Es sollen vier Millionen sein, die Möwen, die einen hier umkreischen, in Hachinohe, am Nordzipfel der japanischen Hauptinsel Honshu. Hier beginnt der neue Fernwanderweg in einem gerade erst gegründeten Naturpark. Er soll einmal durch drei Präfekturen führen: Von Aomori durch Iwate bis nach Fukushima - kurz vor das zerstörte Atomkraftwerk. Fünf Jahre nach dem verheerenden Tsunami, der 20.000 Menschen das Leben kostete und den gesamten Küstenstreifen buchstäblich zerschmetterte, soll diese Landschaft in all ihrer Schönheit neu erstehen.
Wo sich der Weg hinab senkt zum Meer, sind hier und da noch Erinnerungen an die große Katastrophe zu erkennen: Ein Fischerboot, das vom Tsunami 20 Meter den Hang hinauf gespült wurde und nun als Mahnmal dient, ein kleiner Schrein auf einer Klippe, der dem Meeresgott geweiht ist. Der alte Yanagisawa-san bewacht diesen besonderen Ort.
"Der hier ist neu, der alte Schrein wurde ins Meer gerissen. Da hinten hat vor dem Tsunami ein Tori gestanden, ein rotes Eingangstor zum Schrein. Das hat man Monate später auf der anderen Seite des Pazifik aus dem Meer gezogen, in Amerika."
Im Sonnenlicht bei ruhiger See kann man sich die Gewalt nicht vorstellen, die dieses Meer entfalten kann - bis zum 11. März 2011, als ein Seebeben der Stärke 9 vor der Küste Nordostjapans eine Flutwelle auslöst, die bis dahin noch niemand erlebt hatte. Yuko Tanno weiß noch, dass es ein strahlend blauer Tag war, kalt, aber sonnig. Der Tag, an dem ihre Tochter den Abschluss der Mittelschule feierte, der Tag, an dem ihr Sohn für immer verschwand. Ihr Schicksalstag.
"Mittags haben Eltern und Kinder im Gemeindezentrum noch zusammen ein Festmahl gegessen, als plötzlich die Erde bebte. Wir sind dann auf den Sportplatz gegangen, weil es im Gebäude zu gefährlich war."
Erdbeben sind keine Seltenheit in Japan. Man weiß sich zu verhalten. Zusammenbleiben und Ruhe bewahren. Aber niemand ahnte, dass die eigentliche Katastrophe erst bevorstand. Das Erdbeben hatte die Stromversorgung von Yuriage zerstört. Die 5.000 Bewohner der Siedlung unweit der Millionenstadt Sendai hörten keine Sirene, keine Nachrichten, keine Tsunami-Warnung. Eine Kamera auf dem Dach der Mittelschule hat die Sekunden aufgezeichnet, als um 14.46 Uhr das Inferno hereinbrach. Eine Flutwelle von neun Metern Höhe schob sich durch den Ort, riss alles mit sich.
"Wie eine riesige schwarze Wand kam der Tsunami aus dem Meer. Er verschluckte alles, was unser Leben war! Als ich mich umdrehte, sah ich Boote, die durch Straßen flogen, Häuser schwammen weg, Autos türmten sich aufeinander. Und dann plötzlich fiel weißer Schnee vom Himmel. Es war absolut surreal!"
Wer will hier noch wohnen?
790 Menschen kamen an diesem Tag allein in Yuriage ums Leben, darunter Frau Tannos Schwiegereltern und ihr 13-jähriger Sohn Kota. Erst zwei Wochen später wurde Kotas Leiche unter den Trümmern gefunden. Sie hat nicht mal ein Bild ihres Sohnes. Mit ihrem Haus sind auch alle Fotoalben weggeschwemmt worden.
Der Ort, den der Tsunami in Schutt und Asche gelegt hat, wird planiert und vorbereitet für den Wiederaufbau. Doch wer will hier noch wohnen?
Dieselbe Frage stellt sich in Naraha. Die Ortschaft liegt 120 Kilometer südlich von Yuriage und ist nicht nur von der Flutwelle zerstört worden. Ihre Bewohner wurden in Sicherheit gebracht, nachdem das nahegelegene Atomkraftwerk 'Fukushima 1' explodiert war. Fünf Jahre später ist schwer was los hier - wenn auch nur an diesem Sonnabend. In der Wasseraufbereitungsanlage der Gemeinde toben Dutzende von Kindern durcheinander, ihre Eltern haben alle Hände voll zu tun, die Kleinen halbwegs in Schach zu halten.
