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Fukushima

Nicht allein in Deutschland, sondern auch in Japan fragen sich informierte Menschen, darunter auch Physiker, inzwischen: Mündet der Fortschritt in die Verstrahlung von Fukushima und wird Fukushima überall sein, wo Fortschritt künftig sein soll?

Von Bernhard Taureck |
    Die Kernschmelze im japanischen Fukushima Daiichi, bildet sie lediglich einen Betriebsunfall? Oder ist sie Zeichen einer Krise und gar eines Scheiterns unserer technischen Zivilisation? Trotz weitreichender Konsequenzen aus Fukushima zumindest für Deutschland, das seinen bereits beschlossenen Ausstieg aus dem Ausstieg widerrief, wird diese Frage nicht gestellt.

    Das Jahr 2012 besitzt jedoch einen Anlass, sie aufzugreifen. Vor 300 Jahren nämlich wurde ein Autor geboren, den Fukushima keineswegs erstaunt hätte. Er teilte das gängige Fortschrittsdenken nicht, sondern erblickte unsere Zivilisation als langen Weg des Abstiegs und Unglücks. Es handelt sich um Jean-Jacques Rousseau. Was sagt uns Fukushima über Rousseau, und was sagt uns Rousseau über Fukushima?

    Stellt Japan nicht eigentlich eine Erfolgsgeschichte auf der Schnellstraße des Fortschritts dar? Auf einem Inselstaat, der lediglich zu 20 Prozent bewohnbar ist, wohnen 128 Millionen Menschen. Seit 1966 baut dieser Staat Atomkraftwerke. 2011 sind es 54. Sie stellen 30 Prozent der Elektrizität. Die technische Zivilisation des Inselstaates hat gegen die Herausforderung der Natur offenkundig gesiegt. Zu diesen Herausforderungen gehört nämlich auch, dass sich die Pazifische Platte unter die asiatische Kontinentalplatte schiebt mit der Folge, dass die Inseln 40 intakte Vulkane aufweisen und dass dort täglich die Erde bebt.

    Das AKW in Fukushima war durch eine immerhin sechs Meter hohe Mauer gegen die Wellen, die ein Seebeben auslösen, gesichert. Es gab keine Lücke. Die internationale Atomlobby hatte und hat noch immer ein Wort, das alle Bedenken zerstreuen soll und noch immer erfolgreich zerstört. Es ist das Adjektiv "sicher". Atomkraftwerke sind sicher. Jedenfalls unsere.

    Ein Zauberwort war gefunden. Täuschung war erfolgreich, vielleicht sogar Selbsttäuschung. Man meint abgesichert und sagt sicher. Man verwechselt planvoll das Sichere mit dem bloß Abgesicherten. Auch das AKW-Fukushima war selbstverständlich abgesichert. Sechs Meter Mauer standen gegen Wellen, die allerdings am Tag des Unheils, dem 11. März 2011, zehn oder gar 14 Meter erreichten. Abgesichert, doch leider vier oder acht Meter zu wenig.

    Absichern kann man sich gegen genau bezifferungsfähige Risiken, zum Beispiel eine Seebebenwelle von 8,893 Meter Höhe. Deutsche Atomkraftwerke können nicht höher als für 2,5 Milliarden Euro versichert werden. Der Schaden im Fall eines Größten anzunehmenden Unfalls in maximaler Größe wird dagegen mit fünf Billionen Euro beziffert. Eine Billion sind 1000 Milliarden. Die Kosten für ein geborstenes AKW belaufen sich demnach auf 5000 Milliarden Euro. Somit entsteht eine geschätzte nicht gedeckte Schadenssumme von 5000 minus 2,5 Milliarden gleich 4997,5 Milliarden Euro. Sicherheit reicht, mit anderen Worten bis 2,5 Milliarden. Unsicherheit potenziert sich auf 4997,5 Milliarden.

    Daraus folgt zweierlei. Erstens, die Kosten der Unsicherheit zahlt die Bevölkerung. Eine Einbeziehung der Unsicherheit in die Kosten-Nutzen-Rechnung für ein AKW würde den Strompreis einer Kilowattstunde erhöhen und zwar mindestens auf 2,50 Euro.

