11. März 2011: Um 14:46 Uhr Ortszeit beginnt die Katastrophe. Zweieinhalb Minuten lang erschüttert ein Seebeben der Magnitude 9 die Ostküste der japanischen Hauptinsel. Schon in den Tagen zuvor war die Erde in der Region unruhig gewesen. Aber das hier, das ist The Big One - das ganz große Beben, vor dem sich alle fürchten. Auch die Mitarbeiter des Kernkraftwerks Fukushima-Daiichi. Sie haben Angst um ihre Familien, nicht jedoch um ihre Reaktoren. Ihr Vertrauen in die technischen Systeme scheint auch gerechtfertigt: Die automatische Notabschaltung funktioniert.
Fukushima Daiichi, 11. März 2011, 14.48 Uhr: Sirenen heulen los, als das Beben die Anbindung der Anlage ans Stromnetz kappt. Die 13 Notstromdiesel springen an, liefern Strom für Beleuchtung, Messinstrumente und vor allem die Notkühlung der Reaktorkerne: Die Schnellabschaltung hat zwar die nukleare Kettenreaktion unterbrochen, aber der radioaktive Zerfall heizt die Brennstäbe weiter auf. Ohne Kühlung käme es zur Kernschmelze.
Draußen auf dem Meer hat das Seebeben einen Tsunami ausgelöst. Während das Katastrophenteam ins Notfallzentrum des Atomkraftwerks umzieht, rast die Flutwelle heran…
Sascha Gentes: "Die japanischen Kollegen gehen davon aus, dass sie sicher 40 Jahre brauchen, um diesen Rückbau final bewerkstelligen zu können. Und das ist sicherlich schon sehr, sehr ambitioniert."
Michael Maqua: "Man muss ja die Reaktoren weiter kühlen, und das Wasser quillt an bisher unbekannten Stellen aus."
Boris Brendebach: "Der erste Punkt ist ja das Ausladen der Brennelemente aus den Brennelementlagerbecken."
Christoph Pistner: "Das sind ja noch verhältnismäßig einfache Aufgaben."
Boris Brendebach: "Die mittelfristigen Maßnahmen sind dann das Beseitigen von weiteren Kontaminationen."
Christoph Pistner: "Danach beginnt die eigentlich schwierige Arbeit, nämlich der Versuch, die geschmolzenen Brennstoffe aus dem Inneren der Reaktordruckbehälter und der Sicherheitsbehälter zu bergen."
Während des Seebebens laufen in Fukushima Daiichi drei von sechs Reaktorblöcken. Der Kraftwerkskomplex ist nicht an das Tsunami-Frühwarnsystem angeschlossen. So erfährt Direktor Masao Yoshida aus dem Fernsehen, dass Experten vor einer 6 Meter hohen Tsunamiwelle warnen. Die Schutzmauer zum Meer ist jedoch nur 5,70 Meter hoch. Während der Tsunami die Küste erreicht und die ersten der 18.000 Opfer tötet, nimmt Yoshida per Satellitentelefon Kontakt mit dem Tokioter Hauptquartier des Energieversorgers Tepco auf, dem Besitzer der Anlage.
11. März 2011, 15.27 Uhr - 41 Minuten nach dem Beben: Die erste der Tsunamiwellen trifft Fukushima-Daiichi. Kein Problem für die Schutzmauer.
15.35 Uhr: Die nächste Welle türmt sich 14 Meter hoch auf. Sie rast über die Mauer, dringt durch die Rolltore in die Maschinenhäuser ein, wo die meisten Notfallgeneratoren stehen, zerstört sie - ebenso Batterien, Schaltpulte, elektrische Leitungen. Zwei Arbeiter können nicht fliehen. Sie ertrinken.
"Die radiologische Lage ist auf dem Gelände relativ gut, das heißt, man kann sich in weiten Teilen des Geländes bewegen. Man muss natürlich aufpassen mit der Inhalation von radioaktiven Stoffen, die dort auf dem Gelände sind."
So beschreibt Michael Maqua die Lage in Fukushima-Daiichi zum dritten Jahrestag der Katastrophe. Er ist Spezialist für Reaktorsicherheit bei der GRS, der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln. Am besten sieht es heute in den Kraftwerksblöcken 5 und 6 aus: Sie waren seinerzeit außer Betrieb und sind vergleichsweise gut davongekommen. Doch auch sie müssen ständig gekühlt werden.
