Christoph Heinemann: Eine Woche nach der gewaltsamen Räumung ihrer Protestcamps haben die Anhänger des abgesetzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi zu neuen Protesten aufgerufen. In einem Aufruf riefen islamistische Gruppen zu Demonstrationen am Freitag der Märtyrer auf. Das verheißt nichts Gutes – die Aktionen richten sich gegen die Machtübernahme durch das Militär und die fortdauernde Inhaftierung des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens. Unterdessen wurde in Kairo bekannt, dass der frühere ägyptische Staatschef Husni Mubarak bei einer möglichen Entlassung aus dem Gefängnis nach Medienangaben unter Hausarrest gestellt werden soll, das habe die Armeeführung im Rahmen des Notstands, der in Ägypten derzeit gilt, angeordnet – das berichtete wiederum das Staatsfernsehen. Ein Gericht hatte zuvor die Freilassung Mubaraks angeordnet.
Darüber hat mein Kollege Gerd Breker mit Henner Fürtig gesprochen, dem Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien. GIGA steht für German Institute of Global and Area Studies. Ex-Präsident Mubarak vor der Freilassung, die Muslimbruderschaft vor einem erneuten Verbot – dreht das derzeitige Regime die Uhr zurück in die Zeit vor dem arabischen Frühling?
Henner Fürtig: Ja, das erinnert fast an 1954, als der damalige Präsident Nasser die Muslimbrüderschaft verboten hat – er hat sie auch nicht nur verboten, sondern auch verfolgt, ihre Führer inhaftiert und ermordet. Er hat sie erheblich geschwächt, aber er konnte sie nicht ausschalten. Die Muslimbrüderschaft besteht seit 1928, und auch jetzt muss man davon ausgehen, dass man sie zwar schwächen kann, aber ich bezweifle, dass man sie komplett ausschalten kann.
Gerd Breker: Mit aller Härte geht das Militär gegen die Islamisten vor, die oberen Köpfe werden verhaftet, Großdemonstrationen beschossen – drängt man die Muslimbruderschaft geradezu in den Untergrund?
Fürtig: Man gewinnt den Eindruck. Man konnte sich ja immerhin nach dem 3. Juli, nach dem Sturz Mursis, immerhin eine Option vorstellen, dass man die Widersprüche und Unterschiede in den verschiedenen Fraktionen der Muslimbrüderschaft durchaus ausnutzt, um sie in ihren moderaten Teilen durchaus für einen Neuanfang zu gewinnen, und die hierarchisch organisierten, doch sehr konservativen, vor allen Dingen älteren Kräfte in der Muslimbrüderschaft tatsächlich zu marginalisieren. Das hätte allerdings ein bisschen größere politische Expertise vorausgesetzt und natürlich auch die Bereitschaft, das zu tun. Man hat sich für den Frontalangriff entschieden, und es steht noch aus, ob da jemals eine Antwort gegeben werden kann, ob das politisch besonders klug war.
Breker: Kommenden Freitag soll Tag der Märtyrer werden, dazu rufen die Mursi-Anhänger auf – das wird ein blutiger Freitag werde, das weiß man schon jetzt.
Fürtig: Das kann man wirklich, wenn man die Erfahrung der letzten Tage, auch vor allen Dingen des letzten Freitags und des letzten Mittwochs zurate zieht, ohne große Fantasie voraussagen. Und wie gesagt, man macht die Muslimbrüder zu dem, was sie am besten können, nämlich zu politischen Märtyrern, die sehr, sehr klug mit der Behauptung hausieren gehen, dass, egal wie eine Wahl, wie eine demokratisch organisierte Wahl – und das hat auch der Westen anerkannt – ausgehen mag, die konservativen Kreise inklusive des Westens werden niemals dulden, dass islamistische Kräfte eine Regierung führen. Das ist natürlich eine Märtyrersaga, die eine erhebliche Sprengkraft hat.
Breker: Droht der Bürgerkrieg?
Fürtig: Der Bürgerkrieg ist natürlich immer sehr schnell herbeizitiert. Es gibt auch international und auch wissenschaftlich akademische Dimensionen und Größenordnungen, um diesem Begriff vor der Inflation zu schützen. Also auf wissenschaftlicher Basis geht man davon aus, und zwar nach gesicherten Zahlen, dass bei einer Opfergröße in einem angegebenen Zeitraum von etwa 2000 tatsächlichen Toten die Dimension eines Bürgerkriegs erreicht ist. Nun weiß ich nicht, wer hier welche Seiten oder die Seiten zählen unterschiedlich, aber ich würde mich immer noch davor hüten.