    Aus den 4997,5 Milliarden Euro Unsicherheit ergibt sich eine zweite Folgerung. Alles Abgesicherte ist winzig, alle Unsicherheit ist übermächtig. Je übermächtiger das Unsichere wirkt, desto mehr Illusionen benötigen wir, um bereits seine Vorstellung zu verscheuchen. Seine Eintrittswahrscheinlichkeit sei unwahrscheinlich und man solle doch bitte nicht jemanden zu seinen Ratgebern zählen, der Madame oder Mrs. Angst heiße.

    Johannes Hano, Fernsehjournalist für das ZDF, befand sich zur Zeit der Kernschmelze in Tokyo, hörte in den japanischen Medien, Plutonium könne man problemlos über Urin und Kot wieder ausscheiden. Dass es bereits in kleinsten Mengen extrem krebserregend ist, erfuhr man dagegen nur am Rande. Man verglich zudem die vorhandene Strahlenbelastung auf dem Kraftwerksgelände von 751,2 Mikrosivert pro Stunde mit einem harmlosen Röntgenvorgang. Jeder, der anderthalb Stunden der genannten Strahlung ausgesetzt ist, hat damit jedoch bereits die zulässige Höchstdosis pro Jahr erreicht. Auch davon redet man in den Medien nicht.

    Geht es um Kernkraft, dann betrügt der Staat sein Volk und teilt ihm mit, es sei ein Feigling. Man beziehe billigen und sauberen Strom und man habe keinen Grund, in feiger Angst zu erstarren. In Japan hielten Japaner die besorgten Europäer vor Ort nach dem Reaktorriss für ängstlich. Japan ist noch immer eine heroische Kultur in einer Zeit, die längst postheroisch geworden ist.

    Nicht allein in Deutschland, sondern auch in Japan fragen sich informierte Menschen, darunter auch Physiker, inzwischen: Mündet der Fortschritt in die Verstrahlung von Fukushima und wird Fukushima überall sein, wo Fortschritt künftig sein soll? Ist Fortschritt von Fukushima nicht mehr zu trennen und laufen wir alle damit auf eine Gesamtverbrennung zu, die wir weder technisch noch ökonomisch noch politisch zu kontrollieren imstande sind?

    Diese Fragen sind zu groß für uns, die wir uns an die Verwechslung von "sicher" mit "abgesichert", an den Staatsbetrug der nicht versicherten Risiken und an die Propaganda gewöhnt haben, die uns als feige einstuft. Diese Fragen sind ebenfalls zu groß für uns, die wir den Fortschritt als legitimes Erbe der Aufklärung zu betrachten gelernt haben.

    Der erste Jahrestag von Fukushima fällt zugleich in das Jahr des 300. Geburtstags eines Autors, der das Fortschrittsdenken der Aufklärung infrage stellte. Es ist Jean-Jacques Rousseau. Er hat nicht beansprucht, Ereignisse wie Fukushima vorauszusehen. Er las in der frühesten Vergangenheit der Menschheit, vermutete begründet, dass man in jener staatenlosen Vorzeit gleichartig, friedfertig und glücklich nebeneinander lebte, ein langes Goldenes Zeitalter, das keinen Mangel und keinen Überfluss kannte.

    Nur eines fehlte: Man wusste nicht, dass man glücklich war. Erst, als man entdeckt hatte, dass man aus der Erde Eisen fördern, schmelzen und unter anderem zu Waffen verarbeiten kann, erst, als wenige Besitzer von Eisen und Eisenöfen die restlichen Erdbewohner für sie arbeiten ließen, entdeckte man das eigene Unglück. Der lange Zustand des gemeinsamen glücklich-genügsamen Daseins war dahin. Das Glück war verloren, der Fortschritt hatte die Herrschaft übernommen.

    Dieser Fortschritt war zugleich an etwas gebunden, das wir wie selbstverständlich mit unserem Dasein zusammengewachsen betrachten. Es ist das Eigentum an Boden und es ist jenes Eigentum, welches Eigentum produziert, das heißt am Anfang jenes Eisen und die Öfen, die es zum Schmelzen bringen. Dieses private Eigentum, so Rousseau, sei der Anfang des Unglücks der Menschengeschichte gewesen. Denn die Erde gehörte und gehöre niemandem und ihre Früchte allen. Sobald Mein und Dein beansprucht werden, wird eine Macht nötig, es zu sichern und Gewalt und Krieg, um es zu vergrößern.

    Würde Rousseau mit der Kernschmelze von Fukushima Daiichi konfrontiert, gäbe es für ihn einen Grund erstaunt zu sein?

