Archiv

Fünf Jahre nach Deepwater-Horizon-Explosion
Die langen Schatten des Öls

Es war der größte Ölunfall der Geschichte: Am 20. April 2010 explodierte die Bohrplattform Deepwater Horizon. Elf Arbeiter kamen ums Leben, 800 Millionen Liter Öl strömten in den Golf von Mexiko. Heute sind die Strände wieder weiß. Doch die Langzeitfolgen für Flora und Fauna bleiben nicht absehbar.

Von Monika Seynsche |
    Ein ölverschmierter toter Vogel liegt am Strand.
    Viele Tiere sterben durch die Ölpest durch Deepwater Horizon (BP) 2010. (imago/UPI Photo)
    "Ich war zuhause und sah die Nachrichten über das Feuer. Anfangs war ich einfach interessiert und dachte nicht, dass das außer Kontrolle geraten könnte, dass wir diese katastrophale Ölpest bekommen würden. Wir schauten immer weiter fern in den nächsten Tagen und langsam stieg der Horror in uns auf, als wir merkten, was dort in der Tiefsee vor sich ging, und dass sie es vielleicht nicht in den Griff bekommen würden."
    Dienstag 20. April 2010: Auf der Ölplattform Deepwater Horizon kommt es zu einer Explosion. Feuer bricht aus. 11 Arbeiter sterben. "Das Öl war überall. Die Vögel waren ölverschmiert. Man konnte ganz leicht erkennen, wo es überall Schaden anrichtete." 22. April 2010: Die Plattform versinkt im Meer. Unterwasserfahrzeuge sichten Öl, das in großen Mengen aus dem Wrack und dem Bohrloch austreten. "Wir wissen heute, dass mehr als neun Millionen Liter Öl pro Tag in den Golf von Mexiko strömten, und das 87 Tage lang."
    Die Sonne blitzt durch das Seegras und spiegelt sich auf dem glatten Wasser, das in kleinen Wellen an den Strand plätschert. Vögel stieben auf und verfolgen einen vorbeiziehenden Fischkutter. Einige Meter weiter haben Angler ihre Klappstühle aufgebaut und Ruten ausgeworfen. Es ist ein ruhiger Tag am Golf von Mexiko. Einer von denen, die John Marquez liebt. Er ist hier aufgewachsen, mitten zwischen Meer und Fischen: "Wir sind hier an der Küste Mississippis gesegnet mit einer Vielzahl verschiedener Fischarten. Direkt vor der Küste fangen wir gefleckte Meerforellen, Flundern und Rote Trommler. Weiter draußen sind es dann eher Nördliche Schnapper, Zackenbarsche, Cobias, Makrelen und Thunfische. Also eine ganz schöne Auswahl."
    Der hochgewachsene Mann mit dem weißen Hemd ist Vorsitzender der Coastal Conservation Association in Mississippi, einer Vereinigung von Sportfischern. Er steht auf einem Steg, etwas abseits des Hafens von Pascagoula. Hinter ihm ragen die Masten der großen Fischfangflotte in den Himmel. Alles hier wirkt, als wäre nie etwas geschehen. Als hätte es den größten Ölunfall der Geschichte nie gegeben. Marquez: "Direkt nach dem Ölunfall hatten wir einige sehr gute Fangjahre. Es ist schwer zu sagen, wie das kam. Die Fischerei war 2010 ja komplett eingestellt worden. Es gab also keinen Jagddruck auf die Populationen. Wir dachten, vielleicht gab es deshalb in den folgenden Jahren mehr Fische.
    2.000 Kilometer Küste ölverschmiert
    Fast 2.000 Kilometer Küstenlinie waren im Sommer 2010 ölverschmiert. Auf dem Ozean trieb monatelang ein Ölteppich von der anderthalbfachen Größe des Saarlands. Hunderttausende von Vögeln und Fischen starben, hunderte von Meeressäugern, unzählige Krabben, Garnelen, Insekten und Kleinstlebewesen. Und dann war der Spuk plötzlich vorbei. Innerhalb kürzester Zeit verschwand das Öl fast komplett von der Bildfläche. Fischer Marquez: "Aber das vergangene Jahr 2014 war eines der schlechtesten Fangjahre für gefleckte Meerforellen und das schlechteste Krabbenjahr seit fast 50 Jahren. Nun sind wir sehr beunruhigt. Sind das Folgen des Ölunfalls, die jetzt erst auftreten? Wir beobachten die Umwelt sehr genau und hoffen, dass es einfach nur Zufall ist, oder eine saisonale Erscheinung und nicht etwas viel Katastrophaleres, das vom Ölunfall kommt."