"In den Gebäuden selber ist es natürlich so, dass man in den Blöcken 1 bis 3, dort, wo die Kerne geschmolzen sind, nicht in die inneren Bezirke hinein kann. Dort kann man nur mit fernbedienten Manipulatoren oder Robotern rein."
Meiler werden eingehaust
Ein Metallgerüst mit Kunststoffhülle verkleidet den geborstenen Reaktorblock 1. Diese Schutzhülle verhindert, dass Wasser eindringt und Radioaktivität in die Luft gelangt. Block 2 wirkt intakt - äußerlich. Anders der explodierte Reaktorblock 3, der von Kränen und schwerem Gerät umgeben ist: Trümmer sind abgetragen worden, jetzt wird der Meiler stabilisiert und eingehaust.
Maqua: "Es sind zwischen 50 und 80 Prozent der Kerne geschmolzen, und davon ist etwa die Hälfte, vielleicht etwas mehr, aus dem Reaktordruckbehälter in das Containment reingetropft."
Die etwa 3000 Grad heißen Kernschmelzen haben sich also ihren Weg in die Sicherheitsbehälter aus Stahl gebahnt, die die Reaktordruckbehälter ummanteln. Vielleicht tropften sie sogar über die Betonfundamente hinaus in die Kondensationskammern im unteren Teil des Containments. Niemand weiß, in welchem Zustand sich die erstarrten Kernschmelzen in den drei Blöcken befinden: Für genauere Untersuchungen ist die Strahlung zu hoch.
"Bei Block vier ist es so, dass man diesen sehr weit gehend betreten kann."
Auch ihn verbirgt eine Hülle, allerdings nur teilweise. Darunter werden gerade die Brennelemente geborgen. Mit den Aufräumarbeiten waren seit dem Unfall rund 30.000 Mitarbeiter beschäftigt, erzählt Boris Brendebach von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit GRS. Ein paar Tausend seien täglich im Dienst:
"Die großen Herausforderungen in Fragen des personellen Einsatzes sind sicherlich bedingt durch die immer noch vorhandenen hohen Werte der Strahlenexposition auf dem Gelände. Das erfordert halt auch, dass man eine große Anzahl an Personal in der Hinterhand haben muss, die eingesetzt werden können."
Denn wer eine Strahlendosis von 100 Millisievert pro Jahr abbekommen hat, darf nicht weiterarbeiten - sonst bestünde Gefahr für die Gesundheit. Genügend Rückbau-Spezialisten auszubilden, die ihren Job so gefahrlos wie möglich verrichten, ist eine der Herausforderungen für Tepco. Der Konzern ist stolz, dass der Super-GAU - anders als in Tschernobyl - bislang keine strahlenbedingten Opfer gefordert hat.
Fukushima-Daichii, 11. März 2011, 15.36 Uhr: Der Tsunami reißt alles mit sich, verkeilt Autos und Maschinen zwischen den Gebäuden, schwemmt anderes hinaus.
15.37 Uhr: In den Reaktorblöcken 1 und 2 fällt die Notstromversorgung aus. Station Black Out: Im Notfallzentrum ist es pechschwarz, die Monitore sind tot, die Computer, alle Sensoren - nichts funktioniert mehr. Dann trifft es die Blöcke 3 bis 5. Nur Block 6 bleibt verschont: Ihn versorgt ein luftgekühlter Notfallgenerator, der höher am Hang errichtet worden war.
15.41 Uhr: In mehreren Reaktoren gleichzeitig beginnt der Super-Gau. Kraftwerksdirektor Masao Yoshida wird später erklären, man habe sich plötzlich in einer Lage befunden, die sich niemand je habe vorstellen können.
Drei Jahre nach dem Desaster sind die Kernschmelzen in den Blöcken 1-3 stark abgekühlt. Dass sie sich erneut so stark aufheizen könnten, dass es zu einem Brand zu großräumigen Freisetzungen käme, gilt als unwahrscheinlich. Allerdings würde bei einem Unfall die Umgebung der Havaristen stark kontaminiert. Sich selbst überlassen kann man die Reaktorkerne also nicht. Deshalb werden Tag für Tag 340 Tonnen Kühlwasser in die Druckbehälter gepumpt. Von einem geschlossenen Kreislauf kann jedoch keine Rede sein, beschreibt Christoph Pistner, Spezialist für Reaktorsicherheit beim Ökoinstitut Darmstadt:
"Dieses Wasser vermischt sich dort mit den Kernschmelzen, wird hoch kontaminiert. In allen drei Blöcken 1 bis 3 sind die Sicherheitsbehälter aber nicht mehr dicht, so dass das Wasser dann in die Kellerräume der Reaktorgebäude und von dort aus auch in die Kellerräume der Maschinenhäuser läuft, und sich mit dort stehenden großen Wassermassen vermischt."