    Die japanische Regierung verstand die erforderliche Schadensbegrenzung des havarierten AKW nicht als öffentliches Gut, das es zu befördern gilt. Vielmehr überließ diese Regierung die alle Einwohner betreffende Begrenzung des Schadens und Risikos derjenigen Privatfirma, der das Kraftwerk gehört. Diese versuchte – obwohl das Kraftwerk bereits havariert war - die Anlage wieder in Gang zu setzen und tat anschließend alles, um den erforderlichen Wettlauf mit der Zeit zu verlieren, und damit die Region einer tödlichen und die Erdbevölkerung einer nicht ungefährlichen Strahlung auszusetzen.

    Die Kernschmelze von Fukushima Daiichi zeigt, auf Rousseau bezogen, zwei grundsätzliche Probleme. Das eine betrifft den Sinn und die Möglichkeiten des Fortschritts. Das andere betrifft Zusammenhänge von politischer Herrschaft und privatem Eigentum. Für Rousseau hängen beide Probleme zusammen.

    Beginnen wir mit dem Fortschritt. Rousseaus Zeitgenossen waren der Ansicht, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt ebenso ein politisch-sozialer Fortschritt im mündig werden der Menschen sei. Aufklärung war für Kant die Selbstbefreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt galt als ein Motor des Fortschritts zu mehr Freiheit. Was Fortschritt meint, können wir heute abschätzen. Fortschritt kann als eine Erwartung von Gesamtnutzen gelten. Man ist in der Gegenwart weiter als die Vergangenheit und man wird in der Zukunft weiter sein als in der Gegenwart.

    Fortschritt liegt dann vor, wenn ein aktueller Gesamtnutzen einer Zivilisation größer ist als alle vergangenen Gesamtnutzen und wenn begründet erwartet werden kann, dass der Gesamtnutzen in Zukunft größer sein wird als der gegenwärtige Gesamtnutzen. So haben wir heute zum Beispiel mehr Gesamtnutzen in der direkten kommunikativen Vernetzung der Menschen mittels Internet und Mobiltelefonen als vor einer Generation. Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass dieser Nutzen nicht etwa positiv mit dem Glückserleben der Menschen korreliert. Der Fortschritt als Steigerung des Gesamtnutzens bedeutet daher keine Erhöhung unserer Glücksgefühle.

    Die derzeitige Glücksforschung zeigt, dass Glück mehrheitlich aus Freundschaften und sozialen Beziehungen gespeist wird und nicht aus Geld oder der Teilhabe am wissenschaftlich-technischen Fortschritt.

    Auch an dieser Stelle lohnt sich eine Erinnerung an Rousseau. Sein gesamtes Denken kann nämlich als Antwort auf die Frage verstanden werden: Wie kommt es, dass die Menschen einen Zustand des Glücks verloren haben, in welchem sie die längste Zeit der Geschichte gelebt haben? Wie erklärt es sich, dass die Menschen derartig unglücklich geworden sind? Seine berühmte Antwort lautet:

    "Der Erste, als er ein Terrain eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen Dies gehört mir und Menschen fand, die simpel genug waren es zu glauben, war der tatsächliche Begründer der Bürgergesellschaft. Welche Verbrechen, Kriege, Ermordungen, welches Elend, welche Not, welche Schrecken hätte jemand dem Menschengeschlecht erspart, der, die Pfähle herausreißend oder den Graben zuschüttend, seinesgleichen zugerufen hätte: 'Hört nicht auf diesen Betrüger! Ihr seid verloren, wenn Ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem!'"

    Mit dem Privateigentum zerriss, so Rousseau, die selbstverständliche Gleichartigkeit unter den Menschen. Eigentum war am Anfang Grund und Boden. Später wurden Menschen Eigentum von Menschen. Eigentum wurde auch das Eigentum produzierende Eigentum jener Öfen, mit denen man Eisen schmolz und Waffen produzierte.

    In seiner preisgekrönten Schrift von 1750 über die Frage, ob die Wissenschaften und Künste uns moralisch zu besseren Menschen machen, stellte Rousseau zwei begründete Behauptungen auf. Erstens, die Wissenschaften und Künste besitzen von sich aus keinerlei politische und moralische Kraft und stellen keine moralische Instanz dar. Das Gegenteil jedoch glaubt man bis heute, bzw. wird uns glauben gemacht. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt gilt bis heute als ein Gradmesser auch für moralische Qualitäten.