    29. April 2010: Der Bundesstaat Louisiana ruft den Notstand aus.
    Einen Tag später wird in Venice das erste Öl angespült. Die Suche nach den Folgen des Öls führt ins Labor von Frank Hernandez. Der kräftige Mann Mitte 40 mit schwarzem Haar und grauem Bart betritt einen fensterlosen, hell erleuchteten Raum, an dessen Wänden sich weiße Arbeitstische und Regale entlangziehen. Vergilbte Poster an den Wänden zeigen bunt schillernde Fische. Rechts und links der Mikroskope schwimmen kleine Fischleichen in formaldehydgefüllten Einmachgläsern. Eines von ihnen öffnet Frank Hernandez, greift mit einer Pinzette hinein und legt ein Tier unters Mikroskop: "Hier neben mir ist ein Monitor, der über ein Kamerasystem mit dem Mikroskop verbunden ist. Wir sehen jetzt die Larve eines Nördlichen Schnappers. Ich habe mein Zentimetermaß nicht da, aber grob geschätzt ist diese hier etwa 8 mm lang."
    Frank Hernandez vermisst die Larven, untersucht ihr Alter, ihren Mageninhalt und ihr Gewicht. Im Golfküstenforschungslabor der Universität von Süd-Mississippi in Ocean Springs hat er sich auf die frühen Entwicklungsphasen der Fische spezialisiert, auf die Zeit also, in denen die Tiere als Eier oder Larven herumschwimmen und Öl und anderen Umwelteinflüssen gegenüber besonders empfindlich sind: "Der Nördliche Schnapper ist einer unserer wichtigsten Fangfische im nördlichen Golf von Mexiko, sowohl für die kommerzielle als auch für die Sportfischerei. Er bewohnt Felsenriffe und ist eine Art, um die sich viele Menschen hier Sorgen machen."
    Flossenfäule und Geschwüre auf der Haut
    Der Ölunfall passierte während der Laichsaison des Nördlichen Schnappers. Ein Jahr nach dem Ölunfall, im Sommer 2011, entdeckten Forscher zahlreiche Nördliche Schnapper mit Flossenfäule, Geschwüren auf der Haut, krankhaft veränderten Lebern und anderen Missbildungen. Vielleicht waren das nur Einzelfunde, vielleicht aber auch erste Hinweise darauf, dass mit der gesamten Art etwas nicht stimmt. Hernandez: "Noch ist die Sache nicht entschieden. Es gibt erste Bestandsabschätzungen der Nationalen Behörde für Ozean- und Atmosphärenforschung, der NOAA, die daraufhin deuten, dass aus den Jahren 2010 und 2011 extrem wenige Nördliche Schnapper überlebt haben. Andere Forscher kommen mit anderen Methoden wiederum zu dem Schluss, dass diese beiden Jahre nicht ungewöhnlich waren."
    2. Mai 2010: Die mobile Bohrinsel Development Driller III der Firma Transocean beginnt mit der ersten Entlastungsbohrung.
    Öl ist akut toxisch. Es kann die Zellen schädigen und Mutationen hervorrufen. Gleichzeitig ist es ist aber auch ein natürlicher Bestandteil der Umwelt und stellt eine Nahrungsquelle für zahlreiche Mikroorganismen dar, die wiederum von den kleinsten Tieren im Meer, dem Zooplankton gefressen werden. Möglicherweise gelangte das Öl so in die Nahrungskette. Welche Auswirkungen das auf das gesamte Ökosystem hat, sei völlig unklar, sagt Frank Hernandez' Kollegin Ruth Carmichael vom Meeresforschungslabor auf Dauphin Island vor der Küste Alabamas: "Wir haben diesen gigantischen Berg organischen Materials, der möglicherweise von zig verschiedenen Kreaturen konsumiert wird. Und wir haben keine Ahnung was das bedeutet. Verschiebt sich dadurch das gesamte Nahrungsnetz, die Frage, wer wen frisst, und welche Organismen das Netz dominieren? Vielleicht werden wir solche Veränderungen im Beziehungsgeflecht der Arten in Zukunft sehen, die nichts mit der direkten Sterblichkeit durch das Gift zu tun haben."
