Das Restaurant im sechsten Stock meines Hotels ist ein beliebter Treffpunkt für die Istanbuler Nachtschwärmer, zwei- oder dreimal die Woche spielen hier einheimische Musikgruppen so laut, dass an Schlaf nicht zu denken ist. Aber der Blick über den Bosporus hinüber zum Stadtteil Üsküdar auf der asiatischen Seite entschädigt mich jeden Morgen für die entgangene Nachtruhe. Ich hole mir noch einen Tee, den ich mit heißem Wasser aus dem Samowar verdünne, dann packt mich die Unruhe. Ich will diese Stadt erkunden, die mich schon bei der Fahrt vom Flughafen ins Zentrum in ihren Bann gezogen hat.
Durch enge, steile Straßen laufe ich hinunter zum Fähranleger Kabatas. Hier endet die moderne Straßenbahnlinie, die den Verkehrsknotenpunkt Taksim mit der Altstadt am südlichen Ufer des Goldenen Horns verbindet.Der kalte Nordostwind vom Schwarzen Meer hat den Bosporus aufgewühlt, nur wenige Angler stehen an der Ufermauer, auf einem Wellenbrecher hält ein Kormoran seine Flügel zum Trocknen in die verschleierte Märzsonne. Ein russischer Frachter kämpft sich durch die starke Strömung südwärts in Richtung Marmarameer. Überall sind die "Vapur" unterwegs, die alten, gemütlichen Fähren, die die asiatischen Stadtteile Istanbuls mit den europäischen verbinden.
Der Funiküler, die Standseilbahn von Kabatas zum hochgelegenen Taksimplatz, ist um diese Zeit ziemlich leer. Aber auch die kleine Gruppe von Menschen, die sich in dem geräumigen Wagon verteilt, ist international gemischt. Deutsche Rucksacktouristen, elegante Istanbuler Geschäftsleute. Auf dem Sitz neben mir eine Anwältin, die ihre Unterlagen studiert, gegenüber ein spanisches Liebespaar. Und in der Mitte eine Gruppe von Schülern in blauen Uniformen. Drei Minuten später öffnen sich die Türen an der U-Bahnstation Taksim und ich folge einer immer dichter werdenden Menschenmenge über Treppen und Rolltreppen bis auf den zentralen Platz.
Am Eingang zur Istiklal Caddesi, der Straße der Unabhängigkeit, warten Schuhputzer auf ihre Kunden, Simitverkäufer bieten ihre sesambestreuten Brotkringel an, blasierte Polizisten sitzen in ihren Autos und bellen ab und zu ein paar Worte in vollkommen übersteuerte Lautsprecher. Was sie damit bewirken wollen, habe ich nie herausgefunden.
Ab Mittag ist die ehemalige Prachtstraße von Beyoglu voller Menschen und am frühen Abend gibt es hier kein Durchkommen mehr. Als der Staatsgründer Atatürk 1923 die Hauptstadt der jungen Republik von Istanbul nach Ankara verlegte, verlor das kosmopolitische Stadtviertel Beyoglu an Bedeutung und viele der Gründerzeitbauten an der ehemaligen "Grande Rue de Pera" verfielen. Erst die Umwandlung des Boulevards in eine Fußgängerzone und die Renovierung vieler alter Gebäude haben der "Istiklal", wie sie von den Istanbulern kurz genannt wird, in den letzten Jahren neues Leben verliehen.
Auf Höhe des französischen Gymnasiums Galatasaray wird die Menschenmenge etwas durchlässiger, der Musikteppich aus den Geschäften ebbt ab und auch die kämpferischen Gesänge einer Gruppe türkischer Feministinnen, die kurz hinter dem Taksim Platz ihre Stände aufgebaut hatten, werden leiser.