700 Tonnen kontaminiertes Wasser pro Tag
Mit Grundwasser also, das von außen in die maroden Keller dringt. Und so pumpen die Arbeiter tagtäglich 700 Tonnen kontaminiertes Wasser aus den Maschinenhäusern – genug, um ein Schwimmbecken zu füllen. Es wird durch Aufbereitungsanlagen geleitet, die Öl, Schmutz und Salz herausholen - und radioaktives Cäsium. Weil seine Strahlung Menschen auf Distanz schädigt, ist das entscheidend für den Strahlenschutz. Die Anlage funktioniert gut und holt 99,9 Prozent des Radiocäsiums aus dem Wasser. In einer weiteren Anlage sollen spezielle Ionentauscher bald ähnlich effizient 62 verschiedene Radionuklide aus dem Wasser filtern. 40.000 Liter wurden damit bereits gereinigt.
Pistner: "Die Anlagen befinden sich jetzt in einem Versuchsstadium, und es wird gerade geguckt, erreichen sie das Ziel der Dekontamination, das man sich gesetzt hat oder nicht."
Als ob das Wasser in Fukushima nicht schon genügend Probleme bereiten würde, fließt auch noch ein Grundwasserstrom unter den havarierten Meilern ins Meer. Auch der wird kontaminiert – schon seit März 2011, wie Tepco im Sommer 2013 einräumen musste. Im Februar musste der Konzern zudem eingestehen, die Belastung dieses Grundwasserstroms mit radioaktivem Strontium unterschätzt zu haben – und zwar ganz erheblich. Ursache der Panne seien Geräte- und Kalibrierungsfehler. Eine Messung in einem 25 Meter vom Pazifik entfernten Brunnen ergab kürzlich Strahlungswerte, die 30.000 Mal über den erlaubten Grenzwerten für Radiostrontium liegen. Die japanische Atomaufsichtsbehörde kritisierte daraufhin: Tepco fehle noch immer das fundamentale Verständnis dafür, wie man Radioaktivität messe und mit ihr umgehe.
Fukushima Daiichi, 11. März 2011, 15.37 Uhr: Das Kühlwasser in den Reaktordruckbehältern verdampft allmählich. Nach einer halben Stunde werden die Köpfe der Brennelemente freiliegen und beginnen sich aufzuheizen. Per Videolink ins Tepco-Hauptquartier erklärt Masao Yoshida hastig, wie dramatisch die Lage ist.
15.42 Uhr: Tepco informiert das Wirtschaftsministerium und die Atomaufsichtsbehörde über einen Nuklearnotfall in den Reaktorblöcken 1 bis 3. Der Gouverneur der Präfektur Fukushima kann nicht informiert werden; weder Fax noch Telefon funktionieren.
Tepco stellt Videos über die Aufräumarbeiten ins Netz. Eines aus dem Sommer 2013 zeigt, wie Bauarbeiter ein Fundament gießen. Sie tragen weiße Strahlenschutzanzüge, Handschuhe, Helme und Atemschutzgeräte. Später ist zu sehen, wie Männer einen großen Tank aus Stahlplatten zusammenschweißen. In Fukushima-Daichii stehen inzwischen mehr als 1000 solcher Tanks. Langsam wird der Platz knapp. Christoph Pistner kritisiert, dass Tepco bis heute solche Notlösungen nutzt:
"Das Problem der großen Wassermengen war im Prinzip wenige Tage oder Wochen nach dem Ereignis bekannt. Zumindest was die Lagerung angeht, hätte man hier von vorne herein deutlich klarer sagen müssen: Das ist ein langfristiges Problem und wir bauen in einer ordentlichen Qualität, so dass eben auch eine mittelfristige Lagerung hier möglich ist."