    In den Golf von Mexiko mündet der größte Fluss Nordamerikas. Über Jahrmillionen hat sich das Delta des Mississippi in den Ozean hinausgeschoben und dabei immer wieder seinen Lauf verändert. Entstanden ist ein Geflecht schmaler Wasserwege zwischen unzähligen Inselchen: das Marschland an der Küste Louisianas. Auf einigen dieser Inseln wachsen Büsche und Bäume, andere bestehen nur aus Schlickgras und geben bei der geringsten Belastung nach. In der fast unzugänglichen Landschaft liegt die Kinderstube der allermeisten Fische, Krabben und der anderen Tiere im Golf von Mexiko. Sie finden in den Buchten und im Wurzelgeflecht des Schlickgrases Nahrung und Schutz vor Fressfeinden.
    Dispergatoren zersetzen Ölteppich
    Um dieses Ökosystem zu schützen, wurden zum ersten Mal in der Geschichte im großen Maßstab Dispergatoren eingesetzt, erzählt der Ölforscher Ed Overton von der Louisiana State University in Baton Rouge. Fast 7 Millionen Liter. Overton: "So ein Dispergator zersetzt den Ölteppich auf der Wasseroberfläche und lässt das Öl durch die Wassersäule nach unten sinken. Tiere, die unter Wasser leben, geraten dadurch in Kontakt mit dem Öl und das ist schlecht. Wenn man aber keine Dispergatoren einsetzt, gelangt sehr viel mehr Öl an die Küste, in die kaum zu reinigenden, hochsensiblen Ökosysteme der Marschen. Man musste also eine sehr schwierige Entscheidung treffen: Richten Sie Schaden im tiefen Wasser weit von der Küste entfernt an oder lassen Sie das Öl undispergiert zur Küste treiben? Die meisten Menschen denken, dass es das kleinere von zwei Übeln war, das Öl weit von der Küste entfernt zu dispergieren. Dort verdünnt es sich sehr schnell und gelangt in die Tiefsee, in der weniger biologische Aktivität ist als in den Küstengewässern."
    Durch die Dispergatoren gelangte nur ein kleiner Teil des Öls an die Strände und in die Küstenmarschen. Die große Frage aber war: Wie würden sich die Dispergatoren auf die Umwelt auswirken? Forscherin Carmichael: "Das große Problem mit den Dispergatoren ist meiner Ansicht nach, dass wir sie einfach nicht verstehen. Wir wissen bis heute nicht, was sie mit Organismen machen, die in Kontakt damit geraten. Das gilt schon, wenn man die Dispergatoren allein anschaut. Sobald sie mit Öl vermischt werden, entstehen ganz neue Chemikalien und deren Zusammensetzung hängt wiederum davon ab, ob das Öl noch frisch ist, oder schon verwittert. Von all diesen Dingen haben wir keine Ahnung. Und dann wissen wir auch nicht, wie dieses Öl-Dispergatorengemisch in unseren speziellen Gewässern reagiert, in die durch den Mississippi viel mehr Süßwasser gelangt als normal im Ozean ist."
    6. Mai 2010: Eine fast 100 Tonnen schwere Metallglocke wird ins Wasser gelassen. Sie soll über das Bohrloch gestülpt, das darin gefangene Öl abgepumpt werden. Der Versuch scheitert.
    In den Küstenmarschen des Mississippi-Deltas stecken heute nur noch winzige Reste des Öls tief im Boden. Darüber wiegt sich grünes Schlickgras im Wind, Krabben buddeln sich in die schlammigen Böden und Vögel tauchen ins Wasser, auf der Suche nach Fischen. Gestört wird die Idylle nur durch Bohrgestänge, das an vielen Stellen aus dem Wasser ragt. Im Untergrund des Flussdeltas haben sich über Jahrmillionen große Öllagerstätten gebildet. Überall werden sie von kleinen und kleinsten Bohrfirmen angezapft. Die meisten dieser Konstruktionen sehen abenteuerlich zusammengeflickt aus und ragen kaum einen Meter über die Wasseroberfläche. An vielen Stellen sind die Rohre und Pipelines rostüberzogen. Kleinere Ölunfälle seien hier an der Tagesordnung, erzählt der Fischer John Marquez.