Vor einer Patisserie haben sich zwei Straßenhunde zusammengerollt und trocknen ihr Fell, misstrauisch beäugt von zwei Angestellten, die vor ihrem Geschäft eine Zigarette rauchen. Seit dem Herbst 2009 herrscht auch in Istanbul strenges Rauchverbot in allen öffentlichen Räumen. An kalten, regnerischen Tagen wie heute, fällt es manchem Istanbuler nicht leicht, seinem Laster zu frönen. Ich laufe bis zur türkisch-deutschen Buchhandlung von Thomas Mühlbauer, dessen Familie seit mehreren Generationen in Istanbul ansässig ist. Auf einem der Büchertische entdecke ich den kleinen Band von Joachim Satorius über die Prinzeninseln, der kurz vor meiner Abreise im Mare-Verlag erschienen ist.
Mit einer guten Lektüre im Rucksack schlendere ich weiter bis zum Tünel Platz, wo sich der Eingang zur alten Standseilbahn befindet, die 1875 feierlich durch Sultan Abdülaziz eingeweiht wurde. Konzipiert hat sie der französische Ingenieur Henri Gavand, um den Reisenden, die in Sirkeci, dem Endbahnhof des Orientexpress am südlichen Ufer des Goldenen Horns ankamen, eine schnelle Verbindung zu den europäischen Vierteln von Pera und Beyoglu zu ermöglichen.
Bis zu meiner Verabredung bleibt mir noch etwas Zeit - als ich die Tünel Bahn am Schiffsanleger Karaköy verlasse, kaufe ich mir einen Simit, einen Sesamkringel, und setze mich in eins der zahllosen Cafés direkt gegenüber der Galatabrücke. Gestern Abend habe ich hier schon gesessen und erfahren, dass der Besitzer Besir heißt. Er begrüßt mich auch jetzt freundlich und fragt, wie mein Aufenthalt in Istanbul verläuft. Als ich ihm sage, dass ich mit einer türkischen Kollegin im Großen Bazar zu Mittag essen werde, zwinkert er mir zu. "Du verlierst ja keine Zeit!" Ich bedanke mich für den Tee und lasse ihn im Glauben, dass ich ein ebenso großer Verführer bin wie er. Gestern hat er mir nämlich ausführlich von seinen Abenteuern mit liebeshungrigen ausländischen Touristinnen erzählt. Ich zünde mir eine Zigarette an, kreuze den Blick einer hungrigen Möwe, die mir suggerieren will, doch den Simit mit ihr zu teilen, und schlage das Buch von Satorius auf.
Es beginnt hier, genau an der Stelle, an der ich gerade sitze. Vor einem Café im Untergeschoss der Galatabrücke trifft der Autor den Penner Selçuk, der in den Wintermonaten eine Villa auf Büyük Ada, der größten der Prinzeninseln im Marmarameer hütet. Die beiden freunden sich an und Joachim Satorius beschließt, ein Projekt umzusetzen, das ihn seit seiner Zeit als Diplomat in der Türkei nicht mehr loslässt: Einige Zeit auf Büyük Ada zu verbringen, zu schreiben, zu träumen, zu flanieren, in der Kutsche – denn es gibt keine Autos auf den Inseln – durch die verfallenen Villenviertel zu fahren und vor allem, einzutauchen in die Reminiszenzen einer wahrhaft kosmopolitischen Epoche. Als ich auf die Tram warte, die mich über die Galatabrücke nach Sultanahmed bringen wird, dem Stadtviertel, wo sich neben der Hagia Sophia und der Blauen Moschee auch der Große Bazar von Istanbul befindet, reift in mir der Plan, am Nachmittag selbst einen Sprung auf die Prinzeninseln zu machen.
