Fernsehbilder aus dem Herbst 2015: Russische Kampfjets fliegen vor blauem Himmel, Bomben gleiten aus dem Bild. Der Klang der Explosionen ist im Takt der Musik geschnitten. Das russische Staatsfernsehen bereitete den Angriff russischer Jagdbomber in Syrien so auf, dass es aussah wie in einem Computerspiel.
Am 30. September 2015 hatte der Föderationsrat, die Oberkammer des russischen Parlaments, auf die Bitte von Präsident Wladimir Putin grünes Licht für einen Militäreinsatz im Ausland gegeben. Der Leiter der Präsidialverwaltung, Sergej Ivanov, gab das Abstimmungsergebnis bekannt: "Der Föderationsrat hat der Bitte des Präsidenten einstimmig zugestimmt - mit 162 Ja-Stimmen, ohne Enthaltungen oder Gegenstimmen."
Der Kampf gegen den IS war nicht das einzige Motiv
Noch am selben Tag hoben die ersten russischen Kampfflieger vom russischen Luftwaffenstützpunkt Hmeimim nahe dem syrischen Latakia ab. Nach Auskunft des russischen Verteidigungsministeriums flogen sie gezielte Angriffe auf militärische Objekte, Transportmittel und Munitionslager des sogenannten Islamischen Staates, IS. Bodentruppen waren nicht vorgesehen.
Die Terroristen des IS waren damals in Syrien auf dem Vormarsch. Russland trat an, sie zu bekämpfen. Präsident Putin erläuterte der damals eilig zusammengerufenen russischen Regierung: "Der einzige Weg, gegen den internationalen Terrorismus zu kämpfen, ist Vorbeugung. Es geht darum, die Terroristen in den bereits von ihnen besetzten Gebieten zu bekämpfen und zu vernichten. Wir warten nicht, bis sie zu uns kommen."
Der Kampf gegen den IS war aber nicht das wichtigste Motiv für den russischen Einsatz, sagt Markus Kaim, Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: "Wenn wir uns angucken, wie die Operationen Russlands ausgesehen haben, dann kann man, glaube ich, nicht nachweisen, dass Russland sich exklusiv darauf beschränkt hat, gegen den IS in Syrien vorzugehen, sondern es waren häufig Militärschläge, also Luftschläge in der Regel, gegen den Islamischen Staat, wenn dann gleichzeitig die Truppen der Regierung Assad unter Bedrängnis geraten waren."
Unterstützung für Assad
Syriens Präsident Baschar al-Assad regierte das Land seit dem Jahr 2000 autoritär – wie schon zuvor sein Vater. 2011 hatten friedliche Demonstranten, inspiriert vom Arabischen Frühling, einen Wandel gefordert. Die Proteste wuchsen sich in einen bewaffneten Bürgerkrieg aus. Im Herbst 2015 stand Assad mit dem Rücken zur Wand. Russland sei es zunächst mal darum gegangen, Assad zu stützen. Weiter habe Putin ein militärisches Signal senden wollen.
Das russische Militär testete in Syrien neue Waffensysteme. Es feuerte Marschflugkörper von Schiffen im Kaspischem Meer ab. Raketen starteten auch von einem im Mittelmeer kreuzenden U-Boot. Später installierte Russland in Syrien sein hochmodernes S-400-Raketenabwehrsystem.
Markus Kaim erklärt: "Bis dato hatte die russische Führung mit 2014, der Annexion der Krim, unter Beweis gestellt, dass die russischen Militärreformen der Zehner-Jahre dazu geeignet waren und die russischen Streitkräfte befähigt hatten, Operationen eher konventioneller Art in der eigenen Nachbarschaft durchzuführen. Aber jetzt bot sich die Gelegenheit, der Welt zu beweisen, dass Russland zu ausgeweiteten Auslandsinterventionen außerhalb der eigenen Nachbarschaft in der Lage war."
Präsident Putin räumte bei seiner Jahrespressekonferenz Ende 2015 ganz offen ein: "Ein besseres Manöver kann man sich schwer vorstellen. Wir können in Syrien lange trainieren ohne wesentliche Verluste für unseren Haushalt."
Russland hinterließ Eindruck
Das dritte und wichtigste Signal war aber ein außenpolitisches, so Sicherheitsexperte Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: "Russland hatte sich ja als Sowjetunion nach dem Ende des Ost-West-Konflikts weitgehend aus dem Nahen und Mittleren Osten zurückgezogen. Militärisch gab es nur noch ganz wenige Basen, unter anderem eine in Syrien. Politisch spielte Russland nur noch eine nachgeordnete, um nicht zu sagen, gar keine Rolle, sodass alle regionalen Akteure sich an den USA ausrichteten. Das war damit jetzt vorbei."