Die freundlichen Assistenten dringen - trotz ihrer Megaphone - kaum durch mit ihren beruhigenden Botschaften:
"Ja, auch der Sand, der als Filter für das örtliche Flusswasser dient, wurde ausgetauscht. Keine Gefahr mehr durch Radioaktivität im Trinkwasser!"
Naraha liegt 15 Kilometer von der Atomruine entfernt. Die Ortschaft ist eine von sieben, die damals, nach dem Unfall komplett geräumt wurden. Seit September ist Naraha die erste Gemeinde im Sperrgebiet, die als "wieder bewohnbar" gilt. Offiziell jedenfalls. Die Verwaltung hat zum vierten Mal seit der Freigabe eine Bustour für Familien organisiert, die eventuell an ihren alten Wohnort zurückziehen wollen. Der Beamte Hiroki Miura ist für die sogenannte Revitalisierung Naraha zuständig.
"Als Gemeinde wünschen wir uns natürlich, dass alle 7.400 Bürger nach Naraha zurückkehren. Für diejenigen, die inzwischen woanders Fuß gefasst haben, ist das schwierig. Aber unser reales Ziel ist, bis zum nächsten Frühjahr die Hälfte der ehemaligen Bewohner zurückzuholen."
Ehrgeizig, wenn man bedenkt, dass bisher nur 440 zurückgekehrt sind, etwa sieben Prozent, fast durchweg alte Leute. Die 93-jährige Kane Sato wohnt bereits seit mehr als zwei Jahren wieder in ihrem Bauernhaus, obwohl das damals noch gar nicht erlaubt war:
"Nach der Evakuierung vor fünf Jahren haben sie mich in eine Notunterkunft gesteckt - im vierten Stock ohne Fahrstuhl! Es war so anstrengend in meinem Alter! Dies hier ist mein Haus, hier hängen die Fotografien meines Mannes und meiner Vorfahren an der Wand, draußen sind ihre Gräber. An diesen Ort gehöre ich. Und wenn ich sterbe, werde ich bei ihnen sein. Das ist wichtig."
Ihre Schwiegertochter Noriko ist mitgezogen, um sich um die alte Frau zu kümmern. Sie habe schließlich ihr ganzes Leben hier verbracht, und sie, Noriko, sei ja auch nicht mehr so anfällig für die radioaktive Strahlung - mit 53 Jahren. Doch ihr Mann verdiene woanders das Geld. Auch die beiden Söhne sind weit weg, und die sechs Urenkel sind noch so klein, die dürfen nicht mal in die Nähe der Sperrzone kommen. Der alten Kane Sato kommen die Tränen, als ihre Schwiegertochter das Thema erwähnt.
"Unsere Familie hat - wie die meisten hier - immer unter einem Dach gelebt, vier Generationen! Jetzt sind wir auf drei Orte verteilt."
'Shoganai' ist das Wort auf Japanisch, ein Ausdruck tiefer Resignation.
Immerhin hat Noriko ein kleines Auto. Damit kann sie für sich und die Schwiegermutter gelegentlich etwas einkaufen, was es im verwaisten Dorf nicht mehr gibt, weil die meisten Läden geschlossen sind. Aber dann muss sie gleich 40 Kilometer in die nächste Großstadt fahren. Die Gegend rings um Naraha ist ja noch immer menschenleeres Sperrgebiet. Das Städtchen ist isoliert, eine Insel im Strahlenland.
"Dass ich gar keine Angst hätte vor der Radioaktivität, wäre gelogen"
Die Busgruppe an diesem Sonnabend besteht aus zehn jungen Familien mit jeweils zwei bis vier Kindern. Die Rundfahrt endet in der noch nicht ganz fertig gestellten Grund- und Mittelschule, wo ein Mittagessen serviert wird. Eine 30-jährige Mutter von drei Kindern erklärt rundheraus:
"Wir haben schon beschlossen, im März nächsten Jahres, wenn die Schule öffnet, zurückzukommen. Über die Strahlung habe ich allerdings nicht lange nachgedacht."
Ein etwa gleichaltriger Mann bekennt:
"Ich wollte sowieso immer zurück, habe nur auf das Signal der Regierung gewartet. Dass ich gar keine Angst hätte vor der Radioaktivität, wäre gelogen. Aber der Wunsch, wieder hier zu wohnen, ist stärker."
