Karin Fischer: Auf der Schwelle eines neuen Jahres überlegen sich viele Menschen, was sie anders machen sollen. Die guten Vorsätze, die gefasst, aber nie eingehalten werden, stehen sprichwörtlich dafür. Ein Wunsch, den viele haben und der fast revolutionäres Potenzial haben würde, wenn man ihn tatsächlich umsetzte, lautet zu Jahresbeginn: endlich mehr Zeit für mich! - Als Zeitforscher weiß Hartmut Rosa, dass wir uns mit diesem Wunsch, mit dieser Forderung, oft auch selbst in eine Zeitfalle begeben. Wie die aussieht, hat er mir vor der Sendung erzählt.
Hartmut Rosa: Ja, die sieht tatsächlich so aus, dass wir wider alle guten Einsichten und festen Vorsätze uns in Zwänge verfangen, in Handlungszwängen und einfach auch in Interaktionsproblemen, die es uns nicht erlauben, Zeit zu sparen. Also, genau genommen läuft dieses Spiel jetzt seit Jahren bei den meisten Menschen einzeln und auch bei kollektiven Akteuren, so was wie Universität oder Betriebe oder so, dass man sich jedes Mal vornimmt, wir müssen etwas am Zeitbudget, an der Zeitplanung, an der Zeitperspektive ändern, und dieser Wunsch bleibt komplett folgenlos. Also, er führt allenfalls noch dazu, dass man zusätzlich schlechtes Gewissen hat, weil man dann im neuen Jahr feststellt, dass wir einen weiteren Wunsch, nämlich diesen Wunsch, nicht erfüllt haben, also, was man sieht ...
Fischer: ... und warum ist das denn so?
Rosa: Ja, was man sieht, ist, dass die Zeitpraktiken, die Art und Weise, wie wir mit Zeit umgehen, sich geradezu immunisiert hat gegenüber unseren Vorstellungen davon, wie wir mit Zeit umgehen sollen. Und was man daran sieht - das ist für mich als Soziologen natürlich besonders interessant -, ist, dass wir es mit einem kollektiven Problem zu tun haben. Wir Soziologen reden gerne von einem Strukturproblem, das man nicht lösen kann dadurch, dass man sein eigenes Zeitmanagement oder seine Haltung zurzeit oder seine Lebensplanung ändert. Dafür gibt es verschiedene Faktoren, die da zusammenkommen. Häufig ist es so, dass wir ganz schlecht alleine entschleunigen können, langsamer machen, weil jede Entscheidung, etwas nicht zu tun, immer auch andere betrifft und berührt. Das ist manchmal nur die Familie, also, zu sagen, ich mache was nicht, fordert dann auch entsprechende Änderungen bei der Familie. Meistens sind es aber eben zum Beispiel die Betriebe oder es kann die Bürgerinitiative oder der Kirchenchor oder was immer es ist, wo wir aktiv sind, die Fußballmannschaft. Wenn ich sage, ich mache da jetzt nicht mit, dann leiden alle anderen mit darunter. Also, die Handlungsketten, in denen wir stehen, sind ganz lange geworden, und wenn man da ein Rädchen rausnimmt, stürzt häufig ein ganzes Gebäude mit zusammen. Und dann bewegen wir uns auch einfach in Erwartungsstrukturen, die wir kollektiv geschaffen haben. Also, man schickt eine E-Mail und erwartet eine Antwort und das ist eigentlich ein genereller Weltzustand. Das kann ich nicht lösen, dass ich meine eigene Haltung dazu ändere.
