Immer wieder geraten religiöse Gruppierungen in Konflikt mit Recht und Gesetz - gerade wenn es um die Erziehung von Kindern geht. Sieben Jahre lange durften Anhänger der Glaubensgemeinschaft Zwölf Stämme ihre Kinder zu Hause unterrichten, von 2006 bis 2013 - genehmigt vom bayerischen Kultusministerium. Die Gemeinschaft, entstanden in den 1970er-Jahren in den USA, hat in Deutschland rund 100 Mitglieder. Die meisten von ihnen leben auf dem Gutshof Klosterzimmern, 70 Kilometer nordwestlich von Augsburg. Die dortige Privatschule musste im vergangenen Sommer den Unterricht einstellen - sie konnte keine qualifizierten Lehrer nachweisen.
"Wir haben immer für unsere Kinder bestmöglich gesorgt. Die hatten immer eine sehr gute schulische Ausbildung. Wir möchten natürlich, dass unsere Schule weitergeht."
Stefan Pfeiffer ist einer der Sprecher der Zwölf Stämme. Die Glaubensgemeinschaft legt die Bibel wörtlich aus und lehnt es ab, dass ihre Kinder öffentliche Schulen besuchen - unter anderem wegen des Sexualkunde-Unterrichts und der Evolutionslehre. Seit Monaten allerdings sind die meisten Kinder der Mitglieder in Heimen und Pflegefamilien untergebracht. Die Behörden hatten den Eltern das Sorgerecht entzogen: Sie sollen ihre Kinder regelmäßig geschlagen haben.
"Es war jahrhundertelang so, dass Kinder mal eins hinten drauf gekriegt haben, das hat niemandem geschadet. Wenn man die Kinder zu einem gewissen Alter gebracht hat, wo sie dann das Herz den Eltern zugewandt haben - vollständig - dann brauchen die auch keine mehr hinten drauf."
Die Kinder sind ihrem Schicksal überlassen worden
Inzwischen sehen sich Politik und Behörden dem Vorwurf ausgesetzt, zu lange weggeschaut zu haben. Denn in diesem Fall kollidiert das Grundrecht auf Glaubensfreiheit auch mit dem staatlichen Erziehungsauftrag. Margarete Bause, Fraktionsvorsitzende der bayerischen Grünen, fordert eine Debatte im Landtag:
"Das größte Übel war, dass sich das Kultusministerium auf die Genehmigung einer Ersatzschule eingelassen hat. Weil damit hat man der Sekte gesagt: Ihr könnt machen, was ihr wollt, eure Kinder unterliegen doch nicht der staatlichen Schulpflicht. Damit sind die Kinder ihrem Schicksal überlassen worden. Und wir haben den Eindruck, dass hier fahrlässig gehandelt wurde, auch durch die staatlichen Behörden."
Kommende Woche diskutiert der Sozialausschuss im Bayerischen Landtag die Causa. Es soll dabei auch um die Frage gehen, inwieweit andere Glaubensgemeinschaften die Schulpflicht umgehen, sagt der Vorsitzende des Sozialausschusses, Joachim Unterländer von der CSU:
"Wenn die Öffentlichkeit sich mit den Themen auseinandersetzt, dann muss natürlich überprüft werden, wie vorgegangen wird und wo es vielleicht strukturelle Probleme auch gibt im Umgang bei solchen Situationen."
Denn die Zwölf Stämme sind kein Einzelfall: Immer wieder geraten in Deutschland die Interessen von Glaubensgemeinschaften in Widerstreit mit geltendem Recht. Vor zwei Monaten urteilte das Oberverwaltungsgericht Bremen über die Frage, ob Schüler aus Glaubensgründen von Klassenfahrten befreit werden können. Dies müsse die Ausnahme bleiben, entschieden die Richter. Im konkreten Fall wollten Mitglieder der Freien Christengemeinde Bremerhaven ihre Kinder von einer Klassenfahrt befreien, weil sie währenddessen gemeinsame familiäre Gebete und Bibellesungen verpassen würden. Allerdings konnte das Gericht nicht erkennen, dass durch die Klassenfahrt religiöse Verhaltensgebote besonders gravierend beeinträchtigt würden.
Eltern sind Erstinterpreten des Kindeswohls
Grundsätzlich sind der staatliche Erziehungsauftrag einerseits und die Glaubensfreiheit andererseits gleichrangig, beide seien im Grundgesetz verankert, sagt der Rechtswissenschaftler Professor Fabian Wittreck von der Universität Münster:
"Im Normalfall sind die Eltern der Erstinterpret des Kindeswohls. Das heißt, sie haben durchaus den Auftrag, ihre Kinder zu formen. Und der Staat kann im Normalfall erst eingreifen, wenn diese Interpretation des Kindeswohls erkennbar fehlsam ist."