"Nach dem Willen der Behörde ist die Befragung hier zu Ende. Wir sollten nämlich nur Teilnehmer zu Wort kommen lassen, die zur Rückkehr entschlossen sind. Doch: Die deutliche Mehrheit der Busgruppe, sieben von zehn Familien, hat sich anders entschieden."
"Oh nein, wir kommen bestimmt nicht zurück. Wir mussten vor fünf Jahren hier Hals über Kopf verschwinden. Inzwischen habe ich woanders ein Haus gebaut - übrigens mit Regierungshilfe", sagt Makoto Ohashi, Vater von vier Kindern. Mineko Takeuchi, Mutter von zwei Kindern, erklärt:
"Ich bin nur mitgefahren, weil ich wissen wollte, wie es heute hier aussieht. Ich glaube den Angaben der Regierung über die Strahlung nicht. Was ich gesehen habe, macht mich ganz traurig."
Damit meint sie sicher nicht die mit viel Geld neu errichteten öffentlichen Einrichtungen Narahas, sondern die lärmenden Baustellen dazwischen. Vom nagelneuen, kinderlosen Spielplatz blickt man auf eine gewaltige Tsunami-Schutzmauer, die noch im Entstehen ist. Und über schier endlose Halden schwarzer Plastiksäcke voll mit radioaktivem Müll. Angeblich sind es 58.000. Sie liegen, mit Warntafeln gekennzeichnet, einfach in der Landschaft. Niemand weiß, wohin damit.
Um trotzdem ehemalige Bewohner zurück zu holen, setzt die Regierung nicht nur auf Zuckerbrot, sondern auch auf die Peitsche: Die staatliche Unterstützung für Nuklearflüchtlinge aus Naraha läuft im kommenden Jahr aus. Wer also noch in Notunterkünften lebt, verliert seine Bleibe. In Japan sind es immerhin noch 120.000 Menschen, deren Subventionierung - rund 800 Euro im Monat - dem Staat allmählich zu teuer wird. In Naraha gibt es reichlich leer stehenden Wohnraum - die verlassenen Häuser derer, die nicht wiederkommen. Einsam steht der 77-jährige Yoshiaki Ueki vor seinem bäuerlichen Anwesen.
"Schauen Sie sich meine Nachbarschaft an! 18 Häuser, von denen nur sechs bewohnt sind - und das von alten Leuten. Keine Kinder, keine Eltern. Ich habe weniger Angst vor der Strahlung als vor der Zukunft. Wie soll das hier weitergehen?"
Yoshiaki Ueki war schon immer gegen Atomkraft. Als der Energiekonzern Tepco vor 45 Jahren das Atomkraftwerk 'Fukushima 1' baute, hat er in Naraha Handzettel verteilt - aus Protest. Deswegen fällt ihm die Antwort auf die Frage, wer an der Misere schuld ist, leicht:
"Es sind Tepco und die Regierung."
Da weiß sich der alte Bauer mit einem prominenten Politiker einig. Der aber, Naoto Kan sein Name, hat das Problem erst begriffen, als es zu spät war.
"Bis zum 11. März 2011 habe ich geglaubt, dass so ein Atomunfall wie in Tschernobyl in Japan nicht passieren wird, weil das Niveau der japanischen Technologie so hoch ist. Ich hatte sogar anderen Staats- und Regierungschefs den Kauf japanischer Akw empfohlen. Aber als mir klar wurde, dass Japan nur durch den Zufall der Windrichtung die Evakuierung von 50 Millionen Menschen erspart geblieben ist, hat sich meine Meinung in ihr Gegenteil verkehrt. Im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder und darüber hinaus für alle Menschen auf der Welt sollten wir auf Atomenergie verzichten."
Zum Zeitpunkt der Katastrophe amtierte Naoto Kan als Premierminister. Sie hat ihn von Saulus in Paulus verwandelt. Und in einen Mitstreiter der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Deren Flaggschiff "Rainbow Warrior" ist in den vergangenen Tagen vor der Kraftwerksruine gekreuzt, um gegen die Tatenlosigkeit der japanischen Regierung zu demonstrieren.
Mit einem kleinen Laborschiff hat Atomphysiker Heinz Smital die radioaktive Strahlung im Meer vor Fukushima gemessen.