Mine Kirikkanat, der mehrfach der Titel "couragierteste Journalistin der Türkei" verliehen worden ist, nimmt auch in ihren Romanen, die sie neben ihrer täglichen Kolumne in der Zeitung "Vatan" schreibt, kein Blatt vor den Mund. Ihre Arbeit als Korrespondentin in Brüssel, Madrid und Paris hat sie mit Bereichen der europäischen Politik vertraut gemacht, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Wir sitzen auf der Terrasse des Restaurants "Havuzlu" im Großen Bazar und sprechen über das schwierige Verhältnis der EU zum Beitrittskandidaten Türkei. In ihrem Roman "La malédiction de Constantin - Konstantins Fluch" lässt Mine Kirikkanat ein Ereignis eintreten, dass alle Istanbuler fürchten und verdrängen: "The big one" - das große Erdbeben, das große Teile der 16 Millionen Metropole samt der Industrie im Umland in Schutt und Asche legt. Stunden später organisiert sich die internationale Hilfe und sehr schnell kommt es zu einem Machtkampf zwischen amerikanischen und europäischen Interessen. Die Europäer nutzen die Gunst der Stunde, um wieder die Kontrolle über eine Region zu erlangen, die über tausend Jahre lang die Ursprünge der europäischen Kultur bewahrt hat.
Ein großer Teil der türkischen Geschichte wird von den Europäern ignoriert: Ich nenne es das verborgene Erbe des Römischen Reiches. Als Constantin der Große im Jahr 325 die Stadt gründet, die später seinen Namen tragen wird, ist sie eine Nachbildung des antiken Roms. Mit einer ganz ähnlichen Architektur, mit allen antiken Göttern - hier im Gebiet von Sultanahmed fanden sich alle Statuen und alle Tempel, die es auch in Rom gab -, obwohl Constantin das Christentum als Staatsreligion gewählt hatte. Aber man weiß bis heute nicht genau, wie christlich Constantin wirklich war, seine Haltung ist sehr ambivalent und zeigt immer diese beiden Facetten - die christliche und die paganistische. Constantin glaubte, dass er unter dem Zeichen der Sonne stand, also dem Gott Apollo.
Dieses römische Erbe wurde jahrhundertelang ignoriert, weil die Europäer die Eroberung Konstantinopels durch die Türken nicht verwinden konnten. Aber diese Stadt hieß eigentlich Nova Roma - der ursprüngliche Name, den Constantin seiner Stadt gab, war Nova Roma, also das Neue Rom. Erst nach dem Tod des Stadtgründers, wurde der Name durch eine Senatsentscheidung in Konstantinopel umgewandelt.
Und Byzanz - das ist ein Wort, das es eigentlich nicht gibt! Dieses Wort ist die Erfindung eines Österreichers aus den 1800er Jahren - ich habe das genaue Datum in meinem Roman: Das Wort Byzanz taucht vorher in den geschriebenen Dokumenten nicht auf! Es gab also kein byzantinisches Reich, sondern ein oströmisches Reich. Und die Osmanen haben 1453 de facto die Nachfolge dessen angetreten, was vom Römischen Reich noch übrig war, und das war immerhin die Hälfte des einstigen Imperiums.
Das Restaurant "Deniz Yildizi" im Fährgebäude von Kadiköy hat etwas von einem alten Londoner Pub. Und die schmale Außenterrasse im ersten Stock erlaubt es, den Kapitänen der "Vapur" bei ihren Anlegemanövern quasi über die Schulter zu sehen. An der nördlichen Hafeneinfahrt steht der neoklassizistische Prachtbau des Bahnhofs Hayderpasha - ein Gastgeschenk des deutschen Kaisers Wilhelm II. an seinen Freund Sultan Albülhamid II. Der Bahnhof sollte eine wichtige Etappe der Ende des 19. Jahrhunderts geplanten Bahnlinie von Berlin nach Bagdad sein. Heute enden hier die Züge aus Ankara. Wenn man den Bahnhof verlässt, muss man nur ein paar Stufen zur Mole hinuntergehen, um eine Fähre zum europäischen Ufer zu finden - dorthin, wo 667 vor Christus Byzantion gegründet wurde. Kadiköy auf der asiatischen Seite des Bosporus hieß damals Kalzedon und war schon ein paar Jahre vor Byzanz von griechischen Siedlern errichtet worden. Vermutlich 2013 wird der alte Kopfbahnhof von Hayderpasha ausgedient haben; an der Stelle, wo Bosporus, Goldenes Horn und Marmarameer aufeinandertreffen, wird ein eineinhalb Kilometer langer unterseeischer Eisenbahntunnel die Kontinente miteinander verbinden. Gegen den geplanten Abriss des historischen Bahnhofs und den Bau eines Einkaufszentrums wehren sich viele Istanbuler Intellektuelle und Künstler, auch Mine Kirikkanat kritisiert in ihren Kolumnen immer wieder den verantwortungslosen Umgang der islamistischen Regierungspartei AKP mit dem europäischen Erbe der Türkei.