Staatliche Schulen müssten sich weltanschaulich neutral und tolerant verhalten, betonten die Bremer Richter in ihrem Urteil. Gleichzeitig sei es Aufgabe der Schulen, einen Grundstein zu legen für die selbstbestimmte Teilhabe der Schüler am gesellschaftlichen Leben. Dieser Auftrag würde ins Leere laufen, müsste die Unterrichtsgestaltung von sämtlichen Glaubensstandpunkten aus akzeptabel erscheinen. Das Urteil ist keine Ausnahme, erläutert Jurist Wittreck:
"Es scheint mir so zu sein, dass man es einordnen muss in eine Tendenz, gegenüber religiösen Ausnahmen in der öffentlichen Schule restriktiver zu sein. Im Grunde lautet die Botschaft: In der Schule wollen wir weniger Ausnahmen für Religion machen. Im Interesse einer gemeinsamen Erziehung aller Schüler, die auch mit religiöser Pluralität konfrontiert werden sollen. Es weht ein anderer Wind aus der Rechtsprechung."
Sonderbehandlungen abgelehnt
Und es gibt weitere Beispiele: Zwei Kinder, die den Baptisten angehören, sollten nicht an einem schulischen Präventionsprojekt zum Thema "sexueller Missbrauch" teilnehmen. Und ein Junge, dessen Eltern Zeugen Jehovas waren, sollte nicht dabei sein, als sich seine Klasse den Film "Krabat" nach einem Buch von Otfried Preußler ansah. Denn hierin gehe es um Schwarze Magie. In beiden Fällen lehnten die oberen Instanzgerichte eine Sonderbehandlung ab. Ähnlich gelagert ist der Fall muslimischer Schülerinnen, die nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts seit einigen Monaten nicht mehr vom Schwimmunterricht befreit werden dürfen. Stattdessen können sie einen Burkini tragen, einen Ganzkörper-Schwimmanzug.
Kerstin Griese, Beauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion, befürwortet die Entscheidungen:
"Wir haben ja auch mehrere Urteile, unter anderem des Bundesverwaltungsgerichtes, die ausdrücklich sagen, dass Kinder ja auch in der Pluralität lernen müssen. Dass sie soziale Kontakte, soziales Lernen erleben können müssen. Genauso wie ich finde, dass Kinder die Fakten von Sexualität lernen können müssen. Dass sie schwimmen lernen können müssen. Dass sie nicht den Kreationismus, sondern die Lehre von Darwin auch in der Schule lernen können müssen. Natürlich spricht nichts dagegen, dass der Staat Fingerspitzengefühl zeigt. Aber das Grundrecht auf Bildung muss er verwirklichen für alle Kinder."
"Wollen wir die Religionsfreiheit zuschneiden?"
Ein Problem sieht die Bundestagsabgeordnete im wachsenden Fundamentalismus mancher Glaubensgemeinschaften. Damit müsse sich die Gesellschaft auseinandersetzen, so Griese:
"Weil wir natürlich stärker lernen müssen in einer multireligiösen und dann auch in einer säkularer werdenden Gesellschaft damit umzugehen, wie bestimmte – seien es religiöse fundamentalistische – Positionen oder andere integriert werden können. Aber man muss aufpassen, dass da nicht ein Fundamentalismus gedeiht, der ein Fundamentalismus auf dem Rücken anderer Menschen ist. Und insofern glaube ich, dass wir mit dieser Rechtsprechung auf einer guten Linie sind."
Rechtswissenschaftler Fabian Wittreck sieht in den jüngeren gerichtlichen Entscheidungen eine Folge der Säkularisierung. Noch mehr aber stecke dahinter die unausgesprochene Frage: Wie gehen wir mit dem stärker werdenden Islam um? Deshalb gehörten diese Themen in die öffentliche Debatte:
"Die gesellschaftliche Frage - wollen wir Religionsfreiheit neu zuschneiden- die würde ich gern im Parlament diskutiert sehen und nicht von Gerichten anhand von Einzelfällen entschieden. Sehr viele dieser Forderungen, die jetzt sagen: Lasst uns Religion enger fassen, sagen unausgesprochen eigentlich: Lasst uns Religion enger fassen, damit wir die Zumutungen, die von islamischer Religionsausübung ausgehen, besser einfangen können."