Breker: Die neue Regierung behauptet, einen Plan zur Rückkehr zur Demokratie zu haben. Wie glaubhaft ist das?
Fürtig: Ja, das kommt drauf an, wie man die Demokratie definiert. Zunächst muss man erst mal sagen, dass ein demokratisch gewählter Präsident, was man immer auch von ihm halten mag, und welche kapitalen Fehler – das ist unstrittig – er gemacht haben mag, man hat diesen Präsidenten gewaltsam aus seinem Amt entfernt. Insofern steht natürlich jetzt jeder demokratische Neuanfang vor einem großen Zweifel. Man muss sich auch anhand der vielen, vielen Opfer und der tiefen Gräben in der ägyptischen Gesellschaft schon fragen, wie denn ein demokratischer Neuanfang organisiert werden soll.
Breker: Wer hat denn jetzt eigentlich die Macht in Ägypten. Sind es nicht die alten Kräfte, die schon unter Mubarak die Geschicke des Landes bestimmt haben?
Fürtig: Das mag in Teilen der Fall sein, aber nicht in der großen Mehrzahl, denn es waren ja vor allen Dingen auch Kräfte des Militärs und Teile der alten Elite, die sich daran gestoßen haben, dass der Teil derer, die an der ägyptischen Wirtschaft partizipieren und vor allen Dingen profitieren, immer kleiner geworden ist. Das war vor allen Dingen die Clique um den Mubarak und Gamal, die sich maßlos bereichert haben und immer größere Teile auch der gerade von mir zitierten älteren oder alten Elite an die Seite gedrängt haben. Die werden nicht dulden, dass die Mubarak-Umstände sich tatsächlich wieder erholen, da würden sie ein weiteres Mal verlieren.
Breker: Kann man eigentlich so tun, als hätte es den ägyptischen Frühling gar nicht gegeben?
Fürtig: Das wäre mit Sicherheit verfrüht, denn ich glaube, eine der ganz wichtigen Erfahrungen und Lehren, die das Jahr 2011 gegeben hat, und die immer noch Millionen Ägypter in den Köpfen haben, ist die Erfahrung, und zwar die gelebte Erfahrung auf der Straße, dass Protest, dass das Aufbegehren tatsächlich Veränderungen herbeiführen kann. Das ist eine Revolution auch in den Köpfen gewesen, nach Jahrzehnten der Apathie, nach Jahrzehnten der Diktatur – Aufbegehren Revolte lohnt sich, man kann etwas verändern, es ist möglich. Und das kriegt man so schnell aus den Köpfen nicht heraus.
Breker: Ein Element dieses Frühlings war ja auch die soziale Frage. Die Menschen wollten einfach eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Daran sind die Muslimbrüder gescheitert. Scheitert daran möglicherweise auch die jetzige Regierung?
Fürtig: Das ist natürlich eine ganz elementare Forderung und Herausforderung. Die jetzige Regierung hat auf jeden Fall bessere Ausgangsbedingungen als die Muslimbrüderschaft, die ja von den reichen Staaten am Golf de facto am ausgestreckten Arm aus politisch-ideologischen Gründen verhungern gelassen wurde. Jetzt hat sich ganz klar herausgestellt, die Golfmonarchien haben ja ganz klar signalisiert, dass sie bereit sind, jede Lücke, die eventuell ausbleibende Hilfszahlungen aus dem Westen hinterlassen, in diese Lücke zu springen, sie auszufüllen. Ich glaube, die unmittelbare Finanzausstattung ist gegenwärtig nicht die größte Sorge der Übergangsregierung.
Breker: Der Einfluss des Westens – gestern haben die EU-Außenminister das Aussetzen der Waffenlieferungen beschlossen. Hat Europa überhaupt einen großartigen Einfluss?
Fürtig: Er ist auf jeden Fall zurückgegangen, wie auch der der USA. Auch die Amerikaner haben ja erhebliche Schwierigkeiten, den Umsturz, die Entfernung Mursis aus dem Amt tatsächlich mit einem Wort zu definieren. Sie vermeiden ja bis heute den Begriff Putsch. Auch sie stehen im Prinzip vor einer großen Frage, wie diese Entwicklung zu bewerten ist und wie man sich in dieser Weise verhalten muss.