Eine Schiffssirene reißt mich aus meinen Betrachtungen. Ich bezahle meinen Drink und laufe schnell zur Fähre, die an der Mole vor dem "Deniz Yildizi" gerade festgemacht hat.
Die Fahrt mit Fähre von Kadiköy bis nach Büyükada, der größten der fünf bewohnten Prinzeninseln, dauert über eine Stunde, genug Zeit, um mit der Lektüre des Buches fortzufahren, das ich vor ein paar Stunden in der Istiklal Caddesi gekauft habe. Aber ich werde immer wieder abgelenkt. Schwärme von Möwen folgen dem Schiff und schnappen nach den Brotkrumen, die ihnen die Kinder zuwerfen. Auf der Bank gegenüber sitzt eine junge türkische Frau und betrachtet verliebt ihren Reisegefährten, den sie anscheinend gerade vom Flughafen abgeholt hat. Die beiden sprechen Englisch, der junge Mann ist wahrscheinlich Amerikaner. "Es ist das erste Mal, dass ich so früh im Jahr auf die Inseln fahre", sagt sie und ich denke mir, dass es wahrscheinlich auch das erste Mal ist, dass sie mit einem jungen Fremden diese kleine Flucht aus der lärmenden Großstadt unternimmt. In meinem Kopf wünsche ich den beiden Glück und vertiefe mich wieder in die Lektüre von Joachim Satorius.
Nachdem sich der Autor im alten Splendid Hotel eingemietet hat, beginnt er die Insel Büyükada, die von den Griechen immer noch Prinkipo genannt wird, zu erforschen. Schnell macht er Bekanntschaft mit den melancholischen und gleichsam lebensfrohen Menschen, die sich Abend für Abend in Ahmet Fistiks Taverne versammeln. Schriftsteller, Maler, Philosophen, alle sind sie Anhänger von Kemal Atatürks Vision einer modernen, säkularen Türkei; alle befürchten, dass die islamistischen Geschäftsleute, die heute die Türkei regieren, ihr kleines Paradies vor den Toren Istanbuls zerstören könnten.
Drei Tage nach seiner Ankunft besucht Joachim Satorius seinen Bekannten Selçuk von der Galatabrücke, der auf Büyük Ada die ehemalige Sommerresidenz des griechischen Unternehmers John Pascha hütet. Die prunkvolle Villa steht für die Blütezeit der Prinzeninseln in der Endphase des osmanischen Reiches, als sich reiche griechische, armenische und jüdische Geschäftsleute hier ihre Sommerresidenzen errichten ließen und der Klang der Tanzorchester von den Terrassen der Luxushotels über den Wassern des Marmarmeeres schwebte. Selçuk zeigt seinem Gast ein verfallenes Backsteingebäude auf dem Nachbargrundstück. Hier lebte Leon Trotzki von 1929 bis 1933 und schrieb an der Geschichte der Russischen Revolution. Aber der Archipel ist mehr, als nur ein Spiegel der Vergangenheit. Beim Besuch des griechischen Klosters Hagia Triada auf der Nachbarinsel Heybeli Ada entdeckt Joachim Satorius einen Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft zu einem neuen Raum verschmelzen.
"Der Weg führt zu einer großzügigen Terrasse vor der Kirche, und der Blick von dort aus erhebt den Geist und verleiht mir Flügel. Ich überblicke die Welt, Wasser und Inseln und Schiffe und Städte und Menschen und Asien und Europa in einem gewaltigen Panorama. Stille und Weite zerreißen die Augen. Hier ist wirklich der Balkon der Welt. Die Seelchen sind klein. Sie flattern in der Herrlichkeit der Welt. Mir ist, als fliege ich in Licht, in Luft, in Azur, einem kalten, glanzvollen Blau. Mir ist, als überfliege ich von hier die Erde und als warte hinter der leicht gekrümmten Linie des Horizonts ungeduldig eine weitere Welt, die wirkliche Welt."