    Reinigungsarbeiter befreien Küste von Öl
    An den Golf von Mexiko grenzen drei der ärmsten Bundesstaaten der USA. Louisiana, Alabama und Mississippi. Gerade in den Küstenregionen bieten die Ölindustrie und die Fischerei oft die einzigen Arbeitsplätze. Durch die Ölpest verloren zehntausende ihren Job. Viele von ihnen wurden in den Wochen und Monaten danach von BP eingestellt, um Strände und Küsten vom Öl zu befreien. Eine Knochenarbeit mit enormen gesundheitlichen Risiken. Dale Sandler: "Ich bin Dale Sander, die Forschungsleiterin einer Studie namens GULF Study, oder Gulf Longterm Follow Up Study. Wir untersuchen die möglichen Gesundheitsauswirkungen des Ölunfalls im Golf von Mexiko auf die Reinigungsarbeiter."
    Die Medizinerin des Nationalen Instituts für Umweltmedizin der USA hat 32.000 Menschen nach ihren Aufgaben während der Ölpest, nach ihrer Beschäftigungssituation und ihrem Gesundheitszustand befragt. Direkt nach dem Ölunfall und dann wiederholt in den Jahren darauf. Sandler: "Unsere Daten deuten darauf hin, dass diejenigen, die an den Aufräumarbeiten beteiligt waren und auch jene, die an den betroffenen Küsten wohnten, öfter über eine ganze Reihe von Symptomen klagten, etwa über Husten, pfeifende Atemgeräusche, Schwindel und Übelkeit. Und das über Jahre hinweg. Aber wir wissen noch nicht, ob diese Symptome durch das Öl selbst ausgelöst wurden, durch die Lebensbedingungen in den Gemeinden oder durch die traumatische Erfahrung des Ölunfalls."
    Viele Arbeitslose, schlechte Gesundheitsversorgung
    Die meisten der Arbeiter stammten aus den von hohen Arbeitslosenquoten und einer schlechten Gesundheitsversorgung gezeichneten Gemeinden an der Nordküste des Golfs von Mexiko. Sandler: "Von früheren Ölunfällen und auch von laufenden Studien in den betroffenen Gemeinden wissen wir, dass Angst und Depressionen in Zeiten von Ölunfällen oft zunehmen und es Anzeichen von postraumatischen Belastungsstörungen gibt. Die Ölpest hautnah mitzuerleben, und gegen das Öl an den Stränden anzukämpfen - das alles ist sehr aufreibend. Genauso wie seine Arbeit zu verlieren, und nicht zu wissen, wie es weitergeht, ob und wann man wieder fischen kann und wie man sein Leben finanzieren soll. All diese Aspekte könnten die Depression erklären, die wir sehen."
    Noch sind Dale Sandlers Ergebnisse bruchstückhaft. Einige der Reinigungsarbeiter weigern sich, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie verklagen BP zurzeit auf Schadensersatz und ihre Anwälte sind in Sorge, dass die Ärzte chronische Krankheiten bei ihnen entdecken könnten, die nichts mit dem Öl zu tun haben, und damit ihren Fall schwächen könnten. Seit Februar 2013 wird vor dem Bundesbezirksgericht in New Orleans der Zivilprozess gegen BP verhandelt. Von Justizexperten wird es als komplexestes Gerichtsverfahren der modernen Geschichte bezeichnet. Die Vereinigten Staaten von Amerika und zahlreiche Privatpersonen verklagen BP, Transocean, Haliburton und andere am Ölunfall beteiligte Unternehmen auf über 14 Milliarden US-Dollar Schadenersatz. Ein Urteil wird frühestens im Mai 2015 erwartet. Daneben stehen noch zahlreiche Zivilklagen von Einzelpersonen gegen BP aus sowie ein weiteres Bundesverfahren. Aufgrund dieser Prozesse sind viele Studienergebnisse zu den Auswirkungen des Ölunfalls bis heute unter Verschluss. Die im Rahmen des sogenannten Natural Resource Damage Assessments oder kurz NRDA gesammelten Untersuchungen sollen als Beweismittel vor Gericht verwendet werden, sagt Ryan Fikes von der National Wildlife Federation: "Das ist ein Verfahren, bei dem US-Bundesbehörden Untersuchungen, Studien und anderes Beweismaterial für ein späteres Gerichtsverfahren des Bundes gegen die Verursacher des Ölunfalls sammeln. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen jetzt schon zu veröffentlichen könnte nach Ansicht der US-Regierung den Ausgang des Gerichtsverfahren beeinflussen und eine Verurteilung gefährden. Denn die Verursacher arbeiten natürlich mit eigenen Wissenschaftlern und eigenen Abschätzungen an ihrer Verteidigung, um die Argumente der Ankläger zu entkräften."
