Winnenden, 11. März 2009. Ein Teenager tötet 15 Menschen, dann sich selbst. Britta Bannenberg hat den Fall bis ins kleinste Detail analysiert, dazu 24 weitere Amokläufe von Jugendlichen in Deutschland. Die Kriminologin von der Uni Gießen arbeitet Strafakten durch, spricht mit Opfern und bewertet Tagebucheinträge und Internetaktivitäten der Täter. Zusammen mit Psychologen und Gewaltforschern will sie herausfinden, welche Parallelen es gibt, was Täter wie den von Winnenden ausmacht.
"Er passt vom Persönlichkeitsprofil her zu dem, was wir auch von anderen Amoktätern sehen: Enorme Probleme mit dem Selbstwert, mit Anerkennung, mit Bindungen oder überhaupt mit Kontakten, keine tiefergehenden Bindungen zu anderen Personen, und eine hohe Waffenaffinität, Schusswaffenaffinität, die in vielen Aspekten deutlich wird. Er hat lange geplant und das blieb weitgehend verborgen, kam aber doch an der ein oder anderen Stelle zum Vorschein. Das ist sehr typisch."
Amokläufer haben gewisse Gemeinsamkeiten, sagt Britta Bannenberg. Sie sind in der Regel eher stille Zeitgenossen, und sehr Ich-bezogen. Sie haben Schwierigkeiten damit, Kontakte zu knüpfen, fühlen sich oft gemobbt und gedemütigt und entwickeln im Laufe der Zeit einen tiefen Hass – auf andere, und auf sich selbst. Die meisten Täter leiden an psychischen Störungen. Irgendwann sehen sie keinen anderen Ausweg mehr als Mord und Suizid. Egoshooter oder Gewaltfilme können diese Entwicklung noch verstärken.
Eiskalt wie Roboter
"Bei all den Taten, wenn Opfer etwas dazu aussagen können, dann erscheint es so, dass die Täter fast wie Roboter eiskalt ihre Tat durchziehen. Sie gehen vor die Tür, laden nach, machen die Türen auf, schießen das Magazin leer, sie schießen teilweise durch Türen hindurch und schießen dann auf Menschen, die plötzlich auf dem Gang auftauchen. Und das scheinbar unbewegt. Ohne Mimik, ohne Emotion, ohne Mitleid und ohne zu zögern."
Hätte man den Amoklauf von Winnenden im Vorfeld erahnen und verhindern können? Das weiß niemand, sagt Bannenberg. Von Schuldzuweisungen hält sie nichts.
"Es ist nicht mehr zu ändern. Diese Tat hat stattgefunden. Was wir aber lernen können, ist: Solche Täter senden im Vorfeld der Tat Signale über das, was sie vorhaben."
Amokläufe sind, entgegen der landläufigen Meinung, keine plötzlichen Ausbrüche, sondern das Ende einer langen Entwicklung. Fallanalysen aus Deutschland, aber auch aus den USA zeigen, dass die Täter vorher fast immer Warnsignale aussenden – auch in Winnenden. Wenn diese Signale rechtzeitig erkannt werden, wenn ihnen nachgegangen wird und sich abzeichnet, dass sich ein Teenager in einer schweren Krise befindet, dann lässt sich eine solche Tat möglicherweise verhindern, sagt der Psychologe Jens Hoffmann. Er leitet das Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt.
"Es gibt einmal recht universelle Warnsignale, das ist ein Gefühl von Ausweglosigkeit, ich weiß nicht mehr weiter und Formulierungen, beispielsweise, dass man bereit ist, eine Gewalttat zu begehen. Auch wenn jemand plötzlich Waffen mit sich herumträgt und zeigt, sozial unangemessen, das ist auch ein recht universelles Warnzeichen, was wir sehen. Wir sehen jedoch bei jugendlichen Amoktätern, dass sie sehr häufig sich identifizieren mit anderen Amokläufern vor ihnen, beispielsweise aus Columbine, und so in eine Identität schlüpfen, die ihnen Bedeutung und Macht und Kontrolle gibt."
Online-Instrument soll Amok-Risiko einschätzen
Jens Hoffmann und sein Team haben Dyrias entwickelt, ein Online-Instrument, mit dem Fachleute wie Psychiater oder Schulpsychologen das Risiko eines Amoklaufs einschätzen können. Dyrias ist ein ausführlicher Online-Fragebogen, in den alle Fallinformationen eingetragen und ausgewertet werden.
"Dyrias fragt beispielsweise: Fühlt sich der Schüler in einer ausweglosen Lage? Hat er Andeutungen gemacht? Hat er über Suizid gesprochen? Und das wichtigste ist, dass der Dyrias-Nutzer sich auch mit den anderen Personen, die den Fall kennen, sich bespricht, also recherchiert, aktiv recherchiert, natürlich diskret, um auch eine Stigmatisierung zu vermeiden, und dann immer anonym. Es werden keine Namen angegeben, auch das Verhalten eingibt."
Entscheidend sei, dass einzelne Warnsignale aber überhaupt bemerkt und zu einem Gesamtbild zusammengefügt würden, sagt Jens Hoffmann. Und das gelingt nur, wenn vor Ort Netzwerke entstehen: Schüler müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie eine Amokdrohung hören. Und die Schulen müssen wiederum eng mit Eltern, Psychologen und der Polizei zusammenarbeiten, und sich gemeinsam kümmern. Dann, sagt Hoffmann, habe man eine echte Chance, Amokläufe zu verhindern – nicht alle, aber viele.