Fischer: Sie haben aber gerade schon ein Stichwort angesprochen, was wirklich auch ein Modewort geworden ist, nämlich Entschleunigung. Die Phänomene der Beschleunigung sind ja in den letzten Jahren oft beschrieben worden, also das Internet, die Möglichkeit der totalen Vernetzung auch mit den entferntesten Teilen der Welt, das Teilhabe ermöglicht, aber eben auch den von Ihnen gerade erwähnten Zwang beinhaltet, immer online oder erreichbar oder kommunikativ zu sein. Die Arbeitswelt hat sich mit diesen neuen Technologien sehr verändert, aber auch die private Kommunikation. Und nun ist Entschleunigung zum freiwilligen Mantra vieler Menschen geworden und das klingt gut, obwohl es, wie Sie gerade versucht haben zu beschreiben, auch ein bisschen schizophren ist. Aber warum genau, warum fällt uns das persönlich so schwer?
Rosa: Ja, das ist schon erstaunlich, Sie haben gerade gesagt, das ist zum Mantra geworden oder so. Was wir uns an uns selber beobachten können, ist, dass das ein richtiger Kraft- und Willensakt ist, der auch meistens eine Veränderung sogar des Ortes voraussetzt, dass wir mal entschleunigen können. Also, viele Menschen sagen, ich muss jetzt mal was tun gegen mein Gefühl des dauernden Gehetztseins, auch der Überforderung, und dann schaffen sie sich eine Situation oder fahren irgendwo hin, wo sie nicht mehr erreichbar sein können. Also, man fährt ins Kloster oder in die Berge und jubiliert innerlich, dass man sich es mal leistet, an einen Ort zu gehen, an dem es kein Internet, kein Fernsehen, kein Handy, vielleicht auch keinen ICE-Anschluss oder so etwas gibt. Da sieht man, dass Menschen, also die Praktiken, die Art und Weise, wie wir leben, nicht von uns selbst bestimmt werden, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern von Kontextbedingungen abhängen. Dass dieses Gefühl, ich müsste ganz viele Dinge tun, verschwindet, das verschwindet erst dann, wenn ich es wirklich nicht mehr kann. Ich kaufe mir kein Handy, haben viele Menschen lange Zeit gesagt, oder, ich will keinen Internetanschluss. Und irgendwann werden wir doch reif dafür oder tun es, weil wir sagen, na ja, ich kann ja selber entscheiden, ob ich das Ding nutze oder nicht. Und dann sieht man aber, dass die Technik sich selbstständig macht, dass wir sozusagen nicht die souveränen Akteure sind, sondern dass dann eine zeitliche Eigenlogik von diesen Geräten ausgeht. Und die können wir erst sozusagen durchbrechen, wenn wir sie unerreichbar für uns machen. Und so erscheint uns inzwischen als totaler Luxus, was früher Zeichen von Rückständigkeit war, nämlich ein Ort, an dem es diese ganzen Technologien nicht gibt.
Fischer: Wir erleben mit der Finanz- und Euro-Krise gerade auch so etwas wie den Kollaps lange geglaubter Wahrheiten, die sich am Ende dann aber doch immer auch als sehr robust erweisen im Zweifel. Jeder weiß inzwischen, dass es mit dem Wirtschaftswachstum eigentlich nicht immer so weiter gehen kann, und trotzdem ändert sich praktisch nichts. Und deswegen haben sich viele Menschen im vergangenen Jahr als machtlos und ohnmächtig empfunden. Ist das Zeit-Empfinden etwas, das mit solchen Wahrnehmungen der Ohnmacht irgendwie korreliert?
