Zum Besten stehe es nicht in der Bundeswehr, so Wüstner: Sie stelle sich als größter Sanierungsfall dar. So habe die Einsatzbereitschaft der Truppe den "tiefsten Punkt" erreicht. Parallel die IS-Terrormiliz bekämpfen und die Nato stärken - die größten aktuellen Herausforderungen laut dem Oberstleutnant -, "das geht mit dieser Bundeswehr nicht". Wüstner und sein Verband plädieren deshalb für eine Stärkung der Armee: "Der Haushalt muss enorm wachsen."
Die vor fünf Jahren (am 1. Juli 2011) beschlossene Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht müsse allerdings noch nicht wieder aufgehoben werden. Man müsse mit der Freiwilligen-Armee in der Lage sein, die Herausforderungen aufzunehmen - dabei aber auch grundsätzlich das Zurück zum alten Status quo im Blick behalten, so Wüstner.
Das Interview in voller Länge:
Bettina Klein: Heute vor genau fünf Jahren, am 30. Juni 2011, fand die Wehrpflicht in Deutschland ein Ende. Die damalige Entscheidung, vorbereitet noch vom früheren Minister Theodor zu Guttenberg, wird von seiner heutigen Nachfolgerin als gut und wichtig verteidigt. "Eine moderne Armee braucht qualifizierte Männer und Frauen, die sich freiwillig hochkomplexen Aufgaben stellen. So Ursula von der Leyen in ihrer Bilanz fünf Jahre danach.
Nicht alle sind so optimistisch. Die Zeiten haben sich unter anderem weltpolitisch geändert. Deutschland soll mehr Verantwortung übernehmen. Wie ist das mit dem augenblicklichen Zustand der Bundeswehr beispielsweise zu leisten? Ein Thema jetzt mit André Wüstner, Vorsitzender vom Bundeswehrverband. Schönen guten Morgen.
André Wüstner: Einen wunderschönen guten Morgen!
Klein: Herr Wüstner, Sie fordern bisher nicht die Wiedereinführung der Wehrpflicht wie manche. Steht also alles zum Besten?
Wüstner: Zum Besten steht es nicht, aber nichts desto trotz ist unsere Auffassung, dass die sicherheitspolitische Lage in Gänze momentan nicht gebietet, dass man sozusagen die Aussetzung der Wehrpflicht wieder aufhebt. Dafür ist es meiner Auffassung nach noch nicht an der Zeit.
Klein: Aber?
Wüstner: Aber man muss natürlich grundsätzlich erst mal immer wieder darauf achten, dass zur Sicherheitsvorsorge national wie im Bündnis auch die Option bestehen muss, diese notfalls aufzuheben. Aber was die aktuellen Anforderungen betrifft, beispielsweise an der NATO-Nordostflanke oder im Bereich des IS, muss man nach wie vor mit einer Freiwilligenarmee, so wie wir sie aufgestellt haben wollen - wir sind ja da noch auf einem weiten Weg - in der Lage sein, diese Herausforderungen anzunehmen.
"Art und Weise der Aussetzung mehr als unüberlegt und auch planlos"
Klein: Dann frage ich mal so: Wie ist denn Ihre Bilanz im Augenblick? Hat es sich gelohnt, diesen Schritt zu gehen? Ist die Bundeswehr weiterhin gut aufgestellt und waren wir alle gut beraten damit, die Wehrpflicht abzuschaffen?
Wüstner: Na ja. Damals - und das beschreiben wir auch heute noch - war diese Art und Weise der Aussetzung mehr als unüberlegt und auch planlos. Und natürlich hat es enorme Auswirkungen gehabt auf die Bundeswehr und hat es teilweise auch heute noch. Stichworte sind da Aufwuchsfähigkeiten, Rekonstitution. Da geht es darum, wieder schnell aufzuwachsen mit einem entsprechend durchdachten Reservistenwesen. Das hatte man nicht, hat man teilweise heute noch nicht. Aber auch andere Dinge, Personalgewinnung, Nachwuchsgewinnung. Die Bundeswehr musste mit Aussetzung der Wehrpflicht eine komplett neue, eigenständige Nachwuchs-Gewinnungsorganisation aus dem Boden stampfen. Da hat man sich schwergetan. Es ging aber noch, weil grundsätzlich politisch als Vorgabe vorhanden war Personalabbau, Reduzierung. Jetzt mit der Trendwende Personal, die Frau von der Leyen eingeleitet hat, sind wir praktisch vom Rückwärtsgang unmittelbar ohne Kupplung in den Vorwärtsgang geschaltet und müssen Vollgas geben, und das ist eine brutale Herausforderung. Nichts desto trotz: Man muss sie bewältigen.
Klein: Die Ministerin hat ja immer davon gesprochen, man muss die Bundeswehr jetzt fit machen als einen attraktiven Arbeitgeber. Wie weit sind Sie denn damit gekommen bisher?
Wüstner: Na ja, es ist so, dass sie tatsächlich Unmengen an neuen Feldern beschrieben hat, Stichwort Personalstrategie, Stichwort Attraktivität, was den Nachwuchs anbelangt. Was die Bestandssoldaten anbelangt, ist sie noch etwas hinterher, aber nichts desto trotz: Sie hat da viel getan. Dennoch bleibt es schwer, insbesondere nicht im Bereich Nachwuchs im Allgemeinen, denn die Bundeswehr hat kein Nachwuchsproblem, aber ein Fachkräfteproblem und bei diesen Fachkräften, IT-Spezialisten, Ingenieure, EloKA und vieles mehr, dort so attraktiv zu werden, dass wir tatsächlich unsere hohlen personellen Strukturen in diesem Bereich füllen können und tatsächlich in Konkurrenz gehen können mit der Wirtschaft, und das bleibt eine große Herausforderung.
