Die Corona-Maßnahmen werden gelockert, aber nicht ohne Kontrolle. Bund und Länder haben sich auf einen Überwachungsmechanismus geeinigt, der aufzeigen soll, wann bei den Lockerungen der Corona-Maßnahmen die Notbremse gezogen werden muss.
Bei mehr als 50 COVID-19-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer kreisfreien Stadt oder einem Landkreis binnen sieben Tagen muss reagiert werden. Dann sollen konsequente Beschränkungen unter Einbeziehung der Landesbehörden erfolgen. Das heißt im Klartext: Die Verantwortung liegt bei den Städten und Landkreisen und hier auf den Schultern der insgesamt 375 Gesundheitsämter. Eine Übersicht über die Neuinfektionen pro Landkreis bietet das Robert Koch-Institut.
Dabei gibt es zwei Ansätze: Bei lokalisierten, klar eingrenzbaren Infektionsausbrüchen wie zum Beispiel einem schnellen Anstieg der Fälle in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern kann das Beschränkungskonzept laut Bundesregierung nur die betroffene Einrichtung umfassen. Bei verteilten Ausbrüchen des Coronavirus in den Regionen müssen allgemeine Beschränkungen wieder eingeführt werden, bis der Wert von 50 Neuinfektionen mindestens sieben Tage unterschritten wird.
Bei 50 handele es sich zunächst um eine Zahl, mit der die Politik arbeiten wolle,
sagte der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit
vom Bernhard-Nocht-Institut im Dlf. "Hier geht es insbesondere um die Belastung des Gesundheitssystems und um die Nachverfolgung der Fälle", so Schmidt-Chanasit. Man müsse schauen, wie das funktioniere, ob es zu Überlastungen komme. Das könne regional unterschiedlich sein, denn die Belastungsfähigkeiten der Gesundheitsämter schwanke regional.
RKI-Vizepräsident Lars Schaade erklärte in einer Pressekonferenz, dass er die 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner für eine pragmatische Grenze halte. "Das ist keinesfalls die Schwelle, ab der man erst aktiv werden soll – das muss man bei jedem einzelnen Fall." Einen klaren Grenzwert für Neuinfektionen könne niemand solide benennen, es sei letztendlich eine Einschätzungsfrage.
Thomas Karmasin, Landrat des Landkreises Fürstenfeldbruck in Bayern, sagte etwa im Dlf: "Jeder Grenzwert ist ein Stück weit willkürlich - warum darf man in der Stadt nur 50 fahren und nicht 55 oder 45? Irgendwann müssen Sie es mal festlegen. Bei uns wird es so vollzogen, dass das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit jeweils diese Landkreise prüft und schon unter dieser Schwelle von 50 - nämlich bei 35 - bei den Gesundheitsämtern anfragt." Er halte dies für ein sinnvolles Frühwarnsystem.
50 Neufinfektionen sei auch nur eine von mehreren Zahlen, die man im Blick habe, betonte Virologe Schmidt-Chanasit: "Wir schauen weiter auf die Reproduktions-Zahl, auf die Belegung der Intensivstationen und andere Faktoren, die in der Zukunft eine Rolle spielen könnten." Dazu zählten auch Medikamente oder eben ein Impfstoff.
Der Berliner Senat hat für die Hauptstadt ein Ampel-System entwickelt, das aus drei Indikatoren besteht: Reproduktionszahl, Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und die Auslastung und Kapazität der Intensivstationen. Diese Indikatoren sollen gemeinsam die epidemiologische Lage widerspiegeln.
Auch Bayern will bei einem lokalen Anstieg der Corona-Neuinfektionen frühzeitiger reagieren. Das Landeskabinett setzte am 19. Mai 2020 den Grenzwert auf 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen in einer Stadt oder einem Landkreis herab, wie Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) in München mitteilte. Das Frühwarnsystem sei ein probates Mittel, um lokale Ausbruchsgeschehen schnell zu erkennen.
Was sind die Kritikpunkte?
Tatsächlich ist die Zahl 50 stark umstritten. Die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärzte, Ute Teichert,
kritisierte in der Länderzeit des Dlf
: "Es ist gut, dass man einen Wert hat zur Orientierung, aber als Maßzahl für die Arbeit der Gesundheitsämter ist die Zahl 50 deutlich zu hoch. Das bedeutet einen ganz enormen Aufwand und ist auch mehr, als die Gesundheitsämter bisher geleistet haben. Da ist flächendeckend nicht das Personal da, um das zu halten."
Der Bundeskanzleramtschef Helge Braun hätte sich eine niedrigere Schwelle gewünscht, um die Notbremse bei den Corona-Lockerungen zu ziehen. Er habe für eine Obergrenze von 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner plädiert, so der CDU-Politiker bei Maybrit Illner. Wenn man das auf Städte wie Hamburg oder Berlin hochrechne, müsse dann die Feuerwehr kommen. "Denn dann brennt der Dachstuhl lichterloh."
Zum Vergleich: Der besonders betroffene Landkreis Traunstein in Bayern, der in Grenznähe zu Tirol in Österreich liegt, ist laut Landrat Siegfried Walch immer noch stark betroffen - aber die Zahl 50 erreiche der Kreis nicht. Man liege im Moment bei 30.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnte im Deutschlandfunk davor, dass die Landkreise und Städte mit der Bekämpfung des Coronavirus überfordert sein könnten. Auch sieht er die Gefahr, dass in manchen Kommunen nicht mehr getestet wird als nötig, um die Grenze nicht zu reißen. Das Prinzip bestrafe den Ehrlichen.
Ein weiteres Problem deutet sich bereits in der Praxis an. So zum Beispiel im Landkreis Greiz in Thüringen: Gemessen an den Neuinfektionen zählt der Landkreis zu den Corona-Hotspots in Deutschland. Die Zahl liegt deutlich über 50. Dennoch will die dortige Landrätin Martina Schweinsburg an den geplanten Lockerungen festhalten. Es mache keinen Sinn, alles zu verbieten, was wenige Kilometer weiter möglich sei, so die Politikerin.
Die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärzte, Ute Teichert, wies ebenfalls darauf hin, dass Menschen sich in Nachbarkommunen bewegen könnten, wenn in ihrem eigenen Gebiet alles abgesperrt werde. "Viren halten sich nicht an Grenzen. Und das wird dazu beitragen, dass die Viren weiterverteilt und weiterverbreitet werden. Die Aufgabe der Gesundheitsämter ist es dafür zu sorgen, dass sich die Krankheit nicht weiterverbreitet. Das ist unter diesen Umständen ausgesprochen schwierig."
Einen anderen Weg geht der Landkreis Coesfeld. Dort wurde bei Mitarbeitern zweier Schlachthöfe eine große Zahl von Corona-Infektionen festgestellt. In der Folge wurden dennoch im gesamten Kreis Coesfeld sämtliche Lockerungsmaßnahmen um eine Woche verschoben. Ausnahme: Kinder könnten auch in Coesfeld nach dem landesweit geltenden Stufenplan wieder in Kindergärten und Schulen gehen.
Die Bürgermeisterin von Witten, das 100.000 Einwohner hat, erklärte im Dlf, sie würde bei 50 Neuinfektionen in sieben Tagen sehr punktgenau schauen, wo die Infektionen aufgetreten sind - "vielleicht in einem Schlachthof oder in einem Altenheim? Per se alle in Haft zu nehmen, halte ich für problematisch", sagte Sonja Leidemann.