    Geheimniskrämerei der Behörden
    Der Biologe Ryan Fikes arbeitet am Zentrum für Küstenforschung der Texas A&M University in Corpus Christi und wertet für die Umweltschutzorganisation National Wildlife Federation sämtliche wissenschaftliche Studien zu den Auswirkungen des Ölunfalls im Golf von Mexiko aus und fasst sie einmal jährlich in einem Report zusammen. Die Geheimniskrämerei der Behörden behindert seine Arbeit, auch wenn er sie in Maßen nachvollziehen kann: "Wir können uns natürlich hinsetzen und sagen, diese Forschung wird von der Bundesregierung durchgeführt, also sollten ihre Ergebnisse auch öffentlich verfügbar sein. Aber gleichzeitig ist mir klar, wie wichtig die sensible Nutzung dieser Informationen ist, um sicherzustellen, dass die Schuldigen verantwortlich gemacht werden können."
    15. Mai 2010: Die Küstenwache und die amerikanische Umweltbehörde genehmigen den Unterwasser-Einsatz von Dispergatoren an der Quelle des Öllecks auf dem Meeresboden.
    Zu den wenigen Arten, über die es zumindest schon einige veröffentlichte Daten gibt, gehört der Blauflossen-Thunfisch. Eine Art von enormer wirtschaftlicher Bedeutung für die Fischer der Region. Gleichzeitig steht er auf der Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation als möglicherweise vom Aussterben bedrohte Art. Fikes: "Die Deepwater Horizon Ölplattform explodierte genau zu Beginn der Brutsaison der Blauflossen-Thunfische im nördlichen Golf von Mexiko. Die Laichgebiete waren zum Teil ölbedeckt, so dass die Larven dort sehr wahrscheinlich in Kontakt mit Polyzyklischen Aromatischen Kohlenwasserstoffen und anderen toxischen Verbindungen kamen. Die Schätzungen, wieviele Thunfischlarven dem Öl ausgesetzt waren, variieren zwischen zwölf und 20 Prozent. Gleichzeitig haben Laborstudien gezeigt, dass Bestandteile aus dem Deepwater Horizon Öl die Herzzellen von jungen Blauflossenthunfischen angreifen und unregelmäßigen Herzschlag sowie Herzinfarkte verursachen können. Das könnte bedeuten, dass weniger Jungfische überleben und dadurch in den kommenden Jahren die Anzahl erwachsener Tiere abnimmt."
    Thunfische gehören zu den größten Jägern des Ökosystems im Golf von Mexiko. Jede Veränderung ihres Bestandes wirkt sich auf das gesamte Nahrungsnetz aus. Ähnliches gilt für viele Vögel. Der Ölunfall der Deepwater Horizon kostete etwa 600.000 Vögeln das Leben und ließ die Populationen von Atztekenmöwen um mehr als ein Drittel einbrechen. Auch Braunpelikane, Königsseeschwalben und Basstölpel starben in großer Zahl. All diese Arten pflanzen sich relativ langsam fort. Dementsprechend lange wird es dauern, bis sich die Bestände wieder erholen. Wenn sie es tun. Biologe Fikes: "Der Golf von Mexiko ist ein hochdynamisches Ökosystem mit vielen sehr verschiedenen Lebensräumen, von den Korallen der Tiefsee, über die Strände bis hin zu den Küstenmarschen und Mangrovenwäldern. Mehr als 15.000 verschiedene Arten leben im Golf von Mexiko und seinen Gewässern und bilden ein sehr komplexes Nahrungsnetz. Wenn die Population einer Art einbricht könnte das Auswirkungen auf andere Arten haben, die entweder auf die erste Art als Nahrungsquelle angewiesen sind, oder aber von dieser gejagt werden. Dadurch sickern Veränderungen an einer Stelle durch das gesamte Nahrungsnetz hindurch."