Russlands Angriff in Syrien hinterließ Eindruck. Die damalige EU-Außenbeauftragte Mogherini sagte Mitte Oktober beim EU-Außenministertreffen, die Karten im Syrien-Konflikt seien völlig neu gemischt. Russlands Eingreifen sei ein "Game Changer".
Präsident Wladimir Putin hatte den Einsatz wochenlang vorbereitet, militärisch und diplomatisch. Russland hatte seine Militärpräsenz in Syrien massiv ausgebaut und auch Kampfflugzeuge dorthin verlegt. Parallel suchte Putin das Gespräch mit den Staats- und Regierungschefs der Region. Im September 2015 gaben sie sich in Moskau förmlich die Klinke in die Hand: Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, das Staatsoberhaupt der Türkei, Tayyip Erdogan, der stellvertretende Außenminister des Iran.
Einzelheiten wurden kaum bekannt, doch der Kreml verbreitete, Putin arbeite an einem Plan für eine internationale Koalition gegen den Terror. Ende September, zwei Tage vor dem Befehl zum Einsatz in Syrien, präsentierte er ihn vor der UN-Vollversammlung in New York der Weltöffentlichkeit: "Wir schlagen vor, uns nicht von Ehrgeiz, sondern von gemeinsamen Werten und Interessen auf der Grundlage des Völkerrechts leiten zu lassen; die Anstrengungen zu bündeln, um die neuen Probleme, vor denen wir stehen, zu lösen, und eine wirklich breite internationale Koalition gegen den Terrorismus zu bilden. Wie die Anti-Hitler-Koalition könnte sie die unterschiedlichsten Kräfte zusammenschweißen, die bereit sind, jenen entschieden entgegenzutreten, die, wie die Nazis, Böses und Hass säen."
Den USA warf Putin vor, in Syrien terroristische Gruppen zu unterstützen; stattdessen solle die Welt lieber mit der syrischen Regierung und der syrischen Armee zusammenarbeiten, die, wie er sagte, "tapfer" gegen den Terror kämpfe. Putin fand kein Gehör.
Das russische Verteidigungsministerium verkündete Erfolge
US-Präsident Barack Obama stellte klar, dass erst das brutale Vorgehen Assads gegen die eigene Bevölkerung den IS habe groß werden lassen. Nach Ansicht von Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik konnte Putins Idee einer internationalen Koalition gegen den Terror 2015 nicht funktionieren: "Ein gutes Jahr nach der Annexion der Krim und der Destabilisierungspolitik Russlands in der Ostukraine, da war das Tischtuch für internationale Kooperation zwischen dem Westen und Russland und konkret zwischen den USA und Russland doch weitgehend zerschnitten."
Außerdem, so Kaim, hätten zentrale Fragen wie die nach dem Umgang mit der syrischen Opposition im Weg gestanden. Im russischen Staatsfernsehen hieß es schon nach wenigen Wochen, die Terroristen würden unter dem Druck der russisch-syrischen Offensive massenhaft demoralisiert aus dem Land fliehen. Der Kriegsreporter im staatlichen Kanal Rossija 24 meldete: "Die russische Luftwaffe fliegt weiter Angriffe auf die Kommandozentralen der Islamisten, zerstört Waffen- und Kraftstoffvorräte."
Offiziellen Angaben zufolge waren im November 2015 69 russische Kampfflugzeuge in Syrien im Einsatz. Dazu kamen zehn Militärschiffe im Kaspischen- und im Mittelmeer. Das Verteidigungsministerium meldete täglich Erfolge.
Für die russische Führung war es extrem wichtig, dass der Einsatz auf Bitten der syrischen Regierung erfolgte. Denn das verlieh ihm aus russischer Sicht völkerrechtliche Legitimation. Die russische Führung hatte schon in den Jahren zuvor immer wieder darauf hingewiesen, dass Militäreinsätze im Ausland nur dann erlaubt seien, wenn eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen dahinterstehe oder wenn die Regierung des betroffenen Landes darum gebeten habe.
Das Vorgehen der NATO in Serbien oder die internationale Intervention in Libyen hält Russland dementsprechend für illegal. Der Chef der Präsidialverwaltung, Sergej Ivanov, erläuterte Journalisten vor fünf Jahren denn auch: "Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen unserer Vorgehensweise und der unserer westlichen Partner: Sie halten sich nicht an internationales Recht, wir tun es."
Westliche Regierungen argumentierten, wenn ein Diktator – Zitat Obama – "Zehntausende seiner eigenen Leute abschlachte", müsse man sich einmischen. Doch Putin hielt weiter zu Assad.
