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Funkelnde Rhetorik

Es regnet in Strömen am Abend des 29. August 1944. Kurz vor 21 Uhr sind Rudolf und Marie Luise Borchardt gemeinsam mit ihren drei Söhnen aus der Villa Castoldi geflohen. Nun sitzen sie in einem regendurchnässten Schützengraben nördlich von Lucca und frieren. Aus der Ferne sind Schüsse zu hören. Bomben fallen vom Himmel, Granaten explodieren. Die Alliierten sind auf dem Vormarsch, Hitlers Truppen ziehen sich zurück. Gegen Mitternacht hält es die fünfköpfige Familie nicht mehr aus. Sie brechen in eine Hütte ein, verbringen dort den Rest der Nacht. Am nächsten Tag schon gehen die Vorräte zur Neige. Caspar, der älteste Sohn, wird losgeschickt, um Essen zu besorgen. Mittlerweile durchkämmen rund 200 SS-Leute das Gebiet. Einer von ihnen erkennt in Caspar den Sohn des Gesuchten, den Sohn des 67-jährigen "Exildeutschen aus Deutschland" ? so wird es später in einer italienischen Zeitung zu lesen sein. Caspar wird gezwungen, das Versteck zu verraten.

von Alexander Kissler |
    Die Famile wird zurückgebracht in die Villa Castoldi, aus der sie vor zwei Tagen geflohen ist. Von dort startet der Transport über den Brenner. "Heim ins Reich" lautet der Auftrag an den begleitenden Oberfeldwebel. Borchardt befürchtet, er solle ins Konzentrationslager gebracht werden. Nach nationalsozialistischer Rassenarithmetik gilt er als "Volljude". Seine letzte Passage beginnt. Die Ereignisse, die zur vergeblichen Flucht im August 1944 geführt haben, schildert Borchardt im Fragment "Anabasis". Die 22 doppelseitig beschriebenen Blätter ruhten bisher im Literaturarchiv Marbach. Die Rudolf-Borchardt-Gesellschaft hat sie nun erstmals veröffentlicht und um zahlreiche Fotos und Dokumente ergänzt, darunter das Tagebuch von Borchardts einziger Tochter, Corona, und eine Erinnerung des jüngsten Sohnes, Cornelius.

    "Anabasis" ist eine rhetorisch funkelnde Rechtfertigungs- und Anklageschrift, eine ungerechte Polemik und ein faktengenauer Zeitzeugenbericht, detailversessen und phantastisch, beleidigend und zärtlich. Der Titel ist Programm: "Anabasis", auf Deutsch: "Hinaufmarsch" oder "Weg zurück", nannte der Geschichtsschreiber Xenophon sein Hauptwerk aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Er schildert darin den Rückzug eines geschlagenen Heeres. Dass der "Zug der Zehntausend" die Heimat am Schwarzen Meer tatsächlich erreicht, mitten hindurch durch feindliches Gebiet, war damals ein Wunder. Ein solches Wunder ist Borchardts gescheiterte Flucht gewiss nicht. Später aber, in Innsbruck, ereignet sich eine wundersame Rettung. Der Oberfeldwebel lässt die Familie frei ? auftragsgemäß oder aus Mitleid mit dem kranken Dichter. In Trins am Brenner findet die Familie ein Unterkommen. Dort stirbt Borchardt vier Monate später, am 10. Januar 1945. Die Herausgeber betonen den Rang der "Anabasis" als Geschichtsquelle. Ausführlich beschreibt Borchardt

    die absolute Plünderung, die systematische Verwüstung der herrlichen Kulturlandschaft, die seit dem Mittelalter keinen Feind auf ihrem Boden gesehen hatte, die grässliche Menschenjagd, die auch unsere nächsten Freunde [...] nicht ausnahm, [...] das kaltblütige Ermorden harmloser Flüchtlinge [...], die im Bergwald aufgegriffen und in Abständen tot auf die Landstraßen geworfen wurden.

    Borchardt, der vor 1933 für Hitler wie für Mussolini gewisse Sympathien empfand, schämt sich nun fast, ein Deutscher zu sein, ein Ostpreusse aus Königsberg, der noch mit 37 Jahren freiwillig im Ersten Weltkrieg gekämpft
    hatte:

    Meine eigenen Landsleute wälzten den verlorenen Krieg ihrer Tyrannen über das wehrlose und mir heilige Land, das als frommer Allgemeinbesitz der gesamten [...] Menschheit auch von seinen eigenen Bewohnern [...] mehr im Namen einer universalen Gemeinbürgschaft verwaltet als eigentlich [...] besessen wird.

    Seit 1903 lebte Borchardt überwiegend in Italien, weil er den Ursprüngen
    der abendländischen Kultur nahe sein wollte:

    Für uns gilt: Deutsch sein heißt, zwei Vaterländer zu besitzen, zuerst
    Deutschland - und dann Italien.


