Markus Dichmann: Aus Brennpunkt mach Talent - das ist in diesem Fall mehr als nur ein sprachlicher Kniff, wenn wir auf Nordrhein-Westfalen schauen. 60 Schulen sollen bis 2020 mit Extrafördermitteln zu Talentschulen umgeformt werden - 60 Schulen, die bisher eher als Brennpunktschulen bekannt waren. Diese Woche erst hat uns ja auch ein OECD-Bericht vor Augen geführt, wie ungerecht das deutsche Schulsystem ist, dass Schüler aus sozial schwachen Familien oft auch noch doppelt gestraft sind, weil sie eben auch eine sozusagen sozial schwache Schule besuchen. Und daher habe ich Yvonne Gebauer, die Schulministerin von Nordrhein-Westfalen, gefragt, ob diese Idee Talentschulen, die zwar schon im Koalitionsvertrag für NRW stehen, ausgerechnet jetzt hier und heute angekündigt, eine Reaktion auf diesen Bericht sind.
Yvonne Gebauer: Nein, das ist eine Umsetzung des Koalitionsvertrages. Wir haben ja das Konzept zu den Talentschulen bereits vor den Sommerferien nach Kabinettsbeschluss schon vorgestellt. Es zeigt aber trotzdem jetzt, weil Sie die OECD-Studie ansprechen, wie wichtig diese Talentschulen sind, weil wir tatsächlich hier, was das Thema Bildungsgerechtigkeit anbelangt, noch viel sozusagen Luft nach oben haben. Mit diesen Talentschulen wollen wir eben hier weiter Richtung Bildungsgerechtigkeit arbeiten.
Zusätzliches Personal, bessere Ausstattung
Dichmann: 35 Talent- statt Brennpunktschulen jetzt für 2019. 2020 dann noch mal weitere 25 dazu, sodass wir bei 60 landen. Wie werden die denn genau gefördert, wie sieht das konkret aus?
Gebauer: Es gibt mehrere Förderungen seitens des Landes. Also wir werden einmal mit zusätzlichem Personal die Schulen entsprechend unterstützen. Wir werden diese Schulen aber auch noch besser ausstatten, als das bisher der Fall gewesen ist, und wir stellen den Schulen insgesamt 150.000 Euro an Fortbildungsbudget zur Verfügung, mit dem dann entsprechend die Lehrerinnen und Lehrer speziell für ihre Konzepte, die sie an den Schulen ja dann auch zum Einsatz bringen möchten, sich fortbilden können.
Dichmann: Jetzt reden Sie von zusätzlichem Personal, Frau Gebauer, aber Lehrer fehlen ja jetzt schon in fast allen Schulformen. Woher soll denn das zusätzliche Personal herkommen?
Gebauer: Also wir haben, wir stellen ja über 400 Stellen für diese insgesamt nachher 60 Schulen zur Verfügung. Wir haben ausdrücklich gesagt, aufgrund der angespannten Situation, was den Lehrerbedarf anbelangt, dass diese Stellen nicht ausschließlich mit Lehrerinnen und Lehrern besetzt werden müssen, sondern dass hier auch die Schulen genau passgenau nach ihren Konzepten hier sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen können. Wir haben hier gerade bei den Grundschulen sehr gute Erfahrungen gemacht zum Sommer dieses Jahres. Zum Schuljahresbeginn haben wir 600 zusätzliche Stellen für sozipädagogische Fachkräfte den Schulen, den Grundschulen zur Verfügung gestellt, und so ähnlich können dann eben auch beim Schulversuch Talentschulen die weiterführenden Schulen sich ihr passgenaues Personal dann auch zusammenstellen.
"Wir drehen alles auf links"
Dichmann: In Berlin gibt es nun auch schon so gezielte Förderung von Brennpunktschulen. Da werden dann unter anderem tatsächlich auch die Lehrer besser bezahlt, wenn sie bereit sind, an einer solchen Schule zu unterrichten. Stellen Sie sich das auch so vor?
Gebauer: Na ja, wir arbeiten momentan an ganz vielen Maßnahmen, um die Lehrerversorgung entsprechend hier in Nordrhein-Westfalen massiv zu verbessern. Wir drehen alles auf links, um zu schauen, was wir noch tun können, um einerseits neue Lehrer, zusätzliche Lehrer, weil wir haben auch einen Bedarf an zusätzlichen Lehrern, und für einzelne Fächerkombinationen, dass wir diese bekommen werden, aber wir müssen auch schauen, wie wir die jetzige, momentane Situation meistern. Natürlich kann man und sollte man hier auch entsprechend über Sonderzuschläge nachdenken, und solche Abstimmungen müssen dann natürlich auch mit der Zustimmung des Ministeriums für Finanzen getroffen werden, und an dem Punkt sind wir noch nicht.
