Archiv

Frühkindliche Bildung
"Qualität bleibt oft auf der Strecke"

120.000 zusätzliche Erzieherinnen sind nötig, um in den deutschen Kitas einen kindgerechten Personalschlüssel zu erreichen, das heißt ein angemessenes Verhältnis zwischen Kindern und Erzieherinnen. Das zeigt eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung. Kinder entwickelten sich nachweislich besser in Kitas mit gutem Personalschlüssel, sagte Anette Stein von der Stiftung im DLF.

Anette Stein im Gespräch mit Ulrike Burgwinkel | 25.07.2014
    Kinderspielzeug hängt an einem Rahmen. Im Hintergrund spielt eine Erzieherin mit zwei kleinen Kindern
    In Deutschland fehlt es an Erziehern. (dpa / Julian Stratenschulte)
    Ulrike Burgwinkel: Seit sechs Jahren stehen sie unter Beobachtung, die Kitas. Heute nun veröffentlicht die Bertelsmann-Stiftung ihren "Ländermonitor zu frühkindlichen Bildungssystemen". Anette Stein ist verantwortlich für den Bereich frühkindliche Bildung bei der Bertelsmann-Stiftung. Frau Stein, können Sie denn insgesamt ein Urteil abgeben über alle Bundesländer, so von den Ergebnissen her? Daumen rauf oder Daumen runter?
    Anette Stein: Daumen eher runter, vielleicht manchmal ein bisschen schräg, in einigen Fällen aber auch hoch. Also nicht ganz eindeutig. Aber insgesamt muss man sagen: Qualität bleibt in der frühkindlichen Bildung oft auf der Strecke. Die Personalschlüssel in den Kitas weichen erheblich von dem ab, zumindest in Teilen, von einem kindgerechten oder pädagogisch notwendigen Betreuungsverhältnis. Und zudem gibt es auch noch enorme regionale Unterschiede. Im Krippenbereich heißt das zum Beispiel: Spannbreiten von gut drei Kindern in dem einen Bundesland bis hin zu fast sieben kleinen Kindern, die in einem anderen Bundesland von einer Erzieherin betreut werden.
    Burgwinkel: Kann man da von einem Ost-West-Verhältnis reden, dass da große Unterschiede bestehen, oder ist es, wie sonst bei PISA-Studien üblich, ein Nord-Süd-Gefälle?
    Stein: Es ist tatsächlich ein Ost-West-Gefälle, von dem wir da sprechen können. Im Durchschnitt müssen in den östlichen Bundesländern Erzieherinnen deutlich mehr Kinder betreuen als in den westlichen Bundesländern. Aber es gibt eben insgesamt enorme Spannbreiten auch im Westen beispielsweise. Und es gibt auch in den östlichen Bundesländern oder ein östliches Bundesland, in Thüringen, das nähert sich vom Personalschlüssel an an die Personalschlüssel in Hamburg, die im Westvergleich an der letzten Stelle im Krippenbereich stehen.
    In Ostdeutschland gehen 80 Prozent der Einjährigen in die Kita
    Burgwinkel: Aber warum kann man das zurückführen? Schicken die Eltern im Westen einfach ihre Kinder nicht so häufig in die Kita, oder was ist der Grund dafür?
    Stein: Grundsätzlich muss man sagen: Wir haben in Deutschland 16 verschiedenen frühkindliche Bildungssystem, und die sind alle unterschiedlich historisch gewachsen. Das heißt, das Bild, das wir heute sehen, ist das Ergebnis von vielen Jahren Entwicklung, und die ist sehr unterschiedlich gelaufen. Wir haben zwar ein Bundesgesetz, das den Kita-Bereich regelt, aber da ist so gut wie nichts festgeschrieben, außer dass es einen Rechtsanspruch gibt auf eine Betreuung. Alles andere regeln die Bundesländer individuell, und das ist eben sehr unterschiedlich gewachsen. Es stimmt, dass in den östlichen Bundesländern die Tradition ja schon immer war, dass eigentlich alle in die Kita gehen, und das hat sich bis heute so gehalten. Allein die Einjährigen sind in den östlichen Bundesländern zu 80 Prozent in den Kitas. Das ist in keinem westlichen Bundesland. Das heißt dann auch, alle östlichen Bundesländer investieren bereits sehr viel Geld in diese Kita-Systeme, und trotzdem oder vielleicht auch deswegen haben sie aber eine schlechtere Qualität. Das hat sich aber, muss man sagen, historisch so ergeben.