Die provisorischen Wassertanks halten Fachleute derzeit für eines der größten Risiken auf dem Gelände. Würden sie zerstört, etwa durch ein starkes Beben, wäre das ein Alptraum.
Pistner: "In dem Fall könnte es schon doch einmal zu einer massiven Freisetzung von Radioaktivität auf dem Anlagengelände ins Meer, in die nähere Umgebung kommen. Was durchaus lokal noch einmal ziemlich katastrophal dann wäre."
Auch im Alltag geht von den Stahltanks Gefahr aus. Rund ein Drittel davon erfüllt nicht die Strahlenschutzstandards, außerdem fehlen Sensoren. Leckagen und versehentlich geöffnete Ventile wurden deshalb mehrfach erst entdeckt, nachdem bereits große Mengen radioaktiven Wassers ausgelaufen waren. In den Aufbereitungsanlagen wurden im Oktober fünf Arbeiter kontaminiert, als sie ein Rohr abmontierten, aus dem hochkontaminiertes Wasser schoss. Laut Tepco ist den Männern dank ihrer Schutzanzüge nichts passiert. Zwischenfälle wie dieser werfen jedoch kein gutes Licht auf die Krisenmanager.
Den Ausweg aus der Wassermisere sieht der Konzern im Verklappen: Funktioniert die neue Dekontaminationsanlage, soll das in den Tanks gelagerte Wasser nach und nach gereinigt ins Meer geleitet werden, erklärt GRS-Experte Boris Brendebach.
"Was durch die Filteranlagen nicht dem Wasser entzogen werden kann, ist das radioaktive Tritium."
Die Fischer in der Region glauben nicht, dass tritiumhaltiges Wasser harmlos ist und kämpfen gegen die Verklappungspläne. Auch gegen die Inbetriebnahme einer Pumpstation in den Bergen wehren sie sich: Sie soll ein Drittel des Grundwasserstroms abpumpen und es ins Meer leiten, bevor radioaktiv belastet wird.
Eiswall soll Kraftwerksgelände abschotten
Tepco muss jedoch den Zustrom von Grundwasser auf das Gelände verringern. Das ist die Voraussetzung für den Eiswall, den der Konzern errichten will, um die Reaktoren nach außen hin abzuschotten.
Das Labor des Instituts für Bodenmechanik und Grundbau der Bundeswehr-Universität in München. Hier laufen seit Jahren Versuche zu Vereisungsprojekten.
"Üblich sind zwei Techniken",
erklärt Conrad Boley, Leiter der Abteilung Geotechnik,
"das Prinzip beruht bei beiden Techniken darauf, dass man Kälte in den Boden einleitet und ihn so zum Abkühlen bringt. Das eine ist die Zuführung von Calciumchloridlösungen, die durch Temperaturlanzen durch den Boden bewegt wird. Der andere Vorgang ist die sogenannte Stickstoffvereisung, wo flüssiger Stickstoff dem Boden die Wärme entzieht."
Bei Schachtvortrieben oder Tunnelbauten sind beide Methoden Standard, um den Untergrund über Dutzende Meter zu stabilisieren.
"Üblich sind Zeiträume von ein bis zwei Jahren."
Tepco plant in anderen Dimensionen - zeitlich wie räumlich: Ein mehr als ein Kilometer langer Gefrierwall soll die Blöcke 1 bis 4 einschließen - über Jahrzehnte hinweg. Das bedeutet technisches Neuland. Auch weil die Reaktoren, um ihre Erdbebensicherheit zu erhöhen, auf Festgestein errichtet wurden, das schwierig zu vereisen ist. Angesichts all der offenen Fragen wolle Tepco klein anfangen, erklärt Lake Barrett, der den Konzern berät. Der Experte hat den Rückbau des 1979 havarierten Reaktors Three Mile Island geleitet und war lange für die US-Nuklearaufsicht tätig:
"Zunächst will Tepco Tunnel oder unterirdische Rohre vereisen. Diese Strukturen sollen isoliert werden, weil in ihnen hochradioaktiv belastetes Wasser aus den ersten Tagen der Havarie steht. Diese Eiswände haben mit vielleicht 20 mal 20 Metern gängige Dimensionen, wie sie seit Jahrzehnten überall genutzt werden."
Vereist werden soll auch ein Kabelschacht, der im Verdacht steht, Grundwasser mit radioaktivem Strontium zu kontaminieren. Vielleicht kappt das eine Verbindung der Kernschmelze zur Außenwelt.