Die Europäer haben heute eigentlich einen – ich muss es sagen – einen relativ klugen Schachzug vollzogen, indem sie die Hilfsleistungen nicht generell eingeschränkt und eingestellt haben, auch da hätten die Golfis ja schon gesagt, springen wir ein, und damit hätten sie sich auch weitere Einflussmöglichkeiten genommen, sondern tatsächlich nur die militärischen Hilfsleistungen eingeschränkt. Ich glaube, das war von dem, was man an einem Tag erwarten kann, doch eine kluge Entscheidung.
Heinemann: Henner Fürtig, der Direktor des GIGA-Institutes für Nahoststudien, die Fragen stellte mein Kollege Gerd Breker.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Darüber hat mein Kollege Gerd Breker mit Henner Fürtig gesprochen, dem Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien. GIGA steht für German Institute of Global and Area Studies. Ex-Präsident Mubarak vor der Freilassung, die Muslimbruderschaft vor einem erneuten Verbot – dreht das derzeitige Regime die Uhr zurück in die Zeit vor dem arabischen Frühling?
Henner Fürtig: Ja, das erinnert fast an 1954, als der damalige Präsident Nasser die Muslimbrüderschaft verboten hat – er hat sie auch nicht nur verboten, sondern auch verfolgt, ihre Führer inhaftiert und ermordet. Er hat sie erheblich geschwächt, aber er konnte sie nicht ausschalten. Die Muslimbrüderschaft besteht seit 1928, und auch jetzt muss man davon ausgehen, dass man sie zwar schwächen kann, aber ich bezweifle, dass man sie komplett ausschalten kann.
Gerd Breker: Mit aller Härte geht das Militär gegen die Islamisten vor, die oberen Köpfe werden verhaftet, Großdemonstrationen beschossen – drängt man die Muslimbruderschaft geradezu in den Untergrund?
Fürtig: Man gewinnt den Eindruck. Man konnte sich ja immerhin nach dem 3. Juli, nach dem Sturz Mursis, immerhin eine Option vorstellen, dass man die Widersprüche und Unterschiede in den verschiedenen Fraktionen der Muslimbrüderschaft durchaus ausnutzt, um sie in ihren moderaten Teilen durchaus für einen Neuanfang zu gewinnen, und die hierarchisch organisierten, doch sehr konservativen, vor allen Dingen älteren Kräfte in der Muslimbrüderschaft tatsächlich zu marginalisieren. Das hätte allerdings ein bisschen größere politische Expertise vorausgesetzt und natürlich auch die Bereitschaft, das zu tun. Man hat sich für den Frontalangriff entschieden, und es steht noch aus, ob da jemals eine Antwort gegeben werden kann, ob das politisch besonders klug war.
Breker: Kommenden Freitag soll Tag der Märtyrer werden, dazu rufen die Mursi-Anhänger auf – das wird ein blutiger Freitag werde, das weiß man schon jetzt.
Fürtig: Das kann man wirklich, wenn man die Erfahrung der letzten Tage, auch vor allen Dingen des letzten Freitags und des letzten Mittwochs zurate zieht, ohne große Fantasie voraussagen. Und wie gesagt, man macht die Muslimbrüder zu dem, was sie am besten können, nämlich zu politischen Märtyrern, die sehr, sehr klug mit der Behauptung hausieren gehen, dass, egal wie eine Wahl, wie eine demokratisch organisierte Wahl – und das hat auch der Westen anerkannt – ausgehen mag, die konservativen Kreise inklusive des Westens werden niemals dulden, dass islamistische Kräfte eine Regierung führen. Das ist natürlich eine Märtyrersaga, die eine erhebliche Sprengkraft hat.
Breker: Droht der Bürgerkrieg?
Fürtig: Der Bürgerkrieg ist natürlich immer sehr schnell herbeizitiert. Es gibt auch international und auch wissenschaftlich akademische Dimensionen und Größenordnungen, um diesem Begriff vor der Inflation zu schützen. Also auf wissenschaftlicher Basis geht man davon aus, und zwar nach gesicherten Zahlen, dass bei einer Opfergröße in einem angegebenen Zeitraum von etwa 2000 tatsächlichen Toten die Dimension eines Bürgerkriegs erreicht ist. Nun weiß ich nicht, wer hier welche Seiten oder die Seiten zählen unterschiedlich, aber ich würde mich immer noch davor hüten.
Breker: Die neue Regierung behauptet, einen Plan zur Rückkehr zur Demokratie zu haben. Wie glaubhaft ist das?