Rosa: Ja, ich glaube, das tut es ganz stark. Das ist überhaupt ein Signum unserer Zeit, dass wir uns nicht mehr als die Akteure, als die Subjekte des Tuns verstehen, sondern als die Opfer geradezu, als die passiven Gegenstände, in die wir uns selbst verfangen haben. Und ich glaube, das hängt, was Sie gerade angesprochen haben, mit der Wachstumslogik, mit der Steigerungslogik moderner Gesellschaften zusammen. Diese Gesellschaft hat in ihrer Struktur die Steigerungslogiken eingebaut, die zunächst als Versprechen erschienen und inzwischen eher als Zwänge erscheinen. Wir steigern die Zahl in der Ökonomie, die Produkte, die wir herstellen, und konsumieren jedes Jahr, aber auch die Optionen, die Handlungsmöglichkeiten, die Kontaktmöglichkeiten. Und das erschien uns zwei Jahrhunderte lang oder 250 Jahre lang als ein Fortschritt, als eine Bewegung auf einen besseren Horizont zu, und inzwischen ist es aber so, dass wir erkannt haben, wir können gar nicht mehr. Also, es ist eigentlich nicht die Gier, die uns treibt, das Verlangen nach immer mehr, sondern der Zwang zur Erhaltung des Status quo. Das sehen Sie gut an der Wirtschaft, weil Sie das angesprochen haben mit der Energiekrise, die damit verbunden ist: Es ist nicht die Gier, die uns zwingt, die Wirtschaft wachsen zu lassen, sondern die Angst davor, dass wir ohne Wachstum in die Krise geraten. Und wir geraten auch tatsächlich in die Krise, unser ökonomisches System kann gar nicht leben, ohne zu wachsen im Moment. Und das ist genau der Grund und der Punkt, an dem wir uns als Opfer erfahren: Wir müssen jetzt wachsen. Wir wachsen nicht, weil wir das wollen, weil das Leben immer besser wird durch immer mehr Technologien und Güter, sondern weil die ökonomischen, die politischen Systeme daran hängen. Und das ist auch ein bisschen so bei den Individuen: Wir fühlen uns gezwungen, viele Kontakte zu haben, sozusagen ganz viele Aufgaben zu erledigen. Nicht, weil wir das als souveräne, selbstbestimmte Subjekte so wollen im Sinne einer Verbesserung der Lebensführung, sondern weil wir Angst haben, dass wir sonst abrutschen. Ich glaube, dieses Steigerungsspiel ist angstgetrieben und nicht giergetrieben, und deshalb ist es so schlecht zu lösen.
Fischer: Lassen Sie uns zur Kunst oder zur Kultur kommen: Sie haben Kunsthallen und Theater mal als mögliche Oasen der Entschleunigung bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Rosa: Ich glaube, dass die Kunst uns tatsächlich noch Erfahrungsräume offenhält und manchmal auch erschließt, in denen andere Zeitrhythmen, auch andere Zeithorizonte spürbar und erlebbar werden. Kunstwerke haben etwas, was Zeitforscher als Eigenzeiten häufig bezeichnen, das heißt, sie folgen einer eigenen temporalen Logik, die entfernt ist und manchmal weit entfernt ist von der gehetzten, atemlosen Zeit unseres modernen ökonomischen und kulturellen Lebens in anderer Hinsicht. Auf Kunstwerke sich einzulassen - das können Musikstücke sein, das können Bilder sein oder andere Formen, Theaterstücke zum Beispiel - erfordert das Eintauchen in andere zeitliche Perspektiven. Das können andere Epochen sein, das kann aber auch die Eigenlogik eines Kunstwerks sein, die Eigenzeit etwa eines Musikstückes. Und in der Regel sind wir dort, wo wir uns auf solche Kunst einlassen, also im Museum oder im Konzertsaal oder auch im Theater, auch ein bisschen stillgestellt, wir können dann nicht. Also, wenn Sie in einer Konzertaufführung zum Beispiel sind, können Sie gar nicht weglaufen und Sie können auch nicht die SMS schicken oder e-mailen oder telefonieren. Das heißt, diese Räume entlasten uns von einem unmittelbaren Handlungsdruck der Alltagswelt und zwingen uns oder ermöglichen es uns auch, in eine reflexive Distanz zu unserem eigenen Zeiterleben und eigener Zeitpraktik zu kommen. Und gleichzeitig bieten sie uns andere Zeithorizonte, Zeiterfahrungen und andere Zeitmuster an, sodass ich glaube, für unsere Beschleunigungskultur ist das ein ganz wichtiger Gegenhorizont und Gegenraum, der tatsächlich auch so was wie Entschleunigungsutopien spürbar werden lassen kann.