11. März 2011. 15.50 Uhr: Im Notfallzentrum von Fukushima Daiichi 1 und 2 steht an einer Tafel: Wasserstand unbekannt. Verzweifelt bauen Mitarbeiter Autobatterien aus: Sie wollen wenigstens die wichtigsten Messinstrumente mit Strom versorgen. Wann immer das funktioniert, sind die Anzeigen alarmierend.
Weil der Vorrat der Feuerlöschzisternen begrenzt ist, lässt Masao Yoshida die Werksfeuerwehr mobile Pumpen am Hafen installieren. Allerdings wird die Kühlung mit Meerwasser die Reaktoren ruinieren. Also wartet er auf grünes Licht aus Tokio.
"Die Pläne zur endgültigen Stilllegung der Anlage werden in der so genannten Roadmap dargelegt. Die ist schon relativ früh in 2011 zunächst aufgesetzt worden, und in der Zwischenzeit punktuell aktualisiert worden."
Boris Brendebach, GRS-Spezialist für Reaktorrückbau:
"Der erste Punkt, der entscheidend ist zum Rückbau, ist ja das Entladen der Brennelemente aus dem Brennelementlagerbecken. Da hat man ja zunächst einmal in Block 4 mit der Entladung begonnen."
Als eine Explosion am 15. März 2011 große Teile des Dachs von Block 4 fortgerissen hatte, lag das bis auf den letzten Platz mit Brennelementen gefüllte Lagerbecken ungekühlt unter freiem Himmel und heizte sich auf. Hätte die Kernschmelze auch dort begonnen, wäre die Katastrophe um ein Vielfaches schlimmer geworden.
Brennelemente aus Block 4 werden geborgen
Von dem Lagerbecken in Block 4 geht auch heute große Gefahr aus. Nachdem die Arbeiter im Juli 2011 einen neuen Kühlkreislauf installiert hatten, stützten sie das einsturzgefährdete Gebäude mit Betonmauern. Dann umschlossen sie es teilweise mit einer Hülle. Unter der werden nun seit dem 18. November die Brennelemente aus dem Pool geholt und in ein Zwischenlager auf dem Werksgelände verfrachtet. Ein Tepco-Video zeigt ein Dutzend Männer in weißer Strahlenschutzkleidung und mit Atemschutzgerät auf der neu errichteten Wechselbühne:
Michael Maqua: "In Block 4 wird der Brennelementwechsel im Prinzip genauso durchgeführt wie in jedem normalen Reaktor. Die Arbeiter können direkt daneben stehen auf dieser Brennelementwechselbühne, ohne dass sie besonders gefährdet werden, weil eben die Brennelemente mit rund sechs Meter Wasser überdeckt sind und somit die Strahlung wirksam abgeschirmt ist."
Im Video packt ein ferngesteuerter Greifer tief unten im bläulich-grünen Wasser ein Brennelement. Langsam zieht er das vier Meter lange und sechs Zentner schwere Element heraus, um es unter Wasser zu einem Transportbehälter zu schaffen.
"Das Brennelementlagerbecken von Block 4 wurde vor dem Beginn der Auslagerung inspiziert. Man hat die Trümmer, die auf diesen Lagergestellen gelegen haben, weggeräumt. Was man nicht genau weiß ist, ob Trümmer zwischen den Brennelement und Brennelementlagergestellen liegen können, das würde man beim Anheben merken. Und wenn dort Schwierigkeiten auftreten, würde man dieses Brennelement eben erst einmal stehen lassen und ein anderes Brennelement nehmen",
erklärt Reaktorsicherheits-Experte Michael Maqua. Im Herbst 2014 soll das letzte der 1533 Elemente geborgen werden. Dann wird Fukushima-Daiichi sicherer sein - und das nächste Lagerbecken geleert.
11. März 2011, kurz vor 18 Uhr: Eine Gruppe Arbeiter soll in Reaktorblock 1 die Lage sondieren. Sie tragen keine Schutzanzüge. Schon an der Doppeltür zum Reaktorgebäude schießen die Dosimeter über die Skala hinaus. Die Männer rennen zurück ins Notfallzentrum: Die Brennelemente müssen frei liegen und geborsten sein. Die Kernschmelze steht unmittelbar bevor.