Klein: Wie könnte denn das gelingen?
Wüstner: Indem man einerseits natürlich in diesen fachspezifischen Bereichen neue Fachlaufbahnen auf den Weg bringt, indem man gegebenenfalls Kooperationsmodelle mit der Wirtschaft - im Bereich Cyber- und Informationsraum will man das ja definitiv beschreiten - auf den Weg bringt. Das sind nur einzelne Beispiele und natürlich hängt es immer wieder wie in anderen Berufen auch an der Vergleichbarkeit, wenn es auch mit um die Vergütung geht.
"Der Haushalt muss enorm wachsen"
Klein: Dann schauen wir auf die Aufgabenfelder der Bundeswehr im Augenblick. Sie haben es ja angesprochen. Es gab auch das Signal, inzwischen auch vonseiten der Bundesregierung, es solle mehr Geld ausgegeben werden. Ist das nötig?
Wüstner: Es ist mehr als nötig. Die Bundeswehr ist der mittlerweile größte Sanierungsfall, den man sich vorstellen kann in der Bundeswehr. Deswegen spreche ich auch immer nicht von Aufrüstung oder solchen Dingen, sondern eigentlich geht es erst mal nur darum, diese Dinge, die momentan im Argen liegen, im Bereich Material, Personal, Infrastruktur, einfach erst mal wieder zu richten, um die Anforderungen, die heute die Politik mehr denn je an uns stellt, tatsächlich gewährleisten zu können, und dafür muss der Haushalt enorm aufwachsen.
Klein: Aber im Augenblick ist es ja eigentlich eher so: Es wird zwar gesagt, Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen, aber das sind ja eigentlich doch eher theoretische Überlegungen. Oder wo, sagen Sie, kann die Bundeswehr aktuellen Anforderungen tatsächlich nicht mehr gerecht werden?
Wüstner: Na ja. Es ist schon so, dass grundsätzlich wir am tiefsten Punkt sind, was Einsatzbereitschaft anbelangt, seit 1990. Zwar können wir problemlos, ich muss jetzt sagen nahezu problemlos, denn es ist natürlich vielfältig, was das Aufgabenspektrum anbelangt, bestimmte Einsätze in Mali, im Nordirak, nach wie vor in Afghanistan schultern. Aber wir sind auch in vielen Bereichen wirklich im roten Bereich, wenn ich nur mal die Marine oder Teile der Luftwaffe nenne. Nur es ist seit 1990 so: Bis 1990 war der Schwerpunkt Bündnisverteidigung. Seit 1990 kam so eine Art Trend zur out of area, vergleichbar Afghanistan. Und jetzt, seit Russland-Ukraine-Krise und IS, sprechen wir von einer Art grundlegenden sicherheitspolitischen Lage. Änderungen sollen auf einmal gemäß politischer Vorgabe und Übernahme von Verantwortung beides können, nämlich IS und der Kampf gegen den IS - Ertüchtigung ist da das Stichwort, auch in Afrika - und mehr NATO-Engagement, und das geht mit dieser Bundeswehr, wie sie unter de Maizière in die Reform gebracht wurde, auf keinen Fall und deswegen muss sie auch gestärkt werden.
"Ein Interesse da ist, diese Sicherheitsarchitektur, die gerade bröckelt, wieder instand zu setzen"
Klein: Unter dem Strich, Herr Wüstner, Sie haben es gerade angedeutet: Wenn dann das Signal kommt, mehr Geld soll ausgegeben werden, dann gibt es einen gesellschaftlichen Aufschrei. Deutschland rüstet auf! Ist das, was Sie sich wünschen würden, überhaupt durchsetzbar in Deutschland?
Wüstner: Ich gehe davon aus, es ist durchsetzbar, denn die Umfragen zeigen eindeutig. Wir haben ja zum ersten Mal, ich glaube, vor zwei Jahren war es, die erste Umfrage, die bekannt wurde. In der Geschichte des Deutschlandtrends war es so, dass selbst ein großer Teil der Gesellschaft, über 50 Prozent, sich wieder mehr Sicherheit, innere Sicherheit, aber auch äußere Sicherheit wünscht und dafür bereit ist, Mittel zur Verfügung zu stellen. Als der Eckwertebeschluss bekannt wurde mit einem Mehr an Mitteln für Verteidigungshaushalt, gab es überhaupt keinen Aufschrei, weder gesellschaftlich noch medial. Deswegen denke ich, dass der Gesellschaft mehr als dem einen oder anderen Politiker klar ist, dass innere und äußere Sicherheit schon Kern staatlichen Handelns sind und ein Interesse da ist, diese Sicherheitsarchitektur, die gerade bröckelt, wieder instand zu setzen.
Klein: … sagt André Wüstner, der Vorsitzende vom Bundeswehrverband. Heute vor fünf Jahren wurde die Wehrpflicht abgeschafft. Herr Wüstner, danke für Ihre Zeit heute Morgen!
Wüstner: Danke auch!
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