    Zweitens behauptete Rousseau: Wenn man den wissenschaftlich-technischen Fortschritt als moralische Kraft zulässt, dann führt er zur Zerrüttung der Bindekräfte zwischen den Menschen. Solidarität und Mitempfinden werden durch das Interesse ersetzt, den Anderen auszuschalten. Man beansprucht das Monopol auf Erfindungen und ihre Vermarktung. Die alles bestimmende Neigung besteht darin, allen übrigen Schaden zuzufügen.

    Rousseau stellte dem gängigen Fortschrittsdenken – dem beständigen Wachstum von Gesamtnutzen einschließlich der Erwartung auf künftigen Zuwachs – ein anderes Fortschrittsbild entgegen: Der jeweils gewonnene Nutzen fällt letztlich geringer aus als der mit dem Nutzen verbundene Schaden. Wir bezahlen, so Rousseau, den Fortschritt mit einer zunehmenden Verringerung sozialer Integration.

    Was hat diese Fortschrittskritik mit dem geborstenen Kernkraftwerk von Fukushima Daiichi zu tun? Es gibt bekanntlich durchaus Bedenken gegenüber dem technischen Fortschritt. Dass wir alle bereits Plastik in unserem Blut haben, welches die Fruchtbarkeit senkt und das Krebsrisiko erhöht, dass Wasser, Luft und Nahrung zu viel Gifte enthalten, dass die Erderwärmung gigantische wirtschaftliche Verluste zu erbringen droht, ist als Bedrohung bekannt.

    Daher erscheint es manchen nahezu als eine Rettung, dass es eine Energiegewinnung gibt, die keine Nachteile der Verfeuerung besitzt. Man erzeuge zu diesem Zweck Wasserdampf, umgewandelt in Rotationsenergie, wiederum umgewandelt in Elektrizität. Um den Wasserdampf zu erzeugen, muss man die elementaren Bindekräfte der Materie lockern. Dies geschieht in den Kernkraftwerken. Doch es geschieht leicht auch außerhalb ihrer.

    Es gibt kein Konzept, es gibt keine Möglichkeit der ungefährlichen Endlagerung des strahlenden Abfalls. Es gibt keine Möglichkeit die Absicherung gegen Erdbeben, Flugzeuge oder Terrorangriffe bis hin zu einer echten Sicherheit zu steigern. Die gelockerten Bindekräfte der Natur spielen nicht mit, menschliche Fehlbarkeit spielt nicht mit, die menschliche Neigung anderen soviel Schaden als möglich zuzufügen spielt nicht mit.

    Selbst wenn die Absicherung durch neue Erfindungen sicherer werden, selbst wenn für die Lagerung größere Absicherungen erfunden würden, so bliebe die menschliche Bösartigkeit. Atomkraftwerke können im Zuge von immer aggressiver ausgetragenen Konflikten Objekte explosiver Begierden werden. Eine lediglich schwach solidarische Gesellschaft vermag sich keine Energiegewinnung durch Materiemanipulation zu leisten. Der Preis des Fortschritts ist extremer Rückschritt. Jedes gefährdete AKW bestätigt gespenstisch Rousseaus Diagnose des Fortschritts: Der jeweils gewonnene Nutzen fällt letztlich geringer aus als der mit dem Nutzen verbundene Schaden.

    Jetzt werden sich viele fragen: Hat Rousseau nicht den Menschen als ein natürlich gutartiges Wesen betrachtet, voller Mitempfindung für seinesgleichen? In der Tat.

    Rousseau – und dies wird zumeist vergessen und kommt auch in den Unterrichtsplänen nicht vor – ist zugleich derjenige, der den Menschen als das Bösartigste beschreibt, was auf Erden lebt. Der Wechsel zu der Neigung, anderen Schaden zuzufügen, entsteht mit der Vergesellschaftung der Menschen. Rousseau schreibt:

    "Man bewundere die menschliche Gemeinschaft wie es beliebt. Es wird gleichwohl nicht weniger zutreffend sein, dass sie die Menschen dazu bringt, sich gegenseitig zu hassen, sofern sich ihre Interessen überschneiden, sie sich wechselseitig scheinbare Dienste leisten und sich tatsächlich alle nur denkbaren Übel zufügen."