    An der Küste Alabamas läuft Ruth Carmichael über einen hölzernen Steg vor dem Meeresforschungslabor von Dauphin Island. Die Meeresbiologin schaut auf das kristallklare Wasser, das hier in der Mobile Bay, 240 Kilometer östlich von New Orleans ans Ufer plätschert. Am Horizont ragen die dunklen Aufbauten dreier Ölplattformen aus dem Meer: "Einer der wichtigsten Teile unseres Monitorings während des Ölunfalls und bis heute ist es, etwa alle zwei Wochen an verschiedene Stellen in der Mobile Bay und entlang der Küste Alabamas Proben zu nehmen. So bekommen wir ein Verständnis der physikalischen und chemischen Bedingungen in diesem Lebensraum."
    Lebensraum der Rundschwanzseekühe
    Es ist der Lebensraum der Rundschwanzseekühe und der Großen Tümmler. Als der Ölteppich immer größer wurde und sich gen Küste bewegte, wurden die Forscher zunehmend nervös. Carmichael: "Wir wissen, dass während der Ölkatastrophe mehr Große Tümmler gestrandet sind als in den Jahren zuvor. Und einige aktuelle Studien von uns und anderen Arbeitsgruppen konnten zeigen, dass diese Zunahme an Strandungen sowohl zeitlich als auch räumlich mit dem Ölunfall überlappt."
    Seit 2010 sind an der Nordküste des Golfs von Mexiko etwa 1.000 tote Große Tümmler gestrandet - doppelt so viele wie davor. In den vom Ölunfall besonders betroffenen Regionen sind es sogar viermal so viele Tiere. Und dieser Trend hält bis heute an. Im Jahr 2013 untersuchten Wissenschaftler der Nationalen Ozean- und Atmosphärenforschungsbehörde der USA den Gesundheitszustand Großer Tümmler in der Barataria Bay in Louisiana. In diese Bucht war besonders viel Öl gelangt. Biologe Fikes: "Sie schauten sich die Delfinpopulationen in dieser Bucht an und entdeckten zahlreiche Symptome, die auf eine Ölvergiftung schließen lassen. Darunter waren krankhafte Veränderungen der Lunge, Probleme der Nebenniere und Zahnverlust. Fast die Hälfte der untersuchten Tiere litt an einem oder mehreren dieser Symptome. Die Forscher gingen davon aus, dass 17 Prozent der Tiere dieser Population nicht überleben würden.
    Am weißen Sandstrand von Dauphin Island ragen auf Stelzen hölzerne Ferienhäuser aus den flachen Dünen. Davor liegt Spielzeug im Sand. Liegestühle wiegen sich in der Brise. Nur nach schweren Stürmen zeigt sich ein anderes Bild. Dann ist der Strand bis heute bedeckt von kleinen Ölklumpen. Aufgewirbelt aus den Tiefen des Meeres.
    26. Mai 2010: BP kündigt an, schweren Bohrschlamm in das Bohrloch zu pressen. Das Projekt trägt den Namen "Top Kill". Drei Tage später scheitert auch dieses Verfahren.
    "Als wir das erste Mal in der Nähe des Macondo Bohrlochs auf Tauchgang gingen, das war im Dezember 2010 mit dem bemannten Unterwasserfahrzeug Alvin, waren wir wie vor den Kopf gestoßen. Da unten war nichts, kein Leben. Normalerweise wohnen Würmer auf dem Meeresboden, Garnelen, Krabben und Fische. Vielleicht nicht viele Fische, aber auf jedem Tauchgang sehen sie mindestens einen Fisch, sie finden Seegurken und immer mal wieder schwimmt ein großer Tintenfisch oder ein Aal vorbei, es gibt eine ganze Reihe verschiedener Fischarten. Aber wir haben absolut nichts gesehen, während dieses Tauchgangs." Dafür stieß die Ozeanfoscherin Samantha Joye von der Universität von Georgia auf Schlamm, und zwar jede Menge Schlamm. An einigen Stellen türmte er sich 10 Meter hoch und erstickte alles Leben darunter: "Die Folgen für die Tiefsee kamen für viele Menschen sehr unerwartet. Etwa 30 Prozent des Öls aus dem Bohrloch und das gesamte ausgetretene Gas hat nie die Meeresoberfläche erreicht. Stattdessen waberte es in riesigen Ölschwaden durch die Tiefsee. Ein Teil davon wurde durch Mikroorganismen zersetzt, ein weiterer so stark verdünnt, dass wir ihn nicht mehr nachweisen können, aber der dritte Teil regnete auf den Meeresboden hinunter und lagerte sich dort ab. Ich denke, niemand hat vorhergesehen, welche enormen Mengen das sein würden. Sie können heute in einem Umkreis von fast 100 Kilometern um das Bohrloch herum Sedimentproben nehmen und stoßen immer noch auf Reste des Macondo Öls."