    Seit 1933 war er in Deutschland unerwünscht, weil die Eltern kurz vor seiner Geburt vom Judentum zum Protestantismus übergetreten waren. Aus der freiwilligen Emigration wurde ein erzwungenes Exil. Inkognito lebt Borchardt im Sommer 1944 in der Villa Castoldi ? solange, bis er seine wahre Identität im Zorn preisgibt. Der Gesprächspartner am Tisch des Hauses entpuppt sich daraufhin als Angehöriger der SS. Wenig später erhält Borchardt den Befehl zum Rücktransport. Die Flucht erscheint ihm unausweichlich. Begründet wird sie in einer für Borchardt so typischen Suada:

    Nie, Niemals, Nie! Solange noch ein einziger Ausweg war, ein einziges Mittel unversucht, um meine Freiheit durchzusetzen, würde ich mich nicht beugen lassen. Ich hatte es mein Leben lang nicht getan. Alles, was ich war und geworden war [...], dankte ich dem mir angeborenen [...] Furor zur absoluten Freiheit [...]. Ich war als Student aus dem reichen väterlichen Hause nachts geflohen, um [...] beim eigenen Willen zu bleiben und hatte harte Jahre gleichmütig auf mich genommen, um mich nicht Befehlen beugen zu müssen. Nie hatte ich eine Autorität über mich zugelassen, nie gehorcht, nie kompromittiert. Ich war auf jedem Gebiete meines Tuns grundsätzlich Outsider geblieben [...]. Ich lebte in Italien fast nur, weil diese selbstbestimmte [...] Landabgeschlossenheit des geschützten Fremden der einzige in Europa erhalten gebliebene Rest der alten Freiheit des Individuums war.

    Mitten hinein in das Gesamtwerk Borchardts, in seine Reden und Essays, Erzählungen und Briefe, Dramen und Übersetzungen führt dieses späte Bekenntnis. Ein Outsider war er tatsächlich, ein trotziges, leicht reizbares Individuum, das keine Gelegenheit ausließ, es sich mit Freunden und Kollegen zu verscherzen. Von dauerhaftem Verständnis geprägt war lediglich seine Beziehung zu Rudolf Alexander Schröder und zu dessen Nichte Marie-Luise, Borchardts zweiter Frau. Ihr widmete er 1919 den Gedichtzyklus "Schöpfung aus Liebe":

    Die Sterne haben dich mein gewollt,
    Dich Strahlengabe mir zugerollt,
    Dich um mich verhundertfältigt.
    Die Bläuen haben dich hergewettert,
    Dich Lerchenstimme mir zugeschmettert,
    Und mich mit dir überwältigt.


    Auch in der Liebe dachte und dichtete Borchardt in den Kategorien von Überwältigung und Unterwerfung ? doch unter umgekehrten Vorzeichen: Als Redner kleidete er sein Sendungsbewusstsein in kraftmeierische Posen, wollte ein Lehrer der Nation sein und eine konservative Revolution in Gang setzen.

    noch das glücklichste Volk hat dem Dichter keine Ehre zu erweisen als die
    einzige, daß es auf ihn hört.


    Als Lyriker aber, zumindest in seinen zahlreichen Liebesgedichten an Marie
    Luise, genannt Marel, preist er die Demut und immer wieder die Demut:

    Frei sein ist nichts: ich wollt, ich wäre dein.

    Und an anderer Stelle heißt es:

    Fort und fort hätt' ichs für mich getrieben
    Ohne Dich die letzte Frist verschwankt;
    Keiner soll mich lesen oder lieben,
    Der nicht wisse, wem er mich verdankt.


    Von den vielen Gattungen, an denen sich Borchardt versuchte, ist die Lyrik am umstrittensten. Die Kernfrage lautet: Gibt es ihn überhaupt, den Lyriker Rudolf Borchardt? Ist er hier nicht rein epigonal? Schreibt er nicht mal im Stile des verehrten Hofmannsthal, mal wie der vergötterte Goethe, mal wie der misstrauisch beäugte Stefan George? Wo zwischen all den Elegien und Oden auf Daphne, Helena und Bacchus ist der Borchardtsche Tonfall versteckt?

    Zeitgleich mit "Anabasis" erschien nun die revidierte Ausgabe der Gedichte. Der 1957 vorgelegte Band strotzte bisher vor falschen Zuschreibungen, nachträglich erfundenen Titeln und willkürlichen Auslassungen. Die neuen Herausgeber Gerhard Schuster und Lars Korten haben die Gedichte chronologisch geordnet und die Druckfassungen mit den Originalen verglichen. Das Ergebnis ist ein wesentlich genauerer und damit gerechter Blick auf die vielen Häutungen des Lyrikers Borchardt. Die ersten Versuche um die Jahrhundertwende sind noch ganz dem Jugendstil verpflichtet:


    Eine große trauervolle Stille
    Füllt den Traumweg und den schönen Garten
    Meine leicht und schweren Füße folgen
    Ungesehen unsichtbaren Schritten.


    Über die strenge Form, vor allem über das Sonett, gelangt Borchardt dann zu einem eigenen, zu seinem Ton. In kurzen, gereimten Gedichten ist der Bewusstseinsschock der Moderne authentisch verwahrt. Nachvollziehbar wird nun, warum Theodor W. Adorno über Borchardts "beschworene Sprache" so hemmungslos ins Schwärmen geriet: Diese Sprache ist getragen von der Erkenntnis, dass nur im Abschied und in der Verweigerung, ja nur im Verzicht auf Sinn noch Sinn erfahren werden kann.

    Ich habe nichts als Rauschen,
    Kein Deutliches erwarte dir;
    Sei dir am Schmerz genug, in dich zu lauschen.


    Rudolf Borchardt
    Anabasis"
    Hanser, 424 S., EUR 24,90