Durch enge, steile Straßen laufe ich hinunter zum Fähranleger Kabatas. Hier endet die moderne Straßenbahnlinie, die den Verkehrsknotenpunkt Taksim mit der Altstadt am südlichen Ufer des Goldenen Horns verbindet.Der kalte Nordostwind vom Schwarzen Meer hat den Bosporus aufgewühlt, nur wenige Angler stehen an der Ufermauer, auf einem Wellenbrecher hält ein Kormoran seine Flügel zum Trocknen in die verschleierte Märzsonne. Ein russischer Frachter kämpft sich durch die starke Strömung südwärts in Richtung Marmarameer. Überall sind die "Vapur" unterwegs, die alten, gemütlichen Fähren, die die asiatischen Stadtteile Istanbuls mit den europäischen verbinden.
Der Funiküler, die Standseilbahn von Kabatas zum hochgelegenen Taksimplatz, ist um diese Zeit ziemlich leer. Aber auch die kleine Gruppe von Menschen, die sich in dem geräumigen Wagon verteilt, ist international gemischt. Deutsche Rucksacktouristen, elegante Istanbuler Geschäftsleute. Auf dem Sitz neben mir eine Anwältin, die ihre Unterlagen studiert, gegenüber ein spanisches Liebespaar. Und in der Mitte eine Gruppe von Schülern in blauen Uniformen. Drei Minuten später öffnen sich die Türen an der U-Bahnstation Taksim und ich folge einer immer dichter werdenden Menschenmenge über Treppen und Rolltreppen bis auf den zentralen Platz.
Am Eingang zur Istiklal Caddesi, der Straße der Unabhängigkeit, warten Schuhputzer auf ihre Kunden, Simitverkäufer bieten ihre sesambestreuten Brotkringel an, blasierte Polizisten sitzen in ihren Autos und bellen ab und zu ein paar Worte in vollkommen übersteuerte Lautsprecher. Was sie damit bewirken wollen, habe ich nie herausgefunden.
Ab Mittag ist die ehemalige Prachtstraße von Beyoglu voller Menschen und am frühen Abend gibt es hier kein Durchkommen mehr. Als der Staatsgründer Atatürk 1923 die Hauptstadt der jungen Republik von Istanbul nach Ankara verlegte, verlor das kosmopolitische Stadtviertel Beyoglu an Bedeutung und viele der Gründerzeitbauten an der ehemaligen "Grande Rue de Pera" verfielen. Erst die Umwandlung des Boulevards in eine Fußgängerzone und die Renovierung vieler alter Gebäude haben der "Istiklal", wie sie von den Istanbulern kurz genannt wird, in den letzten Jahren neues Leben verliehen.
Auf Höhe des französischen Gymnasiums Galatasaray wird die Menschenmenge etwas durchlässiger, der Musikteppich aus den Geschäften ebbt ab und auch die kämpferischen Gesänge einer Gruppe türkischer Feministinnen, die kurz hinter dem Taksim Platz ihre Stände aufgebaut hatten, werden leiser.
Vor einer Patisserie haben sich zwei Straßenhunde zusammengerollt und trocknen ihr Fell, misstrauisch beäugt von zwei Angestellten, die vor ihrem Geschäft eine Zigarette rauchen. Seit dem Herbst 2009 herrscht auch in Istanbul strenges Rauchverbot in allen öffentlichen Räumen. An kalten, regnerischen Tagen wie heute, fällt es manchem Istanbuler nicht leicht, seinem Laster zu frönen. Ich laufe bis zur türkisch-deutschen Buchhandlung von Thomas Mühlbauer, dessen Familie seit mehreren Generationen in Istanbul ansässig ist. Auf einem der Büchertische entdecke ich den kleinen Band von Joachim Satorius über die Prinzeninseln, der kurz vor meiner Abreise im Mare-Verlag erschienen ist.