    Eigentlich ist Öl leichter als Wasser und sollte zur Oberfläche treiben. Deshalb ist noch nicht ganz klar, woher die enormen Mengen öligen Schlamms am Grund des Meeres kommen. Samantha Joye vermutet, dass die kleinsten Pflanzen im Meer, das Phytoplankton sowie die Mikroorganismen, die das Öl abbauen, dafür verantwortlich sind. Geraten sie in Kontakt mit Öl, sondern beide Stoffe ab, die schleimig und klebrig sind und sich leicht ans Öl heften. Schwere ölhaltige Klumpen könnten in Folge als Partikelregen zum Meeresboden gesunken sein. Ozeanforscherin Joye: "Die Ökosysteme am Meeresboden haben sehr stark unter diesem öligen Meeresschnee gelitten und sie tun es noch heute. Ich werde oft gefragt, wie lange die Tiefsee brauchen wird, um sich davon zu erholen. Dort unten ist es kalt, alles wächst langsamer und nichts geschieht schnell. Daher werden die Ökosysteme wahrscheinlich deutlich länger brauchen, um sich zu erholen, als etwa ein Strand oder eine Küstenmarsch. Denn dort oben ist es im Sommer sehr, sehr warm und im Winter wird es nicht so kalt wie in der Tiefsee."
    Kaum noch Leben in der Tiefsee
    2014 fuhren Samantha Joye und ihre Kollegen wieder in die Tiefsee und diesmal sahen sie Leben. Vereinzelte Fische, einen Tintenfisch und Würmer: "Allerdings sind bislang nur die Küchenschaben unter den Würmern da, diejenigen also, die unter schlechten Bedingungen leben können. Die sensibleren Arten sind noch nicht zurückgekehrt." Und noch etwas beunruhigt Samantha Joye. Am Meeresboden des Golfs von Mexiko erstrecken sich große Korallenbänke: ein wichtiger Lebensraum für viele Fischarten. Genau diesen Korallen aber geht es seit dem Ölunfall von Jahr zu Jahr schlechter: "Mit den Korallen geht es bis heute abwärts, sie sind noch nicht an dem Punkt angekommen, wo wir alle Auswirkungen gesehen haben und sie anfangen, sich zu erholen."
    Die Frage ist, warum? Möglicherweise wird der ölige Schlamm am Meeresgrund aufgewirbelt und belastet die Korallen immer wieder von neuem. Das wäre ein schlechtes Zeichen, nicht nur für die Korallen. Denn wenn der Schlamm durch Stürme oder Strömungen zurück in die Wassersäule gerät, kann er auch seinen Weg zurück ins Nahrungsnetz finden und das Leben in der Tiefsee auf lange Sicht hin schädigen.
    12. Juli 2010: eine neue Kuppel wird über das Bohrloch gesenkt, um den Ölstrom einzufangen. Erste Tests verlaufen vielversprechend.
    Fünf Jahre sind seit dem Ölunfall der Deepwater Horizon vergangen. Wer heute an der Küste entlangfährt, sieht nichts mehr. Die Strände sind wieder weiß, die Fischer fahren hinaus, die Arbeiter heuern wie einst auf den Ölplattformen an.
    19. September 2010: BP erklärt das Bohrloch für komplett und permanent verschlossen. Hernandez: "Ich denke nicht, dass wir Langzeitfolgen ausschließen können. Wir wissen von früheren Ölunfällen, dass zum Beispiel Fischbestände noch Jahre nach einer Katastrophe plötzlich einbrechen können. Vielleicht werden wir diese verspäteten Folgen eher in der Tiefsee sehen, als an der Küste. Aber sie zu erkennen wird uns viel Zeit kosten. Fünf Jahre sind viel zu kurz, um Langzeitfolgen vorherzusagen."