    Im Originalton heißt es weiter:

    "Es gibt vermutlich keinen vermögenden Menschen, dem gierige Erben und oft seine eigenen Kinder nicht heimlich den Tod herbeiwünschen. Kein Schiff auf dem Meer, dessen Untergang keine frohe Botschaft wäre für irgendeinen Handelsmann. Kein Haus, das ein ehrloser Schuldner nicht mit allen Papieren verbrennen sehen möchte, das es enthält. Kein Volk, das sich nicht über die Bankrottvorgänge seiner Nachbarn freut. So finden wir unseren Vorteil im Schaden von unseresgleichen und so bewirkt der Verlust des einen fast immer das Wohlergehen des anderen. Am gefährlichsten jedoch ist, wenn öffentliche Not Gegenstand von Erwartung und Hoffnung einer Menge von Privatleuten bildet. Die einen wünschen sich Krankheiten, andere das Sterben, andere Krieg, andere Hungersnot. [...] Es gibt keinen noch so legitimen Profit, der nicht überboten würde von einem, der sich illegitim machen ließe und das dem Nächsten zugefügte Unrecht ist stets lukrativer als Serviceleistungen."

    Bestätigt oder widerlegt, was in Fukushima geschah, diese Bemerkungen? Es gibt derzeit Tendenzen, vieles vergessen zu lassen. Japan habe doch die global strengsten Grenzwerte für Strahlenbelastung. Es seien lediglich deutsche Medien gewesen, die das Krisenmanagement als bösartig bezeichnet hätten. Es hätten sich keine nennenswerten Plünderungen ereignet. Spendengelder internationaler Konzerne seien nachhaltig geflossen.

    Das ohnehin kurze Gedächtnis sei angesichts dieser Ablenkungsmanöver daran erinnert: dass die Betreiberfirma Tepco, der größte Energieversorger des Globus, jahrelang Reaktorunfälle vertuscht und Daten gefälscht hat.

    Dass Leiharbeiter nach der ihnen verschwiegenen Kernschmelze teilweise ohne Gummistiefel in das mit hoch kontaminiertem Wasser überschwemmte Kraftwerk zwangsweise unter Androhung ihres Arbeitsplatzverlustes geschickt wurden.

    Dass man, wie bemerkt, die dauerhafte Plutoniumbelastung mit der Sekundenbestrahlung mit Röntgenstrahlen verglich.

    Dass die Toleranz der Strahlenwerte ausgerechnet für Kinder um das Zwanzigfache erhöht wurde.

    Dass man bei keiner Krisenbesprechung zwischen Staat und Tepco ein Protokoll führen ließ.

    Dass die inzwischen ruinierte und vom Staat übernommene Firma Tepco, die zu den größten Geldgebern der Medien gehörte, indirekt für die Entlassung von 28 kritisch berichtenden Journalisten sorgte.

    Dass in Europa bereits während der kritischen Tage Begehrlichkeiten auf Profite bei der Sanierung Japans im Fernsehen artikuliert wurden. Die von Tepco und der Regierung behauptete "Kaltabschaltung" gilt manchem Experten als Lüge. Bereits diese Aufzählung ergibt sieben Beispiele als Fortsetzung und grundsätzliche Bestätigung jener Liste menschlicher Bösartigkeiten, die uns Rousseau vor 260 Jahren ins Stammbuch schrieb.

    Wie steht es nun mit dem Verhältnis von Staat und privatem Eigentum im Fall Fukushima? Hier sind die Tatsachen so offensichtlich, dass eine knappe Aufzählung genügt: Alle Behörden, die in Japan für Kernenergie zuständig sind, haben die Verantwortung für die Sicherheit der Atomkraftwerke. Tepco-Berater sitzen in diesen Behörden. Als Tepco Unfälle vertuschte, musste die Firma keine Bußgelder zahlen. Nach ihrer Pensionierung werden einflussreiche Staatsbeamte hoch bezahlte Mitarbeiter bei Tepco. Tepco ist zudem der größte Spender in Parteienkassen und der größte Geldgeber für die Forschung.

    Fukushima hat Tepco indes bankrott werden lassen. Doch die Firma, die für den Raum Tokyo den Strom liefert, ist zu groß, um sie untergehen zu lassen. Man spricht in Japan derzeit davon, dass Tepco im Grunde ein Staatsunternehmen war. Etwas deutlicher prononciert, läuft das hinaus auf: Der Staat ist eine Einrichtung von Tepco.

