Über den leeren Parkplatz vorm Lidl haben wir es geschafft, haben uns ganz dicht an der Wand entlang gedrückt, hinter den Altglascontainer geduckt, sind dann im Schutze der Dunkelheit über die Straße gelaufen, durch ein verrostetes Tor geschlüpft und sitzen nun endlich hier drinnen, in einem dunklen Gemäuer, kauern im Kreis auf Holzpaletten und lächeln uns an: noch eine Etappe geschafft. Zwei Mitglieder unserer Gruppe packen Instrumente aus: "Farewell" heißt die alte Melodie, die sie spielen – bis wir und sie aufgeschreckt werden: Ein Mann mit einem Koffer stürmt herein und winkt hektisch: Wir müssen schon wieder weiter.
Kann man Flucht spielen? Heute? Steht man am Ende nicht zwangsläufig so blöd da wie die Promis neulich in Berlin auf der Cinema for Peace-Gala, die grinsend Fotos von sich schossen in Notfalldecken von Ai Wei Wei? Im Judentum, das seine Erfahrungen hat mit Flucht, gibt es ein Bilderverbot: Mancher meint, es bezieht sich nicht nur auf Gott, sondern auf alle großen Dinge. Man macht sie klein, ahmt man sie nach.
Dynamik und Hast körperlich erfahrbar gemacht
Es spricht manches dafür, dem Musiktheater "Fugit" mit Skepsis zu begegnen oder sich gar nicht erst darauf einzulassen. Als wir mit Pappkartons überm Kopf auf dem Bürgersteig laufen, steht da plötzlich eine junge Afrikanerin mit einem Kinderwagen und starrt uns an. Wie sie wohl hierhergekommen ist, nach Köln-Ehrenfeld, in dem wir nun schon seit anderthalb Stunden herumirren und so tun als ob, für 29 Euro pro Person?
Als wir am Ende in einem großen Treppenhaus sitzen, und die Augenbinden abnehmen, die wir irgendwann angelegt bekommen haben, als mit der Musik auch das Theater aufhört und wir am Ausgang die Handys und Personalausweise zurückbekommen, die man uns zu Beginn der Flucht abgenommen hat, scheint dennoch niemand peinlich berührt. Eher irritiert und auch durchaus beglückt von einem Theaterabend, der nicht die Wirklichkeit simuliert, sondern eher eine bestimmte Dynamik und Hast körperlich erfahrbar macht. Und Musik als ein Stück Heimat und Trost.
Versuch eines Grenzgangs
Dass die Wirklichkeit gerade so mächtig geworden ist, hat Regisseur Adrian Schvarzstein ohnehin nicht voraussehen können. Die Idee zu "Fugit" entwickelte er bereits vor ein paar Jahren, vor den ganz großen Flüchtlingsströmen. Flucht ist für den in Argentinien geborenen Theatermann zuallererst ein persönliches Thema: Seine Familie floh einst vor Pogromen aus der Sowjetunionen, und aus jener Zeit, aus dem frühen oder mittleren 20. Jahrhundert, stammen der Kleidung nach auch die Helfer, die unsere Flucht organisiert haben. "Kamchatka" heißt die Truppe aus Barcelona, die "Fugit" schon auf der ganzen Welt gespielt hat – doch noch nie als Theater mit Musik.
"Fugit" - anders als erwartet
Mit der neuen Fassung wagt nicht nur Schvarzstein einen Grenzgang. Auch das "Kölner Fest für Alte Musik" betritt damit Neuland. "Wir versuchen, Themen zu haben, die allgemein genug sind, dass sie ausgreifen können und wiederum speziell genug, dass nicht alles geht und dass man sich konzentrieren kann. Und dieses Mal ist es eben "Have a Dream", und das ist das Politischste, was wir bisher gemacht haben. Seit Thomas Höft mit dem Kölner Zentrum für Alte Musik auch das alljährliche Festival leitet, reibt sich manch einer in der Szene verwundert die Augen: zwar bekennt auch Höft sich zu den Idealen der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis, zum Studium von Quellen und Stilen, doch die reine Lehre verpackt er Jahr für Jahr so bunt, dass man sie kaum wiedererkennt. Das Musiktheater "Fugit" markiert zwar ein Extrem – kein einziger Abend im Festival jedoch funktioniert überhaupt nach Schema F, vertraut allein auf berühmte Interpreten und beliebte Werke. Auch deswegen funktionierte "Fugit" wohl so gut: Weil es anders war, als man es erwartet musste.