Propaganda auf Hochtouren
Internationale Kritik am syrischen Diktator führte zu immer stärkeren Loyalitätsdemonstrationen aus Moskau. Im Herbst 2015 tauchte Assad zum Staatsbesuch in der russischen Hauptstadt auf. Schmal und blass trat er vor die Kameras: "Ich möchte der ganzen Führung der Russischen Föderation und dem russischen Volk großen Dank aussprechen für die Hilfe für Syrien. Danke, dass Sie für die Einheit und die Unabhängigkeit Syriens einstehen. Wenn Sie nicht gehandelt und entschieden hätten, hätte sich der Terrorismus auf weitere Gebiete und Staaten ausgeweitet."
Putin stellte eine politische Lösung in Aussicht – mit Beteiligung Assads: "Wir gehen davon aus, dass auf der Grundlage der positiven Dynamik der Kampfhandlungen am Ende eine langfristige Lösung in Syrien erreicht werden kann. Wir brauchen einen politischen Prozess, an dem alle politischen, ethnischen und religiösen Gruppen teilnehmen."
Die russische Führung stand sogar fest zu Assad, als ihm vorgeworfen wurde, international geächtete Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Das hatte Assad bereits 2013 getan. Damals standen die USA kurz vor einem Militärschlag gegen das syrische Regime. Russland vermittelte in letzter Minute, schlug vor, dass Assad sein Chemiewaffenarsenal kontrollieren lassen solle, und bewegte die USA damit zum Einlenken.
Eine vom Weltsicherheitsrat ins Leben gerufene Untersuchungskommission ging Hinweisen darauf nach, dass die Assad-Regierung auch danach noch Chemiewaffen einsetzte. Als das Mandat der Kommission 2016 endete, verhinderte Russland, dass es verlängert wurde. Russland habe seine schützende Hand über Assad gehalten, sagt Markus Kaim: "Und dementsprechend gibt es, glaub ich, keine erklärte Position der Vereinten Nationen in dieser Frage."
Etwas anders verhält es sich mit Angriffen auf zivile Ziele, was ein Kriegsverbrechen wäre. Auch diese Vorwürfe gab es mehrfach, und sie richteten sich nicht nur gegen die syrische Luftwaffe, sondern auch gegen die russische.
Im Juli dieses Jahres veröffentlichte der UN-Menschenrechtsrat einen Bericht, in dem 52 Angriffe auf die zivile Infrastruktur im Zeitraum November 2019 bis Juni 2020 aufgelistet sind. In mindestens zwei Fällen soll die russische Luftwaffe verantwortlich sein. Im Bericht heißt es zum Beispiel: "Am 29. Januar, nach der Übernahme von Ma'arrat al-Nu'man und Kafr Nubl, haben drei aufeinanderfolgende Luftangriffe auf Wohngebiete in Nord-Ariha die letzte medizinische Einrichtung, die Süd-Idlib versorgt, außer Kraft gesetzt. Die Kommission hat berechtigten Grund zu der Annahme, dass die Angriffe von russischen Flugzeugen durchgeführt wurden. Mindestens 14 Zivilisten, darunter ein Arzt, fünf Frauen und fünf Kinder, wurden getötet und 30 bis 65 weitere verletzt."
Russland hat auch diese Vorwürfe zurückgewiesen.
Musik fürs Militär
Der russischen Bevölkerung war der Einsatz in Syrien von Anfang an weitgehend egal. Derweil lief die russische Propaganda auf Hochtouren. Eine Reporterin des russischen Staatssenders Rossija 24 berichtete über einen Russischboom an den Schulen in Syrien. Als erstes, berichtete sie, wollten die Kinder das Wort "spasibo" lernen, zu Deutsch: "danke". Schließlich könne sich ja mal die Gelegenheit ergeben, den russischen Piloten persönlich zu danken.
Im Mai 2016 flog Russland mit großem Aufwand das Orchester des berühmten St. Petersburger Mariinsky-Theaters nach Syrien. Unter der Leitung des Stardirigenten Valery Gergiev gab es ein Konzert in der kurz zuvor von syrischen Truppen - mit Unterstützung russischer Luftstreitkräfte – zurückeroberten antiken Stadt Palmyra.
Kurz darauf besuchten russische Olympioniken den Luftwaffenstützpunkt in Syrien. Das russische Fernsehen zeigte, wie die Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa russische Soldaten in der syrischen Morgensonne beim Frühsport anleitete. "Uns war klar: Wir fliegen zu Helden, zu unseren Beschützern. Hier ist alles von einem solchen Patriotismus durchzogen, ich platze fast vor Stolz."