    Bedauerlicherweise lässt sich der japanische Umgang mit der nicht beherrschbaren nuklearen Energiegewinnung verallgemeinern. Weder die Kernschmelze von Fukushima Daiichi noch der menschenfeindliche Umgang mit ihr haben in der Regierung desjenigen Landes Lernprozesse ausgelöst, das derzeit die größte Dichte von Atomkraftwerken besitzt, nämlich in dem Land, in dessen Sprache Rousseau einst seine den Fortschritt infrage stellenden Texte schrieb: in unserem westlichen Nachbarland Frankreich.

    Die französische Atompolitik bildet die dunkle Seite einer Demokratie, die ihre nationale Identität auf revolutionäre Quellen gründet und vermutlich längst von einer Atomlobby gesponsert wird. Diese verhindert offenbar, dass es überhaupt eine öffentlich-kritische Berichterstattung über das französische Nukleargeschehen gibt. Fukushima ist somit keine lediglich japanische Spezialität. Rousseaus Zivilisationskritik wird in noch größeren Dimensionen von der démocratie nucléaire Frankreichs bestätigt als von Japan. Die dortigen Nuklearfabriken dienen keineswegs allein der Stromerzeugung, sondern zugleich der Atomwaffenproduktion.

    Von der großen Zahl riskanter Störunfälle der vergangenen Jahrzehnte erfährt man erst in letzter Zeit. Falls ein AKW an einem GAU um Haaresbreite vorbeischrammt, wird dort ein solcher Unfall auf die unterste Stufe einer siebenstufigen Skala gesetzt. Der Grad der Absicherungen in zu Deutschland grenznahen Nuklearwerken wie Cattenom oder Fessenheim entspricht in keiner Weise den deutschen Standards, die ihrerseits mangelhaft sind.

    Neuerdings erreichen uns Nachrichten, die auf offenbar schwer lösbare Probleme im sensibelsten Bereich – dem der Kühlung der Brennstäbe – hinweisen.

    Das Risiko einer plötzlich bewirkten Verstrahlung Gesamteuropas nimmt mit diesem Verhalten zu. Den bisherigen Höhepunkt bedingungsloser Verantwortungslosigkeit hat der am 6. Mai 2012 abgewählte Präsident des Landes mit einer Verlängerung der Laufzeit der überalterten Werke wie Fessenheim und Cattenom gesetzt.

    Die Regel dafür stellte Rousseau vor 260 Jahren auf. Der Staat beruht auf einem Betrugsvertrag zwischen den Reichen und den Armen. Die Reichen wollen ihren Reichtum gesetzlich zum Privileg machen. Rousseau hat diesen Gesellschaftsvertrag des Betruges einmal sarkastisch zugespitzt:

    "Ihr braucht mich, denn ich bin reich und ihr seid arm; treffen wir doch unter uns eine Vereinbarung: Ich erlaube, dass Ihr die Ehre habt, mir zu dienen, unter der Bedingung, dass ihr mir das wenige geben werdet, was euch bleibt, und dies für die Mühe, der ich mich unterziehen werde, um euch zu befehlen."

    Derzeit wird auch diese Zuspitzung bestätigt. Die Reichen spekulieren mit den Preisen von Nahrungsmitteln. Vermeidbarer Hunger ist die Folge. Die Armen sind Spekulanten ausgeliefert. Die Banken verweigern jegliche Auskünfte über diese Art Geschäfte.

    Rousseaus Bild von der Gesamtheit der Menschheitsgeschichte weicht nicht lediglich hinsichtlich seiner Fortschrittskritik von dem ab, was wir mehrheitlich denken.

    Rousseau hat einen traurigen antiken Mythos in begründete geschichtsphilosophische Hypothesen übersetzt. Es ist ein Mythos, der auch von einem großen Fortschritt sprach, doch es handelt sich um einen Fortschritt zum Schlechten. Am Anfang stand ein goldenes Zeitalter, in welchem die Menschen keine Gewalt, keinen Krieg und kein Mein und Dein kannten. Die Erde bot Nahrung für alle im Überfluss. Es folgten weitere Zeitalter, die allmählich zur Gegenwart führten, der eisernen Zeit. Hier will jeder den anderen schaden. Hier herrschen Bedrohung mit Gewalt, hier ist der Krieg die Regel.

    Die Entwicklung ist unwiderruflich. Es gibt kein Zurück. Rousseau vertrat ebenfalls die Ansicht, dass es kein Zurück gebe. Was sich ändern lasse, sei lediglich die Geschwindigkeit des Weges in das Chaos der Gewalt. Die Entwicklung kann verlangsamt, aber sie kann nicht aufgehalten werden. Ein Zurück in den Naturzustand gibt es nicht.