Kurz nach 21 Uhr: Die Strahlung in Block 1 steigt sprunghaft. Direktor Yoshida teilt Tokio mit, dass die Kernschmelze wahrscheinlich begonnen hat und dass es in Block 2 bald ebenso weit sein wird.
12. März 2011, 0.49 Uhr: Ein Arbeiter im Strahlenschutzanzug öffnet die Tür zu Block 1, sieht weißen Rauch, zieht sich zurück: Der Reaktordruckbehälter ist gerissen.
5.14 Uhr: Der Sicherheitsbehälter in Block 1 gibt nach, der Druck sinkt, die Strahlung steigt. Eine halbe Stunde später ist der Druck so weit gesunken, dass die Feuerwehr Wasser in den Reaktor speisen kann: Süßwasser aus der Löschzisterne. Ein Tropfen auf den heißen Stein.
Zerstörte Gebäude erschweren den Rückbau
Die größte Herausforderung ist die Bergung der erstarrten Kernschmelzen. In etwa zehn Jahren soll sie beginnen. Bis dahin laufen schwierige Vorbereitungen, betont Sascha Gentes, Spezialist für Reaktorrückbau an der Universität Karlsruhe.
"Das Problem in Fukushima ist ja, dass es kein geordneter Rückbau sein kann. Der normale Rückbau läuft ja sehr geordnet ab. Man hat also einen genauen Plan, dass man von dem Reaktordruckgefäß sich vorarbeitet zu den dann nur noch oberflächlich kontaminierten Bauteilen."
In Fukushima haben heftige Explosionen die Gebäude zerfetzt, alles ist kontaminiert, und die Radioaktivität an vielen Stellen tödlich hoch. Für den Rückbau müssen Roboter entwickelt werden, die extreme Strahlung aushalten. Gängiges Gerät nützt leider wenig.
Gentes: "Zum Beispiel die Verfahren und Technologien, die man einsetzt, um Oberflächen zu dekontaminieren, benötigen eine gerade Aufstandsfläche, um an die Wände zu fahren, und wenn dieser Zustand schon über fernbediente Manipulatoren geschaffen werden muss, wird das den Rückbau in Fukushima im Vergleich zu einem normalen Rückbau natürlich um ein Vielfaches erschweren."
Rächen könnte sich eine Vorgabe für den Bau der Reaktoren, wonach die Sicherheitsbehälter möglichst klein sein sollten: Trümmer werden den ohnehin engen Raum zwischen Druck- und Sicherheitsbehälter blockieren und den Einsatz ferngesteuerter Maschinen erschweren. Und so prophezeit Tepco-Berater Lake Barrett, dass die Aufräumarbeiten in Fukushima Daiichi sehr viel schwieriger werden als bei dem 1979 havarierten US-Reaktor Three-Mile-Island.
"Wir haben das Gebäude von außen nach innen dekontaminiert, damit wir darin arbeiten konnten."
Auch in Three Mile Island war es zur Kernschmelze gekommen. Doch der Reaktordruckbehälter hatte dicht gehalten und konnte später einfach geflutet werden.
"Wir haben mit langen Manipulatoren unter Wasser gearbeitet, wobei 15 Meter Wassersäule die Strahlung abschirmte. Zuerst schaufelten wir den losen Schutt in spezielle Behälter, dann zerlegten wir die feste Schmelze mit Bohrern und Schneidwerkzeugen. Sie war recht spröde, so dass wir Stücke abbrechen konnten, und wir steckten auch sie in Spezialbehälter."
Ob die Bergung der Schmelze in Fukushima-Daiichi nach diesem Vorbild funktioniere, sei wegen der intensiven Strahlung fraglich, betont Lake Barrett.
"In Fukushima ist die Kontamination in den Blocken 1, 2 und 3 sehr viel höher und dass Menschen darin arbeiten können, bezweifele ich."
12. März 2011, 9.02 Uhr: Die Evakuierung der Städte und Dörfer ist beendet. Aus Block 1 kann endlich radioaktiver Dampf abgelassen werden, damit der Druck schneller sinkt. Mangels Strom müssen die Ventile von Hand geöffnet werden. Wie das geht, steht nicht im Notfallhandbuch. Zwei-Mann-Teams in Strahlenschutzanzügen und mit Sauerstoffflaschen machen sich auf den Weg.