    Burgwinkel: Jetzt haben Sie gesagt, Qualität – da habe ich ein bisschen Probleme mit, weil Sie ja eigentlich nur mit Zahlen arbeiten, mit diesem Betreuungsschlüssel. Das heißt ja nun nicht unbedingt, dass der Betreuungsschlüssel Auskunft gibt über die Qualität der frühkindlichen Bildung, oder?
    Stein: Doch, das heißt es schon. Gute Kita heißt gute Bildungschancen. Forschung belegt das inzwischen eindeutig, dass Kinder sich besser entwickeln können, wenn sie eine Kita mit guten Personalschlüsseln besuchen. Und das gilt für die Entwicklung von Sprache ebenso wie für kognitive Kompetenzen, aber auch soziale. Mit anderen Worten: Gute Kita heißt gute Bildungschancen. Und wir haben untersucht, wie die Unterschiede hier sind, und die sind regional enorm.
    Goldenes Dreieck der Kita-Qualität
    Burgwinkel: Die individuelle Leistung der einzelnen Erzieherinnen fällt dabei aber unter den Tisch.
    Stein: Richtig ist, dass die Personalschlüssel nur ein Qualitätsmerkmal von guter Kita sind. Die Kompetenz der einzelnen Erzieherinnen ist natürlich ganz entscheidend. Wir reden immer von so einem goldenen Dreieck in der Kita-Qualität: Das eine sind gute Personalschlüssel, das andere ist die Qualifikation der Erzieherinnen, und das Dritte ist die Gruppengröße, also wie viele Kinder sind in einer Gruppe. Alles drei wirkt auf Qualität ein, das ist richtig. Die Personalschlüssel, das ist aber inzwischen von vielen Forschungen und Untersuchungen belegt worden, sind ein ganz entscheidendes Qualitätsmerkmal. Insofern, auch wenn wir hier von quantitativen Zahlen erst mal reden, ist es ein Qualitätsmerkmal, das entscheidend ist.
    Burgwinkel: Und die Vorschläge zur Verbesserung der Situation insgesamt würden dann bedeuten, wir brauchen einfach mehr Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas?
    Stein: Das ist richtig. Wir haben mal durchgerechnet, was es an Erzieherinnen notwendig macht, wenn wir einen kindgerechten Personalschlüssel überall in Deutschland hätten. Dafür wären 120.000 zusätzlich Erzieherinnen notwendig. Das entspricht rund fünf Milliarden Euro. Im Vergleich dazu: Im Augenblick geben wir für Personal in dem Bereich 14 Milliarden aus.
    Burgwinkel: Und wie wären Ihre Vorschläge, was die Finanzierung angeht eines solchen Projektes?
    Stein: Was wir vorschlagen entspricht ja einem Anstieg von etwa einem Drittel der Personalkosten. Das ist eine gewaltige Kraftanstrengung, die sich aus unserer Sicht ganz klar lohnt. Aber das ist nur zu schaffen, wenn alle gemeinsam da die Verantwortung übernehmen. Und alle gemeinsam heißt, auch der Bund muss dauerhaft mit dazukommen, sodass Bund, Länder, Kommunen und Träger sich gemeinsam darüber verständigen, was Qualität heißt und gemeinsame Standards und auch eine gemeinsame Finanzierung sichern. Und das ist aus unserer Sicht nur mit einem Bundes-Kita-Gesetz möglich, in dem dann auch festgelegt wird, für welche einheitlichen Standards der Bund welche Unterstützung leistet.
    Programmtipp:
    Ein Jahr KrippenausbauSchwerpunktthema der Sendung "PISAplus" am Samstag, 26. Juli 2014, ab 14.05 Uhr im Deutschlandfunk