Fischer: Nun hat ja aber zum Beispiel die Videokunst schon immer die Technik der Neuen Medien einerseits reflektiert, aber andererseits auch nachgeahmt. Haben Sie ein Beispiel aus der Kunst der jüngeren Zeit oder der letzten Jahre, die uns dieses Zeitphänomen oder dieses Entschleunigungsphänomen vielleicht direkter vor Augen führen kann?
Rosa: Also, tatsächlich glaube ich auch, dass die Zeitmuster der Kunst ambivalent sind, weil sie in vielerlei Hinsicht auch die Beschleunigungslogiken der modernen Welt widerspiegeln. Das hatten Sie gerade genannt, bei Videoinstallationen zum Beispiel oder auch bei Event-Kunst sozusagen, wo ganz schnell ganz viel passiert und wo der Besucher auch einbezogen wird in manchmal hektisches Geschehen. Aber natürlich gibt es so Sachen wie John Cage in Halberstadt oder so, ...
Fischer: ... ja ...
Rosa: ... wo ein Orgelstück über Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg aufgeführt wird, wo also tatsächlich eine ganz andere Zeitlogik buchstäblich erfahrbar gemacht werden soll. Und in gewisser Weise ist natürlich jede Wagner-Oper, in die Sie hineingehen, ein ja geradezu monströses Entschleunigungskunstwerk, weil es einen zwingt, viereinhalb Stunden oder so sich mit einer einzigen Sache zu beschäftigen. Also, die Eigenstruktur oder die Eigenzeitlichkeit solcher Kunstwerke wird in vielerlei Hinsichten erfahrbar gemacht.
Fischer: Der Zeitforscher Hartmut Rosa, dem wir neun Minuten geschenkt haben zum Jahresbeginn!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"
Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit
Teil III - Gesine Schwan über Demokratie und Gemeinsinn
Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache
Teil V - Kulturpolitikerin Monika Grütters über die Rolle der Kultur in multi-ethnischen Gesellschaften
Teil VI - Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski über die Chancen des Philosophierens
Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet
Teil VIII - Die Schriftstellerin Juli Zeh über Krisenhysterie und Schwangersein
Hartmut Rosa: Ja, die sieht tatsächlich so aus, dass wir wider alle guten Einsichten und festen Vorsätze uns in Zwänge verfangen, in Handlungszwängen und einfach auch in Interaktionsproblemen, die es uns nicht erlauben, Zeit zu sparen. Also, genau genommen läuft dieses Spiel jetzt seit Jahren bei den meisten Menschen einzeln und auch bei kollektiven Akteuren, so was wie Universität oder Betriebe oder so, dass man sich jedes Mal vornimmt, wir müssen etwas am Zeitbudget, an der Zeitplanung, an der Zeitperspektive ändern, und dieser Wunsch bleibt komplett folgenlos. Also, er führt allenfalls noch dazu, dass man zusätzlich schlechtes Gewissen hat, weil man dann im neuen Jahr feststellt, dass wir einen weiteren Wunsch, nämlich diesen Wunsch, nicht erfüllt haben, also, was man sieht ...
Fischer: ... und warum ist das denn so?