Doch je länger Russlands Militäreinsatz in Syrien dauerte, desto weiter sank das Interesse der Öffentlichkeit an dem Geschehen. Bei einer Umfrage des Levada-Zentrums im Mai 2019 gaben nur noch 13 Prozent der Befragten an, Nachrichten aus Syrien überhaupt zu verfolgen. Zwei Jahre zuvor waren es noch 31 Prozent gewesen.
Anders als vor fünf Jahren angekündigt, kämpften Russen in Syrien auch am Boden. Allerdings sind es keine regulären Angehörigen der russischen Armee, sondern Söldner der sogenannten "Gruppe Wagner". Die gibt es offiziell gar nicht, denn der Einsatz von Söldnern im Ausland ist in Russland gesetzlich verboten. Doch die Wagner-Kämpfer, nach Recherchen russischer Journalisten waren es in Syrien zeitweise mehrere hundert, haben Spuren hinterlassen, unter anderem im Internet.
Unter dem Feuer der Granatwerfer seien sie gefallen, aber Palmyra hätten sie dennoch eingenommen, singt der Mann. Auch vom Sandsturm und der Hitze am Flughafen Latakia ist die Rede. Beiträgen in Sozialen Medien zufolge, war das Lied ein Hit unter den Kämpfern der "Gruppe Wagner". Nach Einschätzung von Experten hatten die russischen Söldner entscheidenden Anteil an dem Erfolg syrischer Bodenoffensiven.
Diplomatie im Astana-Format
Der Chef des russischen Generalstabs, Walerij Gerassimow, sagte bereits Ende 2017 in der russischen Zeitung Komsomolskaja Prawda, Russland habe "den Schlagkräften des Terrorismus das Rückgrat gebrochen." Zu diesem Zeitpunkt hatte Russland längst begonnen, auch politisch die Initiative zu ergreifen.
Ende 2016 lud Putin die Staatschefs des Iran und der Türkei zu den ersten trilateralen Gesprächen über die Zukunft Syriens. Daraus entwickelten sich die sogenannten Astana-Verhandlungen, benannt nach dem Tagungsort in Kasachstan. Die Genfer Gespräche unter der Leitung der Vereinten Nationen stockten damals schon.
Das Astana-Format dagegen erwies sich als effektiv, meint Markus Kaim: "Der Ansatz begann eigentlich mit einem engeren Fokus als die Genfer Gespräche der Vereinten Nationen, nämlich hatte er einen militärischen Schwerpunkt. Also die Fragen standen im Mittelpunkt zum Beispiel Einigung über einen Gefangenenaustausch, Waffenruhen lokaler Art, geographisch klar definierte Deeskalationszonen zu schaffen, und das hat sich dann zunehmend verbreitert, das begann so ab 2017/18, da begannen eben diese drei Akteure zunehmend auch politische Fragen zu diskutieren: Verfassungsänderungen, Flüchtlingsrückkehr und Fragen des Wiederaufbaus. Also dann wurde wirklich die Tagesordnung der Genfer Gespräche dupliziert, wenn man das so sagen darf, und damit letztlich konterkariert, weil die Genfer Friedensgespräche kamen in keiner Weise mehr vom Fleck."
Russland bewies dabei diplomatisches Geschick. Denn die drei Teilnehmerstaaten, Russland, Iran und die Türkei, haben durchaus widerstreitende Interessen in Syrien. Zudem hatte die türkische Armee 2015 einen russischen Jagdbomber über dem syrisch-türkischen Grenzgebiet abgeschossen. Markus Kaim: "Ich glaube, die türkische Führung und die iranische Führung haben beide verstanden, dass der Weg zu ihren eigenen Zielen über Moskau führt. Der Bedeutungsverlust der USA geht mit dem Bedeutungsgewinn Russlands einher. Oder umgekehrt, so kann man es auch formulieren, der Bedeutungsgewinn Russlands löst den Bedeutungsverlust der USA im Nahen und Mittleren Osten ab."
Für Kaim steht fest: "Ich glaube, man muss nun mal zur Kenntnis nehmen, dass der syrische Bürgerkrieg entschieden ist. Im politischen Sinne ist das eine Niederlage des Westens, weil sich hier doch sehr unterschiedliche Ansätze gegenübergestanden haben, und Russland hat sich durchgesetzt. Russland wird der - während des Kalten Krieges hätten wir es genannt - Patron Syriens bleiben auf absehbare Zeit. Und von dort seinen Einfluss geltend machen in dem gesamten östlichen Mittelmeerraum."
Was die damalige EU-Außenbeauftragte Mogherini vor fünf Jahren als "Game Changer" bezeichnete, hat sich bewahrheitet: An Russland kommt im Nahen Osten heute niemand mehr vorbei. Der Militäreinsatz hat es ermöglicht.