Fürtig: Ja, das kommt drauf an, wie man die Demokratie definiert. Zunächst muss man erst mal sagen, dass ein demokratisch gewählter Präsident, was man immer auch von ihm halten mag, und welche kapitalen Fehler – das ist unstrittig – er gemacht haben mag, man hat diesen Präsidenten gewaltsam aus seinem Amt entfernt. Insofern steht natürlich jetzt jeder demokratische Neuanfang vor einem großen Zweifel. Man muss sich auch anhand der vielen, vielen Opfer und der tiefen Gräben in der ägyptischen Gesellschaft schon fragen, wie denn ein demokratischer Neuanfang organisiert werden soll.
Breker: Wer hat denn jetzt eigentlich die Macht in Ägypten. Sind es nicht die alten Kräfte, die schon unter Mubarak die Geschicke des Landes bestimmt haben?
Fürtig: Das mag in Teilen der Fall sein, aber nicht in der großen Mehrzahl, denn es waren ja vor allen Dingen auch Kräfte des Militärs und Teile der alten Elite, die sich daran gestoßen haben, dass der Teil derer, die an der ägyptischen Wirtschaft partizipieren und vor allen Dingen profitieren, immer kleiner geworden ist. Das war vor allen Dingen die Clique um den Mubarak und Gamal, die sich maßlos bereichert haben und immer größere Teile auch der gerade von mir zitierten älteren oder alten Elite an die Seite gedrängt haben. Die werden nicht dulden, dass die Mubarak-Umstände sich tatsächlich wieder erholen, da würden sie ein weiteres Mal verlieren.
Breker: Kann man eigentlich so tun, als hätte es den ägyptischen Frühling gar nicht gegeben?
Fürtig: Das wäre mit Sicherheit verfrüht, denn ich glaube, eine der ganz wichtigen Erfahrungen und Lehren, die das Jahr 2011 gegeben hat, und die immer noch Millionen Ägypter in den Köpfen haben, ist die Erfahrung, und zwar die gelebte Erfahrung auf der Straße, dass Protest, dass das Aufbegehren tatsächlich Veränderungen herbeiführen kann. Das ist eine Revolution auch in den Köpfen gewesen, nach Jahrzehnten der Apathie, nach Jahrzehnten der Diktatur – Aufbegehren Revolte lohnt sich, man kann etwas verändern, es ist möglich. Und das kriegt man so schnell aus den Köpfen nicht heraus.
Breker: Ein Element dieses Frühlings war ja auch die soziale Frage. Die Menschen wollten einfach eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Daran sind die Muslimbrüder gescheitert. Scheitert daran möglicherweise auch die jetzige Regierung?
Fürtig: Das ist natürlich eine ganz elementare Forderung und Herausforderung. Die jetzige Regierung hat auf jeden Fall bessere Ausgangsbedingungen als die Muslimbrüderschaft, die ja von den reichen Staaten am Golf de facto am ausgestreckten Arm aus politisch-ideologischen Gründen verhungern gelassen wurde. Jetzt hat sich ganz klar herausgestellt, die Golfmonarchien haben ja ganz klar signalisiert, dass sie bereit sind, jede Lücke, die eventuell ausbleibende Hilfszahlungen aus dem Westen hinterlassen, in diese Lücke zu springen, sie auszufüllen. Ich glaube, die unmittelbare Finanzausstattung ist gegenwärtig nicht die größte Sorge der Übergangsregierung.
Breker: Der Einfluss des Westens – gestern haben die EU-Außenminister das Aussetzen der Waffenlieferungen beschlossen. Hat Europa überhaupt einen großartigen Einfluss?
Fürtig: Er ist auf jeden Fall zurückgegangen, wie auch der der USA. Auch die Amerikaner haben ja erhebliche Schwierigkeiten, den Umsturz, die Entfernung Mursis aus dem Amt tatsächlich mit einem Wort zu definieren. Sie vermeiden ja bis heute den Begriff Putsch. Auch sie stehen im Prinzip vor einer großen Frage, wie diese Entwicklung zu bewerten ist und wie man sich in dieser Weise verhalten muss.
Die Europäer haben heute eigentlich einen – ich muss es sagen – einen relativ klugen Schachzug vollzogen, indem sie die Hilfsleistungen nicht generell eingeschränkt und eingestellt haben, auch da hätten die Golfis ja schon gesagt, springen wir ein, und damit hätten sie sich auch weitere Einflussmöglichkeiten genommen, sondern tatsächlich nur die militärischen Hilfsleistungen eingeschränkt. Ich glaube, das war von dem, was man an einem Tag erwarten kann, doch eine kluge Entscheidung.
Heinemann: Henner Fürtig, der Direktor des GIGA-Institutes für Nahoststudien, die Fragen stellte mein Kollege Gerd Breker.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.