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Für Nazis schreiben

Die Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Eva Züchner rekonstruiert die Lebensgeschichte ihres Vaters, der nach Kriegsende 1945 verschwand, die Tochter war drei Jahre alt. Über die persönliche Ebene hinaus wird dabei eine exemplarische journalistische Karriere im Dritten Reich sichtbar.

Von Imogen Reisner | 21.01.2011
    Dass sich Kinder von ehemaligen Nationalsozialisten mit ihren Tätervätern öffentlich auseinandersetzen, ist in der Bundesrepublik nichts Ungewöhnliches, selbst wenn die Auseinandersetzung erst relativ spät einsetzte. Beispielhaft für diese Art der Vergangenheitsbewältigung sind Bücher wie "Die Reise" von Bernward Vesper, Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper, oder Peter Schneiders Geschichte "Vati", erzählt aus der Perspektive eines Mengele-Sohnes.

    Eine andere Sache ist es, sich mit einem Nazivater konfrontiert zu sehen, der im Leben des Kindes faktisch gar nicht präsent war, dessen oberflächliches Bild aber Harmonie und berufliche Kompetenz ausstrahlte. Wenn sich dann die anfangs harmlosen Spuren eines verschwundenen Journalisten im Bergwerk historischer Materialsammlungen als exemplarische Medienkarriere im Dritten Reich erweisen, ist das eine eher seltene Geschichte.

    Viel zu früh kam dem Mädchen, von dem hier die Rede ist, der Vater abhanden. Er verschwindet von der Bildfläche seines Lebens, als das Kind drei Jahre alt ist. Da das

    Vaterbild wie ein zementierter Hausaltar sowohl berufliches Können als auch unschuldigen Frieden in der Familie verkörperte, bleibt die anschließende Mystifikation des verloren gegangenen Familienoberhauptes nicht aus. Zumal das rätselhafte Verschwinden von filmreifen Umständen begleitet ist: Vier Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs klingeln zwei Männer an der Tür eines Einfamilienhauses mit Garten in Kleinmachnow bei Berlin. Ihre schwarzen Ledermäntel schimmern im kalten Glanz des Vollmonds. Im Walde drei, lautet die idyllische Adresse. Es ist schon spät in dieser Septembernacht des Jahres 1945. Die Männer wollen den Vater abholen zum Verhör. Sie sind Vertreter der sowjetischen Geheimpolizei GPU, und der Vater wird nie wieder nach Hause zurückkehren.

    Der verschwundene Journalist - die Zweite. Eine Tochter sucht ihren Vater. Es ist eine späte Suche, denn die Tochter ist bereits 60 Jahre alt, als sie beginnt, das von Zweifeln geprägte Vakuum zu schließen, das das Verschwinden des Vaters in ihre Lebensgeschichte eingebrannt hat. Die Tochter ist die 1942 geborene Literatur- und Geschichtswissenschaftlerin Eva Züchner, Autorin der vorliegenden Dokumentation "Der verschwundene Journalist". Der Mann, dessen Spuren sie mit außerordentlicher Akribie und wachsender Besessenheit verfolgt, ist der 1913 geborene Gerhart Weise, ihr Vater. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, ist er ein junger aufstrebender Journalist. Er besucht die Reichspresseschule in Berlin, arbeitet in verschiedenen Zeitungsredaktionen und schreibt gut lesbare Kritiken zu Filmen und Varietéveranstaltungen, Genres, die er ganz besonders liebt.

    "Aus diesen Splittern habe ich ein Bild geformt, das mir gefiel, von einem Vater, auf den ich stolz war. Du warst für mich ein begabter Journalist, ein schillernder Charakter und geheimnisvoller Eigenbrötler. Die Nazis waren dir zu ordinär, um ihnen angehören zu wollen, und hättest du überlebt, wärest du nach 1945 ein berühmter Schriftsteller geworden."

    So beschreibt Eva Züchner in der aufschlussreichen Einleitung ihre Ausgangssituation.

    Die Wirklichkeit der Jahre 33 bis 45 hat eine völlig andere Geschichte geschrieben. Davon legt "Der verschwundene Journalist. Eine deutsche Geschichte", wie der Untertitel lautet, ein beeindruckendes Zeugnis ab. Es ist umso bemerkenswerter, als Eva Züchner die erschütternden Ergebnisse ihrer Recherchen mit großer Aufrichtigkeit und archivarischer Fachkompetenz dokumentiert.