"Wir kombinieren hier eine Unterwasseraufnahme durch diesen Unterwasser-Roboter mit direkten Strahlmessungen, auch Gamma-Spektrometrie, und mit Probenentnahme. Es ist nämlich so, die Radioaktivität ist gar nicht so gleichmäßig verteilt wie man meint, sondern dass es durchaus auch Hotspots im Wasser geben kann. Woran das liegt, da wollen wir genauer hingucken."
Beim Unfall von Fukushima gelangte die größte Menge an Radioaktivität aller Zeiten ins Meer. Dass die Vergiftung fünf Jahre später noch immer anhält, zeige, wie komplex das Problem ist. Aber es mangele auch an verlässlichen Daten, klagt Dr. Angelika Claussen von den "Ärzten gegen den Atomkrieg".
"Es ist bisher versäumt worden, umfassende Register für die kontaminierten Gruppen anzulegen, Register für die ganzen Liquidatoren, für die evakuierte Bevölkerung und die kontaminierte Bevölkerung. Und regelmäßige Gesundheitschecks dort zu machen, damit man überhaupt Basisdaten erhebt, aufgrund derer man dann wirklich Forschung betreiben kann. Ohne ordentliche Basisdaten keine Forschung."
"Nein, die Regierung hat Fukushima nicht im Griff"
Dass sich Staat und Gesellschaft so wenig um die Opfer von Fukushima kümmern, mag mit einem japanischen Reflex zu tun haben. Unangenehme Dinge werden verdrängt und möglichst bald vergessen. Zumal wenn es darum geht, sich der Welt in vier Jahren als Schauplatz der Olympischen Spiele zu empfehlen. Den Zusammenhang zwischen der Reaktorkatastrophe und dem Sportereignis hatte Premierminister Abe vor zweieinhalb Jahren selber hergestellt, als er bei der Bewerbung um Tokio 2020 erklärte:
"Ich kann ihnen versichern: Fukushima ist unter Kontrolle."
Eine Lüge mit kurzen Beinen, wie die Ärzte gegen den Atomkrieg meinen.
"Nein, die Regierung hat Fukushima nicht im Griff. Jeden Tag treten ich weiß nicht wie viele Hunderttausende Liter radioaktives Wasser aus dem Reaktorumfeld in den Ozean. Dann hat die Regierung das nicht im Griff."
Und der Atomphysiker Smital sagt:
"Das Kraftwerk ist nicht unter Kontrolle. Man kann im Prinzip nicht sagen, wo sich der Kernbrennstoff genau befindet."
... weil es niemand wagen kann, die strahlenden Meiler zu betreten. Wenige Kilometer von der echten Akw-Ruine entfernt, ist die staatliche Atomenergie-Agentur gerade dabei, ein Modell fertigzustellen, an dem der Abriss geübt werden kann, sagt Chefingenieur Koji:
"Zum einen sollen die Techniker hier herausfinden, wie man die Anlage am besten zurückbaut. Zum anderen gibt es sehr viele erfahrene Arbeiter, die das echte Kraftwerk nicht mehr betreten dürfen, weil sie die maximal erlaubte Strahlendosis längst erreicht haben. Die sollen ihre weniger erfahrenen Kollegen hier trainieren."
Die Übungsruine kostet den japanischen Steuerzahler 680 Millionen Euro. Andererseits wird das Problem ständig drängender. Am echten Kraftwerk arbeiten täglich bis zu 8.000 Männer, von denen aber immer mehr an ihre maximale Lebens-Belastungsgrenze stoßen. Dabei sind gerade erst fünf der 40 Jahre vergangen, die der Rückbau von 'Fukushima 1' günstigstenfalls dauern wird. Und abgerissen wird ja eigentlich noch gar nichts. Die meisten Arbeiter sind - wie seit fünf Jahren schon - damit beschäftigt, riesige Tanks zu errichten, in denen radioaktiv verseuchtes Grundwasser aufgefangen wird. Täglich rauschen nach wie vor Hunderte von Tonnen durch die unteren Etagen der Meiler und mischen sich dort mit der strahlenden Brühe, mit der Tepco die Reaktoren kühlt. Trotz Filterung darf das Wasser nicht einfach ins Meer geleitet, sondern muss gelagert werden. Zurzeit liegt die Kapazität bei 850.000 Tonnen; der Platz für weitere Tanks auf dem Gelände wird knapp. Helfen sollte ein Eiswall aus gefrorener Erde, der den Zufluss des Grundwassers stoppt. Doch auch der funktioniert nicht. Ein Multimillionen-Flop.