9.15 Uhr: Die Teams öffnen das erste Druckventil ein wenig.
9.30 Uhr: Die Versuche am zweiten Ventil schlagen fehl. Die Strahlung ist zu hoch.
13:42 Uhr: Ein neuer Versuch: Dank eines Kompressors gibt das zweite Ventil nach. Über Block 1 steigt weißer Rauch auf. Der Druck fällt. Die Feuerwehr kann das Kühlwasser schneller einspeisen.
14.53 Uhr: Die Süßwasservorräte sind erschöpft.
15 Uhr: Kraftwerksdirektor Masao Yoshida befiehlt Meerwasser einzusetzen. Dann teilt er Tepco mit, dass die Druckentlastung erfolgreich war.
Suche nach Alternativen
Die Roadmap für die Aufräumarbeiten sieht vor, die Reaktoren irgendwann zu fluten. Doch die Druckbehälter sind leck, die Kernschmelzen wie Lava in die Sicherheitsbehälter getropft, und auch die halten nicht mehr dicht. Vor einer Flutung müssten alle Risse und Löcher von Robotern gefunden und abgedichtet werden. Schon das ist ambitioniert. Außerdem müssten all die großen Öffnungen für Leitungen und Rohre verschlossen werden. Selbst wenn das gelingt, ist unklar, ob die Sicherheitsbehälter dem Druck der Wassermassen noch standhalten. Deshalb haben internationale Experten die Japaner aufgefordert, auch andere Ideen zu prüfen.
Boris Brendebach: "Die japanischen Kollegen sind derzeit dabei, das Know-how in der Welt zu erfragen. Man schildert sehr offen die Probleme und fragt Alternativmethoden nach, zum Beispiel auch zu einem Zugang von der Seite aus, oder auch eine Bergung ohne eine Wasserbedeckung, was dann natürlich entsprechende Konsequenzen hat bezüglich der radiologischen Maßnahmen, um die Mitarbeiter entsprechend zu schützen."
Die Wahl des Verfahrens wird unter anderem davon abhängen, wo sich die Kernschmelze befindet. Darum haben japanische Wissenschaftler auch Kontakt mit Forschern vom Karlsruher Institut für Technologie aufgenommen. Denn dort macht Thomas Walter Tromm schon länger Versuche zum Thema.
"Da könnten unsere Experimente dazu beitragen, dass wir überhaupt einmal ein Verständnis dafür bekommen, wo ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Schmelze liegt."
Oder ein Verständnis dafür, wie sich die Schmelze verändert hat, als sie mit dem Stahl und dem Beton reagierte. Die chemischen Reaktionen, die dabei stattfanden, werden die Arbeit nämlich wesentlich schwieriger machen als im Fall von Three Mile Island.
"Das ist nicht mehr wie ein normaler Beton, den man relativ gut schneiden kann. Das ist extrem hart: Mit welchen Kernbohrungen, mit welchen Schneidetechniken geht man überhaupt zielstrebig daran, um dann wirklich auch größere Stücke rausschneiden zu können? Was ist da am besten, Fräsen, Plasmaschneiden…"
Angesichts der vielen Unbekannten lassen sich die Kosten derzeit kaum abschätzen. Mit mindestens 75 Milliarden Euro rechnen Japans Politiker - allein für die Aufräumarbeiten in Fukushima-Daiichi. Die Kosten für Entschädigungen und die Dekontaminierung ganzer Landstriche, für die wirtschaftlichen Einbußen in Fischerei, Landwirtschaft und Industrie sind darin nicht enthalten.
12. März, 15:18 Uhr: In Fukushima-Daichii sind alle erschöpft, hoffen auf ein paar Minuten Pause. Doch daraus wird nichts.
15.36 Uhr: Eine heftige Explosion erschüttert Reaktorblock 1. Masao Yoshida vermutet zunächst ein weiteres Erdbeben. Was tatsächlich passiert ist, verfolgt die Mannschaft in der Notfallwarte vier Minuten später gemeinsam mit dem Rest der Welt am Fernseher: Türkisfarbenes Meer, blauer Himmel - dann schießt eine graue Wolke aus der Silhouette des Kernkraftwerks, breitet sich aus. Es ist die erste von drei Explosionen. Radioaktive Wolken treiben über Meer und Land. Der japanische Fernsehsender NHK überträgt live aus einem Hubschrauber.