Mit einer guten Lektüre im Rucksack schlendere ich weiter bis zum Tünel Platz, wo sich der Eingang zur alten Standseilbahn befindet, die 1875 feierlich durch Sultan Abdülaziz eingeweiht wurde. Konzipiert hat sie der französische Ingenieur Henri Gavand, um den Reisenden, die in Sirkeci, dem Endbahnhof des Orientexpress am südlichen Ufer des Goldenen Horns ankamen, eine schnelle Verbindung zu den europäischen Vierteln von Pera und Beyoglu zu ermöglichen.
Bis zu meiner Verabredung bleibt mir noch etwas Zeit - als ich die Tünel Bahn am Schiffsanleger Karaköy verlasse, kaufe ich mir einen Simit, einen Sesamkringel, und setze mich in eins der zahllosen Cafés direkt gegenüber der Galatabrücke. Gestern Abend habe ich hier schon gesessen und erfahren, dass der Besitzer Besir heißt. Er begrüßt mich auch jetzt freundlich und fragt, wie mein Aufenthalt in Istanbul verläuft. Als ich ihm sage, dass ich mit einer türkischen Kollegin im Großen Bazar zu Mittag essen werde, zwinkert er mir zu. "Du verlierst ja keine Zeit!" Ich bedanke mich für den Tee und lasse ihn im Glauben, dass ich ein ebenso großer Verführer bin wie er. Gestern hat er mir nämlich ausführlich von seinen Abenteuern mit liebeshungrigen ausländischen Touristinnen erzählt. Ich zünde mir eine Zigarette an, kreuze den Blick einer hungrigen Möwe, die mir suggerieren will, doch den Simit mit ihr zu teilen, und schlage das Buch von Satorius auf.
Es beginnt hier, genau an der Stelle, an der ich gerade sitze. Vor einem Café im Untergeschoss der Galatabrücke trifft der Autor den Penner Selçuk, der in den Wintermonaten eine Villa auf Büyük Ada, der größten der Prinzeninseln im Marmarameer hütet. Die beiden freunden sich an und Joachim Satorius beschließt, ein Projekt umzusetzen, das ihn seit seiner Zeit als Diplomat in der Türkei nicht mehr loslässt: Einige Zeit auf Büyük Ada zu verbringen, zu schreiben, zu träumen, zu flanieren, in der Kutsche – denn es gibt keine Autos auf den Inseln – durch die verfallenen Villenviertel zu fahren und vor allem, einzutauchen in die Reminiszenzen einer wahrhaft kosmopolitischen Epoche. Als ich auf die Tram warte, die mich über die Galatabrücke nach Sultanahmed bringen wird, dem Stadtviertel, wo sich neben der Hagia Sophia und der Blauen Moschee auch der Große Bazar von Istanbul befindet, reift in mir der Plan, am Nachmittag selbst einen Sprung auf die Prinzeninseln zu machen.
Mine Kirikkanat, der mehrfach der Titel "couragierteste Journalistin der Türkei" verliehen worden ist, nimmt auch in ihren Romanen, die sie neben ihrer täglichen Kolumne in der Zeitung "Vatan" schreibt, kein Blatt vor den Mund. Ihre Arbeit als Korrespondentin in Brüssel, Madrid und Paris hat sie mit Bereichen der europäischen Politik vertraut gemacht, die der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Wir sitzen auf der Terrasse des Restaurants "Havuzlu" im Großen Bazar und sprechen über das schwierige Verhältnis der EU zum Beitrittskandidaten Türkei. In ihrem Roman "La malédiction de Constantin - Konstantins Fluch" lässt Mine Kirikkanat ein Ereignis eintreten, dass alle Istanbuler fürchten und verdrängen: "The big one" - das große Erdbeben, das große Teile der 16 Millionen Metropole samt der Industrie im Umland in Schutt und Asche legt. Stunden später organisiert sich die internationale Hilfe und sehr schnell kommt es zu einem Machtkampf zwischen amerikanischen und europäischen Interessen. Die Europäer nutzen die Gunst der Stunde, um wieder die Kontrolle über eine Region zu erlangen, die über tausend Jahre lang die Ursprünge der europäischen Kultur bewahrt hat.
