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Für jedes Thema den richtigen Strich

Innerhalb von wenigen Jahren hat der 27-jährige Bastien Vivès mit einer Handvoll viel beachteter Bücher wie "Der Geschmack von Chlor" und "In meinen Augen" für Aufsehen gesorgt. In "Polina" beschreibt er den Werdegang einer Tänzerin – und reflektiert sein eigenes Schaffen.

Von Christian Gasser |
    In "Polina", sagt Bastien Vivès, habe er über die Kunst nachdenken wollen, über die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, über die Vermittlung von Wissen und Erfahrung, und über den kreativen Prozess.

    Mit sechs Jahren wird Polina in die Tanzschule des ebenso berühmten wie gefürchteten Tanzlehrers Bojinski aufgenommen. Bojinski, ein Meister des klassischen Balletts, fördert das außergewöhnliche Talent mit besonderer Strenge. Bojinski, so Vivès, lehrt Polina Dinge, die sie erst 25 Jahre später verstehen wird. Vor allem aber gibt er ihr das Wichtigste mit: Feuer, Ehrgeiz und Energie.

    Auf 200 Seiten schildert Bastien Vivès die Geschichte der Tänzerin Polina Ulianow: Nach ihrer Ausbildung landet sie in einem Moskauer Theater, dessen Choreografin auf zeitgenössischen Tanz schwört und ihr alles auszutreiben versucht, was Bojinski ihr beigebracht hat. Gleichzeitig willigt Polina ein, mit Bojinski ein klassisches Solo einzuüben, das er eigens für sie geschrieben hat.

    Der Spagat zwischen den unterschiedlichen Visionen vom Tanz wird zu groß; Polina stürzt in eine Krise und flieht nach Berlin, wo sie sich einer Gruppe von Musikern und Tänzern anschließt, sich öffnet: Das ist der Moment, so Vivès, wo sie sich bewusst wird, warum sie überhaupt tanzt und was sie eigentlich will.

    Der Tanz ist es auch, der in Vivès Zeichnungen das Innere der Persönlichkeiten zum Ausdruck bringt. Sein Augenmerk liegt auf den Körpern und ihren Bewegungen. Hintergründe fehlen oft ganz, vieles bleibt - wie im Text auch - nur skizzenhaft angedeutet und statt eines ausgeklügelten Farbkonzeptes wie in seinen früheren Alben begnügt sich Vivès hier mit Schwarz, Weiss und Beige.

    Einmal mehr zeigt hier ein großes Talent der französischen Comic-Szene seine traumwandlerisch sichere stilistische Vielseitigkeit. Der erst 27-jährige Bastien Vivès findet nicht nur für jedes Thema den richtigen Strich. Er ist auch ein Erzähler, der etwas zu sagen hat, ohne sich in bedeutungsschweren Diskursen zu verlieren. "Polina" ist flüssig und leicht erzählt und Vivès sorgt mit geschickt eingesetzten Ellipsen und Zeitsprüngen für Spannung und hat ein Ohr für lebensechte Dialoge.

    Während der letzten Jahre habe er leidenschaftlich Comics gezeichnet und auf alles andere verzichtet – das habe es ihm ermöglicht, sich so schnell zu entwickeln. Man braucht sich nicht für den Tanz zu interessieren, um von Polinas Lebensgeschichte gepackt zu werden. Schließlich geht es in "Polina" nicht in erster Linie um Tanz, sondern um die Kunst. Und um das Leben. Und um die Schwierigkeit, seine eigene Stimme zu finden.

    "Ich wollte einer gewissen Wahrheit meines Schaffens und meiner Erfahrungen auf den Grund kommen – und gleichzeitig gestalten, als eine Art Bilanz."