    Entstanden ist die streckenweise äußerst spannend verfasste Biografie eines charakterlich labilen Menschen, der als harmloser Kulturberichterstatter beginnt, sich aber alsbald willfährig mit den Nationalsozialisten einlässt. In ihren Diensten legt Gerhart Weise eine beispiellose Karriere hin. Obwohl er niemals Parteimitglied wird und während seiner gesamten Dienstzeit ohne plausible Gründe das Privileg u.k., unabkömmlich, genießt, arbeitet er sich bis zum Chefpropagandisten Joseph Goebbels hoch. In dessen Tagebüchern wird Weise sogar lobend erwähnt.

    Als ehemalige Kunsthistorikerin kennt sich Eva Züchner mit Archiv-Recherchen bestens aus. Was sie bei der Spurensuche quer durch die großen historischen Archive der Republik ans Licht befördert, sind Materialien aller Art aus der Feder ihres Vaters: Flüssig geschriebene Kritiken des Film- und Varietéliebhabers Gerhart Weise, anmaßende Ergüsse eines 20-jährigen ignoranten Volontärs über die - ich zitiere - "Folterkammer des Kunstgeschmacks der Stinkbomben Kandinsky, Schwitters, Grosz"; romantische Liebesschwüre sowie Kriegsberichte von der Front, die Weise nie gesehen hat. Als Journalist verfasst er Falschmeldungen und übelste Lügenpropaganda für die feindliche Auslandspresse, schreibt Durchhalteparolen für das menschliche Kanonenfutter an den vordersten Linien und betätigt sich schließlich noch als Co-Autor für den letzten NS-Propagandastreifen "Das Leben geht weiter". Eine Parole, die Weises Dienstherr Joseph Goebbels noch ausgegeben hatte, als alles längst verloren ist.

    Das letzte und übelste Beispiel für die Charakterlosigkeit ihres Vaters findet die Autorin in Prozessakten vom März 1944. Sie belegen eindeutig, dass Weise gegen Ende des Krieges sogar seinen Freund und Kollegen Erich Ohser verrät. Ohser, auch als Comiczeichner unter dem Namen e. o. plauen bekannt und berühmt, war wegen wehrkraftzersetzender Reden denunziert und verhaftet worden, und der Fall landete auf Weises Schreibtisch. Mit seiner Unterschrift besiegelte Gerhart Weise das Todesurteil für den Freund, der sich der Vollstreckung allerdings durch Selbstmord entzog.

    Am Beispiel eines Einzelfalls bringt Eva Züchner Berge toten Materials, das sie in jahrelanger Sisyphusarbeit in den weit verstreuten historischen Archiven gesichtet hat, zum Sprechen und montiert es zu einer exemplarischen Dokumentation einer journalistischen Karriere im Dritten Reich. Weil die Autorin dabei mit äußerster Akribie und an Besessenheit grenzender Detailtreue vorgeht, gelingt es ihr meisterhaft, die Jahre ideologischer Verblendung in ihren einzelnen systematischen Entwicklungsschritten wiederauferstehen zu lassen. Mit den Ergebnissen ihrer unbestechlichen Recherchearbeit bietet die Historikerin eine faszinierende Innenansicht der monströsen propagandistischen Maschinerie der Nationalsozialisten. Klar, verständlich und faktisch verdichtet durch die zahllosen historischen Dokumente belegt Eva Züchner mit ihrem Porträt vom"Verschwundenen Journalisten", wie perfide und zielgerichtet, schon früh nach Hitlers Machtergreifung, die geistige Umerziehung eines Volkes über die Inbesitznahme der Stabsstellen von Kunst, Kultur und Medien vonstattenging.

    Lange hat Eva Züchner in ihrem Vater den vermeintlich empfindsamen Intellektuellen gesehen, der, seinen vielseitigen Begabungen entsprechend, zu Recht Karriere machte. In ihrer Dokumentation "Der verschwundene Journalist" nimmt sie unter den Augen der Leser Abschied vom Bild dieses Vaters, den es so nie gegeben hat. Und sie verschweigt nicht, wie schmerzhaft und bitter diese Demontage für sie gewesen ist.

    "Mehr noch als die Erkenntnis, dass du ein Nazi warst, erschreckt mich der Gedanke an meine fehlgeleitete Wahrnehmung. Die Vorstellung eines solchen Vaters muss für mich so unerträglich gewesen sein, dass ich sie radikal ausgeblendet habe.
    Aber auch jetzt, beim genauen Hinsehen, finde ich in den Papierbergen der Archive den wirklichen Menschen nicht."

    Eva Züchner: "Der verschwundene Journalist. Eine deutsche Geschichte".
    Berlin Verlag, Berlin 2010, 288 Seiten, 24 Euro