Archiv


Führerscheintourismus nach Polen

Wer in Deutschland den Führerschein verliert, etwa wegen Trunkenheit am Steuer, muss zum so genannten Idiotentest, wenn er seine Fahrerlaubnis wiedererlangen will. Die Durchfallquote bei der "Medizinisch-Psychologischen Untersuchung" (MPU) ist hoch, im Jahr 2000 etwa lag sie bei über 40 Prozent. Mehr und mehr Deutsche gehen deshalb nach Polen, um dort innerhalb von wenigen Wochen einen EU-Führerschein zu erwerben. Victoria Eglau war in der polnischen Stadt Stettin, wo jeden Monat mehrere 100 Deutsche eine neue Fahrerlaubnis bekommen.

    In der Führerscheinbehörde von Stettin herrscht reger Betrieb. Führerschein-Anwärter stehen Schlange, um einen Termin für ihre Prüfung zu vereinbaren. An einer Wand hängt der Prüfungsplan für den nächsten Tag. Zwischen den vielen polnischen Namen fallen mehr als ein Dutzend deutsche auf.

    Draußen vor dem Gebäude wartet ein weißhaariger Herr aus Minden, er ist 57 Jahre alt und trägt ein Hemd mit Trachtenborte. Gerade ist seine Fahrstunde zu Ende gegangen - die vorletzte vor der Prüfung.
    "Sie kriegen die Fragebogen in Polnisch, und die Übersetzerin übersetzt ihnen das, und dann sagen Sie: A B C, genau wie bei uns in Deutschland, und die Schwierigkeitsgrade sind die gleichen."
    Mit dem Taxi geht es zur Fahrschule in der Stettiner Innenstadt, dort will der Fahrschüler aus Deutschland noch ein wenig Theorie pauken. Seit zwei Wochen wohnt er in der westpolnischen Stadt in einem Hotel, 30 Fahrstunden hat er bisher genommen. Mit dem Unterricht in der Fahrschule ist er zufrieden:

    "Die sprechen sehr gut Deutsch. Sie können sich hundertprozentig verständigen. Sie kommen gut klar, sehr gut."
    In der Fahrschule von Marcin Rzemien in der Stettiner Innenstadt setzt sich der Deutsche, der seinen Namen nicht nennen will, an den Computer und legt die CD mit den Übungsfragen ein. Die Theorie falle ihm schwerer als die Praxis, erzählt er. Auto gefahren ist er in Deutschland schließlich schon seit Jahrzehnten - bis er vor einem Jahr den Führerschein verlor.
    "Ich habe mich dafür entschieden, den Führerschein im Ausland zu machen, weil hier keine MPU verlangt wird. Man schreckt davor zurück, weil das ist eine Willkür der Behörde. Und Polen ist in der EU, und Sie erwerben eine Fahrerlaubnis nach dem EU-Recht. Und dann dürfen Sie in den ganzen europäischen Ländern mit diesem Führerschein fahren. Ich habe eine Fahrsperre bis zum 25. Oktober, darf selbstverständlich nicht vor dem 25. Oktober mit diesem Führerschein in Deutschland fahren. [MPU ist die Abkürzung für "medizinisch-psychologische Untersuchung", umgangssprachlich auch "Idiotentest" genannt.]"
    Der Mann aus Minden ist kein Einzelfall. Zehn bis fünfzehn deutsche Fahrschüler kämen jeden Monat zu ihm, erzählt Fahrschulbesitzer Marcin Rzemien. 200 bis 400 Deutsche werden allein in Stettin monatlich zur Führerscheinprüfung angemeldet. Fast allen wurde zuvor die Fahrerlaubnis entzogen, fast alle wollen die Medizinisch-Psychologische Untersuchung in Deutschland umgehen. Ein gutes Geschäft für die örtlichen Fahrschulen, gibt Marcin Rzemien zu. Er ist einer der zehn bis 20 Unternehmer, die sich auf Kunden aus dem Nachbarland eingestellt haben.
    "Haben wir gute Autos, gute Fahrlehrer, die spricht gut Deutsch. Stettin, das ist große Stadt, große Kreuzungen, und viele Deutsche nach der Prüfung haben mir gesagt: Prüfung zu bestehen hier in Stettin ist viel schwieriger als in Deutschland Prüfung bestehen."
    Den deutschen Behörden ist der Führerscheintourismus nach Polen oder Tschechien trotzdem ein Dorn im Auge. Doch sie haben bisher wenig Handhabe gegen die MPU-Flüchtlinge - es sei denn, diese fallen erneut durch ein Verkehrsdelikt auf. Denn der Europäische Gerichtshof urteilte im April 2004, Deutschland müsse bei seinen Bürgern Führerscheine aus anderen EU-Staaten anerkennen - und nur das ausstellende Land habe das Recht, sie wieder zu entziehen. Allerdings steht im EU-Recht, dass, wer im Ausland einen Führerschein erwerben will, dort zuvor 185 Tage seinen ordentlichen Wohnsitz gehabt haben muss. In Polen wurde diese Regelung bisher eher lax gehandhabt. Meist reichte die Anmeldung der Deutschen unter einer Hoteladresse und die Ausstellung einer so genannten Bürgerkarte.
    "Die kommen hierher, werden angemeldet, einmal in der Stadt, werden angemeldet zur europäischen Bürgerkarte. Die machen ihren Führerscheinkurs, wir fragen nach einem Examenstermin. Und dann kommen die zum Examen, legen das ab, und dann, ein paar Wochen später, wird der Führerschein ausgestellt."
    ... erläutert Georg Geltenpoth, der Deutschen den Führerschein-Aufenthalt in Stettin organisiert. 2000 Euro kostet das Paket inklusive aller Gebühren und Unterkunft. Nicht nur polnische Fahrschulen profitieren also vom Führerscheintourismus, sondern auch deutsche Vermittler. Seit Anfang September müssen allerdings auch die polnischen Behörden auf die Einhaltung der 185-Tage-Frist achten. Für sein Geschäft ändere sich dadurch nicht viel, glaubt Geltenpoth.
    "Bis jetzt nen Führerschein zu bekommen, hat auch schon mal mindestens drei Monate gedauert."

    Und jetzt dauere es eben ein gutes halbes Jahr. Ob sich die MPU-Flüchtlinge tatsächlich so lange in Stettin aufhielten, sagt der Vermittler, könne keiner überprüfen. Und:

    "Dass die 185 Tage hier am Stück sein müssen, das steht in keinem Gesetz drin."