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Furcht vor der Armee

Immer wieder ziehen die "Kriegskommissariate", wie die Wehrersatzämter in Russland heißen, auch junge Männer ein, die eigentlich nicht tauglich sind, weil sie chronisch krank sind. Denn die Armee benötigt die Wehrdienstleistenden als billige Arbeitskräfte.

Von Gesine Dornblüth |
    Auch Russland hat die Dauer der Wehrpflicht in den letzten Jahren reduziert, von ehemals vier Jahren in der Sowjetunion auf zwölf Monate. Für Maksim sind selbst zwölf Monate zu viel:

    "Wenn es darum ginge, dem Staat oder dem Land zu dienen, wäre das noch in Ordnung. Aber bei uns ist das ja alles anders. Und das Risiko ist hoch, vom Armeedienst nicht oder als ganz anderer Mensch zurückzukehren, mit veränderter Psyche. Bei der derzeitigen Lage in der russischen Armee möchte ich jedenfalls nicht zum Wehrdienst."
    Die russische Armee ist berüchtigt. Immer wieder nutzen Offiziere Wehrpflichtige für private Zwecke aus, misshandeln sie, treiben sie sogar in den Selbstmord. Das Unterdrückungssystem hat einen Namen: "Dedovschina". Die Dienstälteren, die sogenannten "Großväter", quälen die Jüngeren.

    Vor allem aus Angst vor der "Dedovschina" versuchen viele Russen, um den Dienst in der Armee herumzukommen. Maxim zum Beispiel studierte erst, hat jetzt sogar noch eine Doktorarbeit angehängt. Die schreibt er zwar ohne große Lust, aber wenn er seinen Doktortitel hat, muss er nicht mehr zur Armee. Andere entziehen sich, indem sie Ärzte bestechen und sich gefälschte Atteste kaufen.

    Das Nachsehen haben jene, die sich weder ein Studium noch Bestechungsgelder leisten können und tatsächlich krank sind. Denn um den Plan zu erfüllen, ziehen die russischen Einberufungsstellen regelmäßig auch junge Männer ein, die eigentlich ausgemustert werden müssten, sagt Svetlana Kuznezowa vom Komitee der Soldatenmütter in Moskau:

    "Das wird auch in diesem Frühjahr so sein, denn laut Plan soll die Zahl der Wehrpflichtigen noch steigen. Wir befinden uns aber in einem demografischen Tief. Es gibt einfach nicht genügend gesunde junge Männer. Das Militär führt deshalb Razzien durch. Junge Männer im wehrpflichtigen Alter werden einfach von der Straße weg gefangen, zu Sammelstellen gebracht und gleich in die Kasernen geschickt. Das passiert immer zum Ende der Einberufungsperiode, wenn die Generäle merken, dass sie den Plan nicht erfüllen. Dann greifen sie zu allen Mitteln."
    Svetlana Kuznezowa kämpft seit zwölf Jahren gegen Menschenrechtsverletzungen im russischen Militär, seit ihr eigener Sohn eingezogen wurde. Einen Fortschritt in der Armee kann sie nicht erkennen – im Gegenteil. Gerade habe das Verteidigungsministerium Krankheiten von der Liste gestrichen, die bisher als Ausmusterungsgrund galten:
    "Unter bestimmten Umständen können jetzt zum Beispiel chronisch Nierenkranke und Asthmatiker einberufen werden. Das ist gefährlich, denn der Wehrdienst kann körperlich sehr belastend sein. Und es kommt vor, dass solche Männer die Armee nicht überleben."
    Menschenrechtler sind noch aus einem anderen Grund beunruhigt. Armeelobbyisten haben einen Gesetzesentwurf in die Duma eingebracht. Demnach sollen sich alle potenziell Wehrpflichtigen künftig selbst bei den Musterungsstellen melden. Wer das nicht tut, macht sich strafbar. Bisher werden junge Russen schriftlich zur Musterung vorgeladen. Aleksandr Nikitin, Generalmajor bei der Militärstaatsanwaltschaft, begründet die geplante Neuerung so:

    "Wir müssen den Wehrpflichtigen dann nicht mehr hinterher laufen. Zurzeit entziehen sich 200.000 junge Leute der Musterung. Sie fahren weg, verstecken sich oder machen einfach die Türen nicht auf, wenn der Musterungsbescheid kommt."
    Statt massenweise junge Männer zu Kriminellen zu machen, solle das Militär lieber darüber nachdenken, weshalb der Wehrdienst so unbeliebt sei, meint Svetlana Kuznetsowa von den Soldatenmüttern:

    "Ich habe neulich gehört, wie ein ranghoher Offizier sagte: 'Wir wollen keine Berufssoldaten. Denn denen müssen wir Sold zahlen, die haben Anspruch auf Urlaub und auf Feiertage. Wehrpflichtige dagegen können wir von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten lassen.' Für das Verteidigungsministerium lohnt sich das. Wehrpflichtige sind für sie billige Arbeitskräfte."