Ein großer Teil der türkischen Geschichte wird von den Europäern ignoriert: Ich nenne es das verborgene Erbe des Römischen Reiches. Als Constantin der Große im Jahr 325 die Stadt gründet, die später seinen Namen tragen wird, ist sie eine Nachbildung des antiken Roms. Mit einer ganz ähnlichen Architektur, mit allen antiken Göttern - hier im Gebiet von Sultanahmed fanden sich alle Statuen und alle Tempel, die es auch in Rom gab -, obwohl Constantin das Christentum als Staatsreligion gewählt hatte. Aber man weiß bis heute nicht genau, wie christlich Constantin wirklich war, seine Haltung ist sehr ambivalent und zeigt immer diese beiden Facetten - die christliche und die paganistische. Constantin glaubte, dass er unter dem Zeichen der Sonne stand, also dem Gott Apollo.
Dieses römische Erbe wurde jahrhundertelang ignoriert, weil die Europäer die Eroberung Konstantinopels durch die Türken nicht verwinden konnten. Aber diese Stadt hieß eigentlich Nova Roma - der ursprüngliche Name, den Constantin seiner Stadt gab, war Nova Roma, also das Neue Rom. Erst nach dem Tod des Stadtgründers, wurde der Name durch eine Senatsentscheidung in Konstantinopel umgewandelt.
Und Byzanz - das ist ein Wort, das es eigentlich nicht gibt! Dieses Wort ist die Erfindung eines Österreichers aus den 1800er Jahren - ich habe das genaue Datum in meinem Roman: Das Wort Byzanz taucht vorher in den geschriebenen Dokumenten nicht auf! Es gab also kein byzantinisches Reich, sondern ein oströmisches Reich. Und die Osmanen haben 1453 de facto die Nachfolge dessen angetreten, was vom Römischen Reich noch übrig war, und das war immerhin die Hälfte des einstigen Imperiums.
Das Restaurant "Deniz Yildizi" im Fährgebäude von Kadiköy hat etwas von einem alten Londoner Pub. Und die schmale Außenterrasse im ersten Stock erlaubt es, den Kapitänen der "Vapur" bei ihren Anlegemanövern quasi über die Schulter zu sehen. An der nördlichen Hafeneinfahrt steht der neoklassizistische Prachtbau des Bahnhofs Hayderpasha - ein Gastgeschenk des deutschen Kaisers Wilhelm II. an seinen Freund Sultan Albülhamid II. Der Bahnhof sollte eine wichtige Etappe der Ende des 19. Jahrhunderts geplanten Bahnlinie von Berlin nach Bagdad sein. Heute enden hier die Züge aus Ankara. Wenn man den Bahnhof verlässt, muss man nur ein paar Stufen zur Mole hinuntergehen, um eine Fähre zum europäischen Ufer zu finden - dorthin, wo 667 vor Christus Byzantion gegründet wurde. Kadiköy auf der asiatischen Seite des Bosporus hieß damals Kalzedon und war schon ein paar Jahre vor Byzanz von griechischen Siedlern errichtet worden. Vermutlich 2013 wird der alte Kopfbahnhof von Hayderpasha ausgedient haben; an der Stelle, wo Bosporus, Goldenes Horn und Marmarameer aufeinandertreffen, wird ein eineinhalb Kilometer langer unterseeischer Eisenbahntunnel die Kontinente miteinander verbinden. Gegen den geplanten Abriss des historischen Bahnhofs und den Bau eines Einkaufszentrums wehren sich viele Istanbuler Intellektuelle und Künstler, auch Mine Kirikkanat kritisiert in ihren Kolumnen immer wieder den verantwortungslosen Umgang der islamistischen Regierungspartei AKP mit dem europäischen Erbe der Türkei.