Rosa: Ja, was man sieht, ist, dass die Zeitpraktiken, die Art und Weise, wie wir mit Zeit umgehen, sich geradezu immunisiert hat gegenüber unseren Vorstellungen davon, wie wir mit Zeit umgehen sollen. Und was man daran sieht - das ist für mich als Soziologen natürlich besonders interessant -, ist, dass wir es mit einem kollektiven Problem zu tun haben. Wir Soziologen reden gerne von einem Strukturproblem, das man nicht lösen kann dadurch, dass man sein eigenes Zeitmanagement oder seine Haltung zurzeit oder seine Lebensplanung ändert. Dafür gibt es verschiedene Faktoren, die da zusammenkommen. Häufig ist es so, dass wir ganz schlecht alleine entschleunigen können, langsamer machen, weil jede Entscheidung, etwas nicht zu tun, immer auch andere betrifft und berührt. Das ist manchmal nur die Familie, also, zu sagen, ich mache was nicht, fordert dann auch entsprechende Änderungen bei der Familie. Meistens sind es aber eben zum Beispiel die Betriebe oder es kann die Bürgerinitiative oder der Kirchenchor oder was immer es ist, wo wir aktiv sind, die Fußballmannschaft. Wenn ich sage, ich mache da jetzt nicht mit, dann leiden alle anderen mit darunter. Also, die Handlungsketten, in denen wir stehen, sind ganz lange geworden, und wenn man da ein Rädchen rausnimmt, stürzt häufig ein ganzes Gebäude mit zusammen. Und dann bewegen wir uns auch einfach in Erwartungsstrukturen, die wir kollektiv geschaffen haben. Also, man schickt eine E-Mail und erwartet eine Antwort und das ist eigentlich ein genereller Weltzustand. Das kann ich nicht lösen, dass ich meine eigene Haltung dazu ändere.
Fischer: Sie haben aber gerade schon ein Stichwort angesprochen, was wirklich auch ein Modewort geworden ist, nämlich Entschleunigung. Die Phänomene der Beschleunigung sind ja in den letzten Jahren oft beschrieben worden, also das Internet, die Möglichkeit der totalen Vernetzung auch mit den entferntesten Teilen der Welt, das Teilhabe ermöglicht, aber eben auch den von Ihnen gerade erwähnten Zwang beinhaltet, immer online oder erreichbar oder kommunikativ zu sein. Die Arbeitswelt hat sich mit diesen neuen Technologien sehr verändert, aber auch die private Kommunikation. Und nun ist Entschleunigung zum freiwilligen Mantra vieler Menschen geworden und das klingt gut, obwohl es, wie Sie gerade versucht haben zu beschreiben, auch ein bisschen schizophren ist. Aber warum genau, warum fällt uns das persönlich so schwer?
Rosa: Ja, das ist schon erstaunlich, Sie haben gerade gesagt, das ist zum Mantra geworden oder so. Was wir uns an uns selber beobachten können, ist, dass das ein richtiger Kraft- und Willensakt ist, der auch meistens eine Veränderung sogar des Ortes voraussetzt, dass wir mal entschleunigen können. Also, viele Menschen sagen, ich muss jetzt mal was tun gegen mein Gefühl des dauernden Gehetztseins, auch der Überforderung, und dann schaffen sie sich eine Situation oder fahren irgendwo hin, wo sie nicht mehr erreichbar sein können. Also, man fährt ins Kloster oder in die Berge und jubiliert innerlich, dass man sich es mal leistet, an einen Ort zu gehen, an dem es kein Internet, kein Fernsehen, kein Handy, vielleicht auch keinen ICE-Anschluss oder so etwas gibt. Da sieht man, dass Menschen, also die Praktiken, die Art und Weise, wie wir leben, nicht von uns selbst bestimmt werden, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern von Kontextbedingungen abhängen. Dass dieses Gefühl, ich müsste ganz viele Dinge tun, verschwindet, das verschwindet erst dann, wenn ich es wirklich nicht mehr kann. Ich kaufe mir kein Handy, haben viele Menschen lange Zeit gesagt, oder, ich will keinen Internetanschluss. Und irgendwann werden wir doch reif dafür oder tun es, weil wir sagen, na ja, ich kann ja selber entscheiden, ob ich das Ding nutze oder nicht. Und dann sieht man aber, dass die Technik sich selbstständig macht, dass wir sozusagen nicht die souveränen Akteure sind, sondern dass dann eine zeitliche Eigenlogik von diesen Geräten ausgeht. Und die können wir erst sozusagen durchbrechen, wenn wir sie unerreichbar für uns machen. Und so erscheint uns inzwischen als totaler Luxus, was früher Zeichen von Rückständigkeit war, nämlich ein Ort, an dem es diese ganzen Technologien nicht gibt.