Eine zwölfköpfige Jury aus der pädagogischen Wissenschaft und der Gesellschaft
Dichmann: Wo ich doch etwas ins Staunen geraten bin, ist, als ich gelesen habe, dass für die Verleihung dieses Titels, oder dieses Projekttitels sozusagen Talentschule, eine Jury eingerichtet wurde, als würde es sich da um eine Art Talentwettbewerb handeln, wer hat eigentlich die schlimmste Schule in Nordrhein-Westfalen. Wie wird denn diese Jury arbeiten?
Gebauer: Nein, also die Jury soll … Das ist ja eine unabhängige Jury, das war uns ja wichtig, dass ich nicht als Ministerin hingehe und entsprechend hier Schulen zu Talentschulen bestimmen, sondern wir haben eine zwölfköpfige Jury bestimmt aus vielen Expertinnen und Experten, aus der Wissenschaft, aus der pädagogischen Wissenschaft, aber auch aus der Gesellschaft heraus, weil Schule ist ja ein Spiegelbild der Gesellschaft, und diese zwölf Expertinnen und Experten entscheiden dann gemeinsam unter dem Vorsitzenden Herrn Professor Terhart dann über die Auswahl der Schulen, die 35 jetzt, die zunächst an den Start gehen, und eben aus ihrem jeweiligen Blickwinkel, damit wir auch alle Bereiche in diesem Zusammenhang berücksichtigen.
Dichmann: Kritik an Ihrem Vorhaben, Frau Gebauer, kommt unter anderem von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen. Die sagen, zusätzliche Förderung für 60 Schulen kann natürlich nicht wettmachen, dass anschließend mehrere tausende, abertausende Schüler in Nordrhein-Westfalen nicht gefördert werden. Was würden Sie dieser Kritik entgegnen?
Gebauer: Na ja, also zunächst mal geht es darum, dass in allen Schulen, 6.000, die wir ja in Nordrhein-Westfalen haben, unsere Schülerinnen und Schüler gemäß ihrer Talente gefördert werden. Das ist Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern. Das ist jetzt nicht eine spezielle Förderung oder eine spezielle Maßnahme dieser Talentschulen. Wir suchen jetzt hier nur Schulen raus, die es aufgrund ihrer Lage, aufgrund ihrer Besonderheit eben auch besonders schwer haben, hier entsprechend vor Ort zu arbeiten, und diesen wollen wir durch die Maßnahmen, die ich bereits genannt habe, unsere Unterstützung zukommen lassen. Wir werden diesen Schulversuch evaluieren, um dann entsprechend das, was wir übertragen können, dann auch übertragen werden an unsere Schulen in Nordrhein-Westfalen. Es kann ja auch nicht sein, dass nur, weil es diese Schwierigkeiten gibt, die ja nicht über Nacht entstanden sind – der Lehrerbedarf war ja schon abzusehen, da sind ja leider von der Vorgängerregierung keine hinreichenden Maßnahmen getroffen worden –, aber nur weil die Situation so ist wie sie ist, kann man doch nicht auf Maßnahmen verzichten, sondern man muss doch jetzt auch entsprechend gerade in solchen Zeiten hingehen und mit einem Versuch – und der beginnt nicht in der Fläche, sondern tatsächlich dann mit einer geringen Anzahl –, mit einem Versuch dann eine bessere Schulentwicklung zu betreiben, dass wir hier die Kinder besser fördern, als das bisher in gerade diesen Stadtteilen mit besonderen Herausforderungen der Fall gewesen ist.
Dichmann: Sagt Yvonne Gebauer, FDP-Politikerin und Schulministerin in Nordrhein-Westfalen. Danke fürs Gespräch, Frau Gebauer!
Gebauer: Sehr gerne!
Dichmann: Und, wie eben schon gesagt, gehört zu den Kritikern dieses Schulversuches Talentschule in Nordrhein-Westfalen die dortige Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, also die GEW in Nordrhein-Westfalen, und jetzt darf ich die Vorsitzende der GEW in NRW in "Campus und Karriere" begrüßen, Dorothea Schäfer, bei uns in der Sendung. Grüße Sie, Frau Schäfer!
Bloß drei Prozent der Schulen
Dorothea Schäfer: Ja, hallo!
Dichmann: Sie sind nicht so ganz d’accord mit diesen Plänen aus dem Schulministerium.
Schäfer: Ja, es reicht uns nicht, um die sozialen Nachteile im Bildungsbereich zu überwinden, einen Schulversuch mit 60 Schulen zu machen, die etwa drei Prozent der Schulen ausmachen, die eigentlich zusätzliche Unterstützung brauchen. Das ist uns zu wenig. Wir wollen auch nicht sechs Jahre warten und dann die Evaluation dieses Schulversuches abwarten, um zu erkennen, dass Schulen an schwierigen Standorten mit schwierigen Lernausgangslagen für die Schülerinnen und Schüler bessere Leistung erbringen, besser arbeiten können, die Schülerinnen und Schüler besser abschließen können. Auf dieses Ergebnis können wir nicht warten. Vor allen Dingen können die Schülerinnen und Schüler nicht darauf warten.
