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Fuminori Nakamura: "Der Dieb"
Die Lust am Stehlen

Der japanische Autor Fuminori Nakamura, geboren 1977 in Tokai, schloss sein Soziologiestudium mit einer Arbeit über die "Psychologie des Kriminellen" ab. In seinem Roman "Der Dieb" widmet er sich dem Thema literarisch. Das Buch ist gleichzeitig wahrnehmungspsychologische Studie, existenzialistisches Szenario und kapitalismuskritische Parabel.

Von Michaela Schmitz |
    Das Foto zeigt eine gestellte Taschendieb-Aktion am 29.09.2014.
    Empfinden Taschendiebe Lust bei ihrem "Job"? Der Autor Fuminori Nakamura beschäftigt sich mit dieser Frage. (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch)
    Wo Geld für Macht steht, wird der Dieb zum Widerstandskämpfer. Besonders, wenn er nur Reiche bestiehlt. Genau das tun die Taschendiebe Nishimura und Ishikawa in Fuminori Nakamuras "Der Dieb". Sie bestehlen wohlhabende Passanten auf U-Bahnhöfen und Flughäfen Tokios. Ihre historischen Vorgänger Ishikawa Goemon, ein japanischer "Robin Hood" aus dem sechzehnten Jahrhundert, und Nezumi Kozō aus der Edo-Zeit wurden deshalb zur Legende. Sie leben als Helden im traditionellen Kabuki-Theater und im Computerspiel bis ins moderne Japan weiter. Nakamuras "Noir"-Krimi ist auch eine Hommage an diese japanischen Meister in der Kunst des Stehlens.
    "Mit drei Fingern angelte er sich ein Portemonnaie, schob es hinter dem Rücken in meine Hand, ich nahm die Scheine heraus und reichte ihm das Portemonnaie zurück, da hatte er sich bereits das nächste Objekt geholt, stieß zugleich, ohne hinzuschauen, mit dem Arm an den Besitzer des ersten Portemonnaies und zauberte es wieder in dessen Tasche zurück. Für mich waren seine Bewegungen etwas vom Schönsten überhaupt. Keinen Augenblick dachte ich damals daran, dass diese Schönheit so vergänglich sein würde wie die Feuerblumen am Himmel."
    Klauen ist für die beiden Taschendiebe wie eine Sucht. Wenn man etwas Verbotenes tut, verschiebt sich die eigene Wahrnehmung. Man muss alles genau im Blick halten und zugleich verhindern, selbst gesehen zu werden. Jedes Detail wird monströs, jede Sekunde eine Bewährungsprobe. Der Moment des Diebstahls ist für sie Leben pur. Und gleichzeitig ein Akt des Widerstandes.
    Taschendiebe in den Fängen der japanischen Mafia
    "Wenn ich meine Hände nach dem Eigentum fremder Leute ausstreckte, fühlte ich in der Anspannung des Moments so etwas wie Freiheit. Ich fühlte, dass es möglich war, mich von der beengenden Umgebung zumindest ein ganz klein wenig zu lösen."
    Doch die beiden Taschendiebe geraten in die Fänge der japanischen Mafia. Ishikawa wird von den Yakuza ermordet. Nishimura lässt man laufen. Zunächst. Er arbeitet auf eigene Faust weiter. Beim Stehlen erscheint ihm, wie seit seiner Kindheit, ein seltsamer Turm; in der Ferne leuchtend hoch in den Himmel hinaufragend. Nishimura perfektioniert seine Kunst, die Reichen zu bestehlen. Und lebt selbst einsam und anspruchslos in einem kargen Zimmer. Bis Mafia-Boss Kizaki ihm einen Auftrag anbietet, den er nicht ablehnen kann. Sonst müssen ein Junge und seine Mutter sterben. Nishimura hatte sich der Prostituierten und des kleinen Ladendiebs angenommen. Nishimura erkennt sich in ihm wieder. Die Mutter erinnert ihn an Saeko, seine verstorbene Geliebte. Doch Kizakis Auftrag erweist sich als undurchführbar. Sollte er scheitern, droht ihm der Tod. Was, wenn Kizaki sein Ende längst geplant hat? Genau wie der Adelige in Kizakis Geschichte:
    "Kizaki starrte auf den Rauch, der von der Zigarette aufstieg. (...
    'Vor langer Zeit (...) lebte ein hoher Adeliger. (...) Für diesen Adeligen (...) wurde ein dreizehnjähriger schöner Jüngling gekauft. (...) Der Adelige betrachtete den Jüngling und dachte, dass es reizvoll wäre, seine ganze Zukunft zu bestimmen (...). So wie Gott das Leben von Abraham und Moses bestimmte. (...) Dann setzte er sich hin und begann, das Leben dieses Jünglings, so wie er es sich vorstellte, niederzuschreiben. (...) Die Notizen waren sozusagen Schicksal. Unveränderlich, unumstößlich. Sein Leben würde genau so verlaufen, wie es im Buch geschrieben stand.'
    Orangefarbene Lichtreflexe spiegelten sich auf Kizakis Sonnenbrille."
    Nakamura ist ein Meister des "Noir"
    Sollte Kizaki sein Schicksal tatsächlich vorherbestimmt haben: Würde das etwas ändern? Schließlich wartet auf alle der Tod. Früher oder später. Egal, ob und wie gut der eigene Auftrag erfüllt ist. So Kizaki. Der böse Gott der japanischen Unterwelt. Doch Nishimura will leben. Der Showdown: eine blutige Münze, die aus einer dunklen Gasse ins Licht geworfen wird. Als hoffe sie auf ein Wunder. In der Ferne, majestätisch und nebelumhüllt, der Turm.
    "Ich glaube, dass wirkliche Hoffnung nur in der tiefsten Finsternis zu finden ist", bekennt Fuminori Nakamura in einem Interview. Der junge Krimi-Autor ist ein Meister des "Noir". Doch "Der Dieb" ist nichts weniger als eine schlicht schwarz-weiß gezeichnete Gothic Novel. Nakamuras Roman ist äußerst vielschichtig. In seiner erzähltechnisch komplexen Geschichte überlagern sich auf verwirrende Weise Raum, Zeit und Figuren. Einzige Konstante: der Turm. Ein surreales überzeitliches Moment, das, so der Autor selbst, auf eine gottähnliche Existenz verweist. Nakamuras "Dieb" lässt sich zudem parallel auf mehreren Ebenen lesen: Er ist gleichzeitig wahrnehmungspsychologische Studie, existenzialistisches Szenario und kapitalismuskritische Parabel. Das Fazit der Geschichte ist düster: "Den Tod findest Du überall" und "Die Hoffnung ist ein blutverschmiertes Geldstück". Aber eben doch nicht ganz schwarz. Nakamuras Roman ist eine aufregend wilde Erzähl-Mischung aus japanischer Kabuki-Tradition, Comics und Games; gewürzt mit westlichen Einflüssen wie Dostojewkis "Schuld und Sühne" und Kafkas "Prozess" oder Film-Klassikern wie Robert Bressons "Pickpocket" und Melvilles "Eiskalter Engel".
    Fuminori Nakamura: "Der Dieb"
    aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg
    (Diogenes Verlag, Zürich)