Fischer: Wir erleben mit der Finanz- und Euro-Krise gerade auch so etwas wie den Kollaps lange geglaubter Wahrheiten, die sich am Ende dann aber doch immer auch als sehr robust erweisen im Zweifel. Jeder weiß inzwischen, dass es mit dem Wirtschaftswachstum eigentlich nicht immer so weiter gehen kann, und trotzdem ändert sich praktisch nichts. Und deswegen haben sich viele Menschen im vergangenen Jahr als machtlos und ohnmächtig empfunden. Ist das Zeit-Empfinden etwas, das mit solchen Wahrnehmungen der Ohnmacht irgendwie korreliert?
Rosa: Ja, ich glaube, das tut es ganz stark. Das ist überhaupt ein Signum unserer Zeit, dass wir uns nicht mehr als die Akteure, als die Subjekte des Tuns verstehen, sondern als die Opfer geradezu, als die passiven Gegenstände, in die wir uns selbst verfangen haben. Und ich glaube, das hängt, was Sie gerade angesprochen haben, mit der Wachstumslogik, mit der Steigerungslogik moderner Gesellschaften zusammen. Diese Gesellschaft hat in ihrer Struktur die Steigerungslogiken eingebaut, die zunächst als Versprechen erschienen und inzwischen eher als Zwänge erscheinen. Wir steigern die Zahl in der Ökonomie, die Produkte, die wir herstellen, und konsumieren jedes Jahr, aber auch die Optionen, die Handlungsmöglichkeiten, die Kontaktmöglichkeiten. Und das erschien uns zwei Jahrhunderte lang oder 250 Jahre lang als ein Fortschritt, als eine Bewegung auf einen besseren Horizont zu, und inzwischen ist es aber so, dass wir erkannt haben, wir können gar nicht mehr. Also, es ist eigentlich nicht die Gier, die uns treibt, das Verlangen nach immer mehr, sondern der Zwang zur Erhaltung des Status quo. Das sehen Sie gut an der Wirtschaft, weil Sie das angesprochen haben mit der Energiekrise, die damit verbunden ist: Es ist nicht die Gier, die uns zwingt, die Wirtschaft wachsen zu lassen, sondern die Angst davor, dass wir ohne Wachstum in die Krise geraten. Und wir geraten auch tatsächlich in die Krise, unser ökonomisches System kann gar nicht leben, ohne zu wachsen im Moment. Und das ist genau der Grund und der Punkt, an dem wir uns als Opfer erfahren: Wir müssen jetzt wachsen. Wir wachsen nicht, weil wir das wollen, weil das Leben immer besser wird durch immer mehr Technologien und Güter, sondern weil die ökonomischen, die politischen Systeme daran hängen. Und das ist auch ein bisschen so bei den Individuen: Wir fühlen uns gezwungen, viele Kontakte zu haben, sozusagen ganz viele Aufgaben zu erledigen. Nicht, weil wir das als souveräne, selbstbestimmte Subjekte so wollen im Sinne einer Verbesserung der Lebensführung, sondern weil wir Angst haben, dass wir sonst abrutschen. Ich glaube, dieses Steigerungsspiel ist angstgetrieben und nicht giergetrieben, und deshalb ist es so schlecht zu lösen.
Fischer: Lassen Sie uns zur Kunst oder zur Kultur kommen: Sie haben Kunsthallen und Theater mal als mögliche Oasen der Entschleunigung bezeichnet. Was meinen Sie damit?