    Ist Rousseau also ein Zivilisationspessimist? Nicht unbedingt. Denn er konzipierte auch einen Staat, von dem gelten soll, dass er nicht allein für das Volk, sondern dass er durch das Volk besteht. Souverän sollte der Wille des Volkes sein. Dieser Staat würde auf folgendem Gedanken beruhen: "Jeder von uns stellt gemeinsam seine Person und seine gesamte Macht unter die höchste Leitung des Gemeinwillens", mit der Folge, dass jeder dabei "allein sich selbst gehorcht und genau so frei bleibt wie zuvor."

    Die Kernschmelzvorgänge von Fukushima, die er nicht voraussehen konnte, hätte er einem Staatstypus zugeordnet, welcher jenem Betrug der Armen durch die Reichen entspricht. Hier werden die Gewinne privatisiert, doch die knapp 5000 Milliarden Euro Kosten für ein geborstenes AKW muss das japanische Volk zahlen.

    Mit dem Namen Rousseau verbindet man eine natürliche Güte des Menschen. Wir sahen, dass sie in Rousseaus Urteil in Bösartigkeit eingetauscht wurde, insofern als uns der bestehende Gesellschaftsvertrag betrügt.

    Mit Rousseaus Namen verbinden wir eine Rückkehr zum vorstaatlichen Naturzustand. Wir sahen, dass er gerade diesen Ausweg ausschließt.

    Mit Rousseaus Namen verbinden wir drittens einen Neustart zu einem jeden Betrug ausschließenden Gesellschaftsvertrag, dessen Souverän das Volk ist. Diesen Neustart hat er selber am Ende als nicht durchführbar beurteilt. Politik sei, so im 20. Jahrhundert Paul Valéry im Geiste Rousseaus, "die Kunst, die Leute davon abzuhalten, sich in das einzumischen, was sie angeht."

    Mit der Kernschmelze von Fukushima ist auch viel von dem Vertrauen in die Atomdemokratie fortgeschmolzen. Besteht Grund zur Hoffnung, dass die Fundamente der bezeichneten Betrugspolitik ebenfalls ins Wanken geraten? Auch in Japan denkt man darüber nach, erneuerbare Energiequellen zu vergrößern. Acht Minuten gespeicherte globale Sonneneinstrahlung könnte den Globus für ein Jahr mit der heute benötigten Energie versorgen.

    Die französische Bevölkerung, sonst bei jeder Gelegenheit zu landesweiten Protesten bereit, hat bisher mehrheitlich den Lügen der Atomdemokratie über eine ebenso sichere wie saubere wie preisgünstige Energie Glauben schenken wollen. Ebenso wurde die dortige Bevölkerung an erhöhten Energieverbrauch gewöhnt, der zu 80 Prozent aus Atomstrom kommt. Frankreich mit einer Bevölkerung von 16 Millionen weniger als Deutschland weist inzwischen einen Energieverbrauch auf, der mehr als doppelt so hoch ist, wie der deutsche.

    Am ersten Jahrestag der Kernschmelze von Fukushima Daiichi bildete sich in Frankreich jedoch eine Menschenkette von 60.000 Personen zwischen Lyon und Avignon im nukleargefüllten Tal der Rhône, um die Pariser Regierung zum Atomausstieg zu mahnen. Rousseau wusste nicht zu sagen, wie schnell alles bergab laufen wird. Nun kommt es zu einer Protestkette von einer bisher nicht gesehenen Länge. Sie richtet sich gegen eine Lobbykratie einer tödlich riskanten Technik, die uns alle mit nachhaltig irreparablen Unfällen bedroht.

    Könnte diese Menschenkette zu einer Verlangsamung des allgemeinen Niedergangs führen? Folgt man Rousseau, so scheint dies nicht ausgeschlossen.

    Ein weiterer Trost lässt sich dem World Nuclear Status Report entnehmen. Denn die Nuklearindustrie hat ihren Höhepunkt längst überschritten und begnügt sich mit weniger. Japan hat seit Anfang Mai 2012 alle Atomkraftwerke abgeschaltet, Mitte Juni allerdings einen Teil wieder hochgefahren. Dieses Weniger wird jedoch auf lange Zeit noch immer zu viel bleiben.

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