Eine Schiffssirene reißt mich aus meinen Betrachtungen. Ich bezahle meinen Drink und laufe schnell zur Fähre, die an der Mole vor dem "Deniz Yildizi" gerade festgemacht hat.
Die Fahrt mit Fähre von Kadiköy bis nach Büyükada, der größten der fünf bewohnten Prinzeninseln, dauert über eine Stunde, genug Zeit, um mit der Lektüre des Buches fortzufahren, das ich vor ein paar Stunden in der Istiklal Caddesi gekauft habe. Aber ich werde immer wieder abgelenkt. Schwärme von Möwen folgen dem Schiff und schnappen nach den Brotkrumen, die ihnen die Kinder zuwerfen. Auf der Bank gegenüber sitzt eine junge türkische Frau und betrachtet verliebt ihren Reisegefährten, den sie anscheinend gerade vom Flughafen abgeholt hat. Die beiden sprechen Englisch, der junge Mann ist wahrscheinlich Amerikaner. "Es ist das erste Mal, dass ich so früh im Jahr auf die Inseln fahre", sagt sie und ich denke mir, dass es wahrscheinlich auch das erste Mal ist, dass sie mit einem jungen Fremden diese kleine Flucht aus der lärmenden Großstadt unternimmt. In meinem Kopf wünsche ich den beiden Glück und vertiefe mich wieder in die Lektüre von Joachim Satorius.
Nachdem sich der Autor im alten Splendid Hotel eingemietet hat, beginnt er die Insel Büyükada, die von den Griechen immer noch Prinkipo genannt wird, zu erforschen. Schnell macht er Bekanntschaft mit den melancholischen und gleichsam lebensfrohen Menschen, die sich Abend für Abend in Ahmet Fistiks Taverne versammeln. Schriftsteller, Maler, Philosophen, alle sind sie Anhänger von Kemal Atatürks Vision einer modernen, säkularen Türkei; alle befürchten, dass die islamistischen Geschäftsleute, die heute die Türkei regieren, ihr kleines Paradies vor den Toren Istanbuls zerstören könnten.
Drei Tage nach seiner Ankunft besucht Joachim Satorius seinen Bekannten Selçuk von der Galatabrücke, der auf Büyük Ada die ehemalige Sommerresidenz des griechischen Unternehmers John Pascha hütet. Die prunkvolle Villa steht für die Blütezeit der Prinzeninseln in der Endphase des osmanischen Reiches, als sich reiche griechische, armenische und jüdische Geschäftsleute hier ihre Sommerresidenzen errichten ließen und der Klang der Tanzorchester von den Terrassen der Luxushotels über den Wassern des Marmarmeeres schwebte. Selçuk zeigt seinem Gast ein verfallenes Backsteingebäude auf dem Nachbargrundstück. Hier lebte Leon Trotzki von 1929 bis 1933 und schrieb an der Geschichte der Russischen Revolution. Aber der Archipel ist mehr, als nur ein Spiegel der Vergangenheit. Beim Besuch des griechischen Klosters Hagia Triada auf der Nachbarinsel Heybeli Ada entdeckt Joachim Satorius einen Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft zu einem neuen Raum verschmelzen.
"Der Weg führt zu einer großzügigen Terrasse vor der Kirche, und der Blick von dort aus erhebt den Geist und verleiht mir Flügel. Ich überblicke die Welt, Wasser und Inseln und Schiffe und Städte und Menschen und Asien und Europa in einem gewaltigen Panorama. Stille und Weite zerreißen die Augen. Hier ist wirklich der Balkon der Welt. Die Seelchen sind klein. Sie flattern in der Herrlichkeit der Welt. Mir ist, als fliege ich in Licht, in Luft, in Azur, einem kalten, glanzvollen Blau. Mir ist, als überfliege ich von hier die Erde und als warte hinter der leicht gekrümmten Linie des Horizonts ungeduldig eine weitere Welt, die wirkliche Welt."