Rosa: Ich glaube, dass die Kunst uns tatsächlich noch Erfahrungsräume offenhält und manchmal auch erschließt, in denen andere Zeitrhythmen, auch andere Zeithorizonte spürbar und erlebbar werden. Kunstwerke haben etwas, was Zeitforscher als Eigenzeiten häufig bezeichnen, das heißt, sie folgen einer eigenen temporalen Logik, die entfernt ist und manchmal weit entfernt ist von der gehetzten, atemlosen Zeit unseres modernen ökonomischen und kulturellen Lebens in anderer Hinsicht. Auf Kunstwerke sich einzulassen - das können Musikstücke sein, das können Bilder sein oder andere Formen, Theaterstücke zum Beispiel - erfordert das Eintauchen in andere zeitliche Perspektiven. Das können andere Epochen sein, das kann aber auch die Eigenlogik eines Kunstwerks sein, die Eigenzeit etwa eines Musikstückes. Und in der Regel sind wir dort, wo wir uns auf solche Kunst einlassen, also im Museum oder im Konzertsaal oder auch im Theater, auch ein bisschen stillgestellt, wir können dann nicht. Also, wenn Sie in einer Konzertaufführung zum Beispiel sind, können Sie gar nicht weglaufen und Sie können auch nicht die SMS schicken oder e-mailen oder telefonieren. Das heißt, diese Räume entlasten uns von einem unmittelbaren Handlungsdruck der Alltagswelt und zwingen uns oder ermöglichen es uns auch, in eine reflexive Distanz zu unserem eigenen Zeiterleben und eigener Zeitpraktik zu kommen. Und gleichzeitig bieten sie uns andere Zeithorizonte, Zeiterfahrungen und andere Zeitmuster an, sodass ich glaube, für unsere Beschleunigungskultur ist das ein ganz wichtiger Gegenhorizont und Gegenraum, der tatsächlich auch so was wie Entschleunigungsutopien spürbar werden lassen kann.
Fischer: Nun hat ja aber zum Beispiel die Videokunst schon immer die Technik der Neuen Medien einerseits reflektiert, aber andererseits auch nachgeahmt. Haben Sie ein Beispiel aus der Kunst der jüngeren Zeit oder der letzten Jahre, die uns dieses Zeitphänomen oder dieses Entschleunigungsphänomen vielleicht direkter vor Augen führen kann?
Rosa: Also, tatsächlich glaube ich auch, dass die Zeitmuster der Kunst ambivalent sind, weil sie in vielerlei Hinsicht auch die Beschleunigungslogiken der modernen Welt widerspiegeln. Das hatten Sie gerade genannt, bei Videoinstallationen zum Beispiel oder auch bei Event-Kunst sozusagen, wo ganz schnell ganz viel passiert und wo der Besucher auch einbezogen wird in manchmal hektisches Geschehen. Aber natürlich gibt es so Sachen wie John Cage in Halberstadt oder so, ...
Fischer: ... ja ...
Rosa: ... wo ein Orgelstück über Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg aufgeführt wird, wo also tatsächlich eine ganz andere Zeitlogik buchstäblich erfahrbar gemacht werden soll. Und in gewisser Weise ist natürlich jede Wagner-Oper, in die Sie hineingehen, ein ja geradezu monströses Entschleunigungskunstwerk, weil es einen zwingt, viereinhalb Stunden oder so sich mit einer einzigen Sache zu beschäftigen. Also, die Eigenstruktur oder die Eigenzeitlichkeit solcher Kunstwerke wird in vielerlei Hinsichten erfahrbar gemacht.
Fischer: Der Zeitforscher Hartmut Rosa, dem wir neun Minuten geschenkt haben zum Jahresbeginn!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"
Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit
Teil III - Gesine Schwan über Demokratie und Gemeinsinn
Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache
Teil V - Kulturpolitikerin Monika Grütters über die Rolle der Kultur in multi-ethnischen Gesellschaften
Teil VI - Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski über die Chancen des Philosophierens
Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet
Teil VIII - Die Schriftstellerin Juli Zeh über Krisenhysterie und Schwangersein