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"Für die Breite brauchen wir schlichtweg mehr Zeit"

Jutta Allmendinger hat die jüngsten Entwicklungen im Bildungssektor kritisiert. Die verkürzte Gymnasialzeit und das Bachelor-Master-System führten dazu, dass Studierende immer schneller auf den Markt drängten. Man müsse Bildung breiter gestalten und das Tempo wieder drosseln, sagte die Professorin für Bildungssoziologie.

Jutta Allmendinger im Gespräch mit Elif Senel |
    Elif Senel: Es gibt Begriffe, die, wenn sie fallen, sofort eine Meinung provozieren. Bildung zum Beispiel, das ist so ein Begriff. Experten genauso wie Laien, die kritisieren den Stand der Bildung in Deutschland. Einige werfen sich heldenhaft vor die Bildung, wollen besonders gerne in Wahlkämpfen alles für die Bildung investieren. Und sie verlieren sich auch gerne in Aktionismus. Es wird also viel über Bildung und Bildungsmisere gesprochen, oft auch, ohne sich darauf wirklich verständigt zu haben, was Bildung eigentlich sein soll. Und deswegen haben sich gestern Abend einige Experten im Wissenschaftszentrum Berlin getroffen zu einem kleinen Bildungsgipfel, so der Titel der Veranstaltung. Mit dabei war natürlich die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Jutta Allmendinger, Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schönen guten Tag, Frau Allmendinger!

    Jutta Allmendinger: Guten Tag, Frau Senel!

    Senel: Man könnte natürlich auch ketzerisch fragen: Experten treffen sich hier, um einen Begriff zu definieren - hilft uns das wirklich weiter bei unseren Problemen?

    Allmendinger: Oh ja, das hilft schon. Wir hatten ja die Begrifflichkeit dessen, was Bildung ist, über die Jahre auf der einen Seite präzisiert, auf der anderen Seite verloren. Präzisiert, weil wir nicht mehr nur auf Zertifikate schauen, sondern jetzt auch auf Kompetenzen - wir kennen das durch die PISA-Untersuchungen zum Beispiel -, und wir wissen, dass wir dadurch, wenn wir die Kompetenzen von jungen Kindern erheben, nicht immer vollständige Übereinstimmungen mit den Noten haben, sodass diese zusätzliche Messung von Bildung durch Kompetenzen durchaus etwas bewirkt hat.

    Senel: Also Bildung ist nicht gleich Bildung?

    Allmendinger: Bildung ist auf der einen Seite zu messen durch formale Bildung in der Schule, auf der anderen Seite ist sie zu messen durch kognitive Kompetenzen, und was wir gestern erörtert haben, ist, dass dieses noch nicht genug ist, weil es in der Tat auf soziale Kompetenzen auch ankommt, dass es auf breite Kompetenzen ankommt, die nicht verengt werden können durch beispielsweise IQ-Tests oder andere Wissenstests.

    Senel: Jetzt haben Sie darüber gesprochen, haben Sie denn auch konkrete Überlegungen angestellt, wie man tatsächlich solche Aspekte ebenso fördern kann?

    Allmendinger: Darüber haben wir sehr lange gesprochen. Wir hatten gemeinsam festgestellt, dass wir zunächst mal eine Entschleunigung brauchen und einer weiteren Verengung auf ganz bestimmte Fächer entgegentreten müssen. Mit einer Entschleunigung meine ich, dass die Reduzierung der Jahre im Gymnasium sehr, sehr kontrovers diskutiert worden ist, weil sie dadurch in Curricula Veränderungen haben, die sehr viel stärker einige Kernfächer in den Mittelpunkt stellen, Fächer aber, bei denen man mehr in Dialogen spricht, in denen man mehr das Miteinander mit anderen Schülerinnen und Schülern erlernt, also Umgangsformen erlernt, in dem Curriculum zurücktreten. Von daher die Forderung mal wieder nach Ganztagsschulen, die Forderung mal wieder, die ganzen Kunst-, Musik-, Sportfächer reinzunehmen, die Lebenswelten der Schulen zu erhöhen.

    Senel: Auf diese nicht ganz so neuen Forderungen gehen wir gleich noch mal kurz ein. Sie haben jetzt einen Punkt angesprochen, nämlich die Reduzierung der Jahre zum Beispiel am Gymnasium, G8-Modell, haben Sie angesprochen. Das ist ja auch ein bestimmtes Verständnis von Bildung, die Leute sollen möglichst schnell auch auf den Markt kommen, sollen möglichst schnell ihre Abschlüsse machen.

