Berlin 1968. Im Zodiak Free Arts Lab, einem Underground-Club, beginnt es zu brodeln. Hier wird jeden Abend Musik gemacht. Wild und experimentell, auf bizarren Instrumenten, oft fünf bis sechs Stunden lang. Radikal, neu, provokativ, avantgardistisch. Unter den rebellischen Freigeistern Conrad Schnitzler, Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius:
"Es war sehr sehr spannend. Es kamen ja alle mit ihren Ideen. Alle wollten was einbringen, alle wollten sich selber einbringen, alle wollten dabei sein und zusehen, was da passiert. Die ganze Bewegung der Flower Power, die 68er, das waren ja alles Schritte in ein anderes Bewusstseinsstadium der Menschen. Und wir waren halt mittendrin und haben mitgeholfen, dass da irgendwas passiert. Dass wir uns selbst dort irgendwie finden konnten. Dass wir uns loslösten von unseren Eltern, aus der älteren Generation. Dass wir einfach Dinge machten, die undenkbar waren."
Von Tuten und Blasen keine Ahnung
Solche Klänge wie die der Gruppe Kluster, anfangs noch mit "K" geschrieben, hatte keiner je gehört. Krautrock sollten die Engländer bald, halb abschätzig, halb ehrfurchtsvoll, zu diesem Bastard von progressiver Musik sagen, der sich von allem nährte, was damals durch die Köpfe geisterte. Aber mit Rockmusik hatten Cluster nichts im Sinn. Als Duo schufen Hans-Joachim Roedelius und Dieter Möbius auf ihren ersten Alben Anfang der 1970er Jahre vielmehr eine neuartige Synthese zwischen Pop, Elektronik, Ernster Musik und Avantgarde:
"Wir hatten ja von Tuten und Blasen keine Ahnung. Ich habe mit einer selbstgebastelten Bambus-Flöte angefangen, mit einem Wecker, mit Rückkopplungen von der Anlage, die wir da uns anschaffen konnten. Es war einfach reines Experiment. Und von Synthesizern war weit und breit nix zu sehen. Wir haben dann mit Rückkopplungen gearbeitet. Einfach rumversucht, was können wir dem, was wir da zur Verfügung haben, entlocken und daraus eine relevante Tonkunst zaubern. Und das ist uns ja auch gelungen. Das war unser Ding."
Anfang der 1970er Jahre zogen sich die beiden Musiker von Cluster und ihre Familien auf einen Gutshof nach Forst im idyllischen Weserbergland zurück, so Hans-Joachim Roedelius:
Musik aus dem Paradies
"Forst war ein kleines Paradies. Weil ich da eben sozusagen direkt Kontakt mit dem Boden aufnehmen konnte. Weil ich dort einen Garten machen konnte, meine Wohnung mit den eigenen Händen herrichten, Wasserleitungen legen, Holz hacken, Heizen, Kochen, alles. Und das hat natürlich Ausdruck in der Musik gefunden und auch in den Titeln.
Auf den Alben "Zuckerzeit" und "Sowiesoso" von 1974 und ’76, die im paradiesischen Forst entstanden, klang die elektronische Musik von Cluster melodischer, wärmer, und sinnlicher als zuvor. Die verschachtelte Beat-Architektur, die harmonischen Fortschreitungen, der Charme und Humor waren bemerkenswert. Und begeisterten wohl auch den Briten Brian Eno. Mit ihm spielten Cluster im Weserbergland Mitte der 70er Jahre die wegweisenden Werke "Cluster & Eno" und "After The Heat" ein. Und da zeigte sich, dass nicht nur Brian Eno, angeblich alleiniger Erfinder der Ambient Music, seinen deutschen Kollegen einiges zu verdanken hat:
"Wir haben uns, glaube ich, gegenseitig befruchtet, und das als Klauen zu bezeichnen, find’ ich einfach übertrieben. Er ist ja nach unserer Zusammenarbeit in Forst, ist er ja zum Bowie gefahren und hat die "Low" und "Heroes" fertig gemacht in Lausanne. Und ich weiß nicht, ob da was von eingeflossen ist, von der Arbeit mit uns, die ja kurz vorher war. Später hat er dann U 2 gemacht und da wurde dann gesagt, es wäre ein bisschen was von uns dabei.
Cluster haben mit ihren eigenwilligen, bahnbrechenden Aufnahmen in den 70er Jahren spätere Strömungen wie Ambient Music, Industrial Music, Minimal Music, selbst Techno vorweggenommen. Und sogar in der elektronischen Popmusik der Gegenwart hallen sie nach. Hans-Joachim Roedelius, heute 81, führt Qluster, heute mit "Q" geschrieben, mit zwei weiteren Musikern fort. Auch im Sinne seines 2015 verstorbenen Komplizen Dieter Moebius, mit dem er eine wahrlich visionäre Klangwelt entworfen hat:
"Das Wichtige bei uns ist eben, wir haben immer aus dem Bauch heraus gearbeitet. Der Kopf hat Ordnung reingebracht in das, was der Bauch gemacht hat. Na klar. Aber wir sind unsere eigene Tonsprache. Wir haben eigentlich mit dem ganzen anderen Zeug nichts zu tun. Wir haben es frei gemacht, deswegen wird unsere Musik auch noch in 100 Jahren gehört werden."