personalschlüssel von drei Kindern auf eine Fachkraft wissenschaftlich empfohlen. In der realen Situation, dass da mehr Kinder, weil ja nicht die Fachkraft immer da ist, die hat auch andere Aufgaben wie Fortbildung, aber eins zu drei ist der Schlüssel für die Krippe und eigentlich 7,5 rechnerisch für die Kinder ab drei, vier Jahre eigentlich.
Gebert: Jetzt sagen wir, wir brauchen mehr Personal, damit dieser Personalschlüssel, den Sie da gerade genannt haben, idealerweise erreicht werden kann. Heißt auch, wir müssen die Ausbildung attraktiver machen, den Versuch gab es ja schon, inzwischen müssen angehende Erzieherinnen und Erzieher nicht mehr bezahlen für ihre Ausbildung, aber das reicht ja offenbar nicht, weil nicht genügend Leute sich für die Ausbildung interessieren. Wovon werden die jungen Leute denn abgeschreckt?
Stein: Es ist so, dass tatsächlich sehr viele sich dafür interessieren, aber was sie am Ende dann davon abhält, sind eben diese Rahmenbedingungen. Das Schulgeld ist in großen Teilen jetzt abgeschafft, aber es gibt nach wie vor keine Ausbildungsvergütung in der Regel. Es gibt einzelne jetzt besondere Modelle oder Projekte, wo auch Auszubildende schon etwas verdienen, aber in der Regel verdient man nichts. Das ist eine drei- bis fünfjährige Ausbildung, das heißt, das überlegen sich junge Leute am Ende sehr gut, ob sie denn da reingehen. Das nächste ist aber auch, dass die Karrieremöglichkeiten in diesem Bereich nicht so gegeben sind, wie sie eigentlich sein müssten, damit Menschen auch in dem System bleiben. Wir verlieren nämlich auch viele, die anfangen in der Kita, die dann aber feststellen, sie können sich da eigentlich nicht weiterentwickeln, das heißt, dass die dann andere Karrierewege gehen, die dann auch auf Dauer Menschen im System halte und am Anfang aber auch so attraktiv machen.
„Gemeinsames und koordiniertes Vorgehen der Bundesländer“
Gebert: Also jede Menge Baustellen, die wir jetzt aufgemacht haben, viele Möglichkeiten, zu investieren – vielleicht von Seiten des Bundes. Das wurde ja auch schon versucht, etwa von Familienministerin Giffey mit ihrem Gute-Kita-Gesetz. Warum greift das nicht richtig?
Stein: Das Gesetz hat zwar positive Auswirkungen gehabt, aber es fehlte die Vereinbarung auf gemeinsame Standards und gemeinsame Zielsetzungen und ein Fokus beispielsweise auf das Problem des Personalmangels. Wenn wir aber kindgerechte Kitas und gleichwertige Lebensverhältnisse haben wollen, dann geht das nicht ohne zusätzliches und entsprechend ausgebildetes Personal – und das muss Priorität haben. Da müssen mehr Ausbildungskapazitäten geschaffen werden, es braucht mehr Lehrkräfte und auch die Arbeitsbedingungen müssen attraktiver werden. Und das ist nur überwindbar, wenn die Länder entsprechend die rechtlichen Voraussetzungen schaffen, und der Bund aber auch dauerhaft mitfinanziert. Dazu braucht es ein gemeinsames und koordiniertes Vorgehen, dann kann auch der Fachkräftebedarf in Zukunft gedeckt werden.
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