    Allmendinger: Wir hatten dies möglichst schnell - das fasste ich eben unter den Begriff der Entschleunigung - sehr, sehr skeptisch gesehen. Wir haben jetzt nicht nur eine Reduktion auf acht Gymnasialjahre, sondern wir haben auch die Reduktion auf Bachelor, auch wenn dann einige das Master-Studium machen. Wir haben ein Immer-immer-schneller-auf-den-Markt-Gehen, und das ist genau das, was wir eigentlich für Innovationen in Deutschland so nicht gebrauchen können. Wir brauchen eine breite Bildung, die uns lehrt, selbst lernen zu können, weil permanentes Lernen gerade bei einem sich stark veränderten Arbeitsmarkt notwendig ist.

    Senel: Das ist aber momentan eine Tendenz, die so an den Schulen, die ja auch immer mehr als Unternehmen regelrecht verstanden werden, so nicht zu sehen ist, oder?

    Allmendinger: Das ist nicht zu sehen, also diese Budgetierung von Schulen und auch ein Wettbewerb zwischen Schulen, auch eine Autonomie von Schulen erachteten alle gestern auf dem Podium für absolut notwendig. Aber es kann nicht nur darum gehen, Inhalte von Schulen auf Abfragen, auf Auswendiglernen zu reduzieren, sondern wir müssen mehr in die Breite, und für die Breite brauchen wir schlichtweg mehr Zeit.

    Senel: Der Markt erfordert ja auch bestimmte Abschlüsse, bestimmte Qualifikationen. Gibt es da eine Möglichkeit, diese Perspektiven oder diese Erfordernisse zu vereinbaren miteinander?

    Allmendinger: Was wir feststellen, ist, dass die Personen, die nicht in den Genuss von höherer Bildung, von längerer Bildung kommen, extrem verlieren. Das heißt, wir haben durch Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, durch das Wegfallen von niedrig qualifizierten Tätigkeiten wirklich die Verantwortung, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, Bildungsarmut, die extrem stark noch in Deutschland ausgeprägt ist - ich sage nur ein Stichwort: 28 Prozent der 15-jährigen Jungs sind unterhalb notwendiger Kompetenzstufen -, diese zu reduzieren.

    Senel: Wenn ich Sie jetzt mal fragen würde, Sie hätten jetzt eine Möglichkeit, Ihren Traum für einen guten Bildungsweg zu formulieren, wie würde dieser Bildungsweg aussehen?

    Allmendinger: Dieser Bildungsweg würde ein stärker individualisierter Bildungsweg sein, weil wir wissen, dass gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten an Bildung ganz anders herangeführt werden müssen als Kinder, die ausbildungsreichen Elternhäusern sowieso schon viel an Bildung mitbekommen. Neben den Pädagogen an Schulen auch Sozialtherapeuten, Sozialpädagogen an den Schulen. Wir brauchen ganz dringend Ganztagsschulen, sodass man diese Nachmittagslöcher vermeidet und diesen unglaublichen Stress und auch die Angst, die dadurch erzeugt wird, bei den Kindern, aber auch bei den Eltern vor dem Schulversagen. Wir brauchen eine längere Phase des gemeinsamen Lernens, also nicht das Auseinanderdividieren von Kindern im Alter von zehn, elf oder zwölf Jahren, und wir brauchen Wege, die mal auch Umwege bedeuten, also ein Jahr aussetzen, dann wieder in eine Schule reingehen. Wir brauchen natürlich auch ganz andere Formen von Weiterbildung, die auf einer breiten Grundlage dann aufsetzen.

    Senel: Eine letzte Frage: Was war für Sie der Kern des kleinen Bildungsgipfels?

    Allmendinger: Der Kern des kleinen Bildungsgipfels war, dass wir innerhalb der Schule eine andere Lehr-, eine andere Lernkultur brauchen, um auch diese vielfältigen amorphen Definitionen von Bildung unseren jungen Personen zu vermitteln und weitergeben zu können.

    Senel: Vielen Dank, Jutta Allmendinger, Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin, für das Gespräch, danke!

    Allmendinger: Ich danke Ihnen!