Dichmann: Das heißt, aus Ihrer Sicht gibt es deutlich mehr Schulen, die diesen speziellen Förderbedarf haben, weil dort so viel schiefläuft?
Schäfer: Nicht weil es schiefläuft, sondern weil die eben besondere Herausforderungen haben. Wir haben etwa 1.800 Schulen mit Standort Typ 4 oder 5, das ist in Nordrhein-Westfalen ein schwieriger Standort, und dann zu sagen, wir bringen diese Schulen auch noch in Konkurrenz zueinander und eine Jury entscheidet dann, wer diese besonders guten Bedingungen bekommt, das sind dann insgesamt 60 Schulen, also wie gesagt, etwa drei Prozent, und dann wartet man sechs Jahre und wertet das aus, und das funktioniert nicht. Wir brauchen schneller für alle diese Schulen bessere Bedingungen.
Dichmann: Aber muss man nicht sehen, dass es gerade in NRW Schulen gibt, über die wir hier in "Campus und Karriere" auch immer mal wieder berichten, Schulen mit 80, 90, 95 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund, Schulen ohne Schulleiter, Schulen, denen die Dächer einstürzen, dass die jetzt akut zusätzliche Förderung brauchen und eben auch mehr als eine Schule in Münster oder im steinreichen Meerbusch oder so?
Schäfer: Ja, das ist ja genau unsere Forderung: Ungleiches ungleich behandeln. Wir haben auch eine Studie erstellen lassen, das ist auch nicht so, dass man jetzt noch keine Idee hat, wie man diese Schulen unterstützen kann. Es gibt verschiedene Wissenschaftler, die da schon große Untersuchungen zu gemacht haben im Projekt "Kein Kind zurücklassen", Thomas Groos oder auch andere. Deswegen können wir nicht einfach nur sagen, na ja, so 60, die werden jetzt mal einbezogen in so einen Schulversuch, alle anderen können mal warten, bis wir diesen Schulversuch ausgewertet haben, und dann ist ja auch klar, gute Bedingungen aus Schulversuchen werden nie in die Fläche gehen. Also es ist sowas wie ein Leuchtturmprojekt, so heißt es auch im Koalitionsvertrag, dass dann diese Leuchtturmprojekte positive Wirkung auf die Qualitätsentwicklung in allen Schulen entfalten. Wir sagen, wir brauchen für diese Schulen an schwierigen Standorten mit großen Herausforderungen, was die Zusammensetzung der Schülerschaft angeht, jetzt andere Bedingungen. Also die Ausschärfung des Sozialindexes, den es gibt in Nordrhein-Westfalen seit 2006, der aber zu unpräzise ist, der ist nur auf der Kreisebene formuliert und nicht schulbezogen.
Höhere Besoldung?
Dichmann: Jetzt wird möglicherweise in Nordrhein-Westfalen auch diskutiert werden, wie es dann auch in Berlin schon praktiziert wird, Lehrern, die sich bereiterklären, an so einer Talentschule dann zu arbeiten, auch möglicherweise einen höheren Sold zu zahlen. Jetzt sind Sie mit der GEW ja auch Vertretung von Lehrerinnen und Lehrern in Nordrhein-Westfalen – was halten Sie eigentlich davon, dass Lehrer in Zukunft dann möglicherweise verschieden gut bezahlt werden?
Schäfer: Ja, das haben wir sogar schon gefordert, aber eben, wie gesagt, nicht nur für 60 Schulen, die in einen Schulversuch aufgenommen werden, sondern für Schulen, die es schwer haben, überhaupt Lehrerinnen und Lehrer zu bekommen, weil der Markt sieht jetzt so aus: Es gibt viel mehr Stellen als Lehrkräfte, vor allen Dingen im Grundschulbereich, Berufskollegs, Sonderschulen, Förderschulen. Da haben wir viel mehr offene Stellen als Bewerberinnen und Bewerber. Eine Möglichkeit ist, so wie es Berlin eben schon macht, dort eine Zulage zu bezahlen für die Lehrkräfte oder ihnen auch einfach mehr Zeit zu geben für die Arbeit, weil da auch mehr Zeit notwendig ist, für Elterngespräche, für das Kümmern, was neben dem Unterricht auch alles noch gemacht werden muss.
Dichmann: Sagt Dorothea Schäfer, sie ist Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen. Danke fürs Gespräch, Frau Schäfer!
Schäfer: Ja, gerne!
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