Als die WM 2010 nach Katar vergeben wird, ist Nadim Rai 14 Jahre alt. Damals lebt er in der syrischen Hafenstadt Latakia. Ein leidenschaftlicher Fußballfan, der sich besonders für die Bewegung der Ultras interessiert. Zwischen Latakia und der katarischen Hauptstadt Doha liegen fast 2500 Kilometer. Trotzdem betrachtet Nadim Rai die WM zu jener Zeit als große Chance für die ganze arabische Welt. Eine Haltung, die sich einige Jahre später, wie er sagt, als naiv herausstellt:
"Das ist insofern keine WM für die arabische Welt, weil nur einige arabische Länder sich aktiv beteiligen und davon profitieren. Weder am Bau der Stadien noch an der Organisation haben sich die arabischen Länder beteiligt, sondern das waren in erster Linie westeuropäische Firmen und Großunternehmen, die die ganzen Projekte übernommen haben. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist das Al-Bayt-Stadion. Das Stadion hat die Form eines großen Zeltes, das die katarische Kultur widerspiegelt. Dieses Stadion wurde nicht von arabischen Architekten entworfen, sondern von einer deutschen Firma."
Der in Syrien aufgewachsene Nadim Rai lebt seit 2015 in Deutschland. Er gehört hierzulande zu den rund 1,5 Millionen Menschen arabischer Herkunft. Inzwischen besitzt er auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Nur deshalb kann er im Dezember 2021 ohne Einschränkungen nach Katar reisen und dort den Arab Cup verfolgen, die WM-Generalprobe mit arabischen Teams.
Dass die katarische Herrscherfamilie von einem Aufbruch für die ganze arabische Welt spricht, findet Nadim Rai übertrieben und nennt ein Beispiel: "Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass vor der WM nur Angehörige von sechs arabischen Staaten visumsfrei nach Katar einreisen durften. Ich gehe davon aus, dass es trotz der Einreiselockerungen während der WM syrische und jemenitische Staatsbürger es schwer haben, nach Katar einzureisen, weiterhin.“
Marokko sichtet Talente für Europa
Die arabische Diaspora ist vielfältig - in Deutschland und in anderen Ländern Europas. Sichtbar wird das nach dem Erfolg der marokkanischen Mannschaft in Katar. Mehr als die Hälfte ihrer 26 Spieler wurde nicht in Marokko geboren, sondern in Frankreich oder Spanien, in Belgien oder Italien. Deshalb feiern auch in Paris, Berlin oder Brüssel Tausende Menschen arabischer Herkunft den marokkanischen Erfolg.
Sie erkennen sich in den Biografien wieder, sagt der Journalist Maher Mezahi, der sich mit Fußball in Nordafrika befasst: "Der marokkanische Fußballverband ist gut organisiert und macht sich die Diaspora zunutze. Er hat sechs oder sieben Scouts im Einsatz, unter anderem in Spanien, Frankreich und Belgien. Ihr Hauptziel ist die Sichtung von jungen Spielern. Und dann werden die Talente kontaktiert, um zu sehen, ob sie am marokkanischen Verband interessiert sind."
Die Großeltern von Maher Mezahi stammen aus Algerien, er selbst ist in Kanada aufgewachsen. Mittlerweile lebt Mezahi in Marseille, im Süden Frankreichs. Seit Generationen wird wohl keine andere Stadt Europas so sehr durch Einwanderung aus arabischen Ländern geprägt. Maher Mezahi besucht regelmäßig Heimspiele von Olympique Marseille. Er sagt, dass sich die Vielfalt der Stadt im Stadion spiegeln würde. Fans schwenken mitunter algerische oder tunesische Flaggen. "In Marseille wird zum Beispiel der Afrika-Tag begangen. Dann gibt es eine Reihe von Veranstaltungen, die den afrikanischen Kontinent feiern. Olympique lädt dann auch frühere Spieler afrikanischer Herkunft ein. Der Verein hat seinem Sortiment auch ein Trikot mit Afrika-Bezug."
Araber solidarisieren sich mit Katar
Doch es gibt auch eine andere Seite. Regelmäßig erfährt Maher Mezahi von arabischen Spielern und Fans in Frankreich, die sich diskriminiert fühlen. Wenn für Nationalteams aus dem Maghreb wichtige Länderspiele anstehen, erhöht die Polizei in französischen Städten mitunter ihre Straßenpräsenz. Als würde sie stets mit Ausschreitungen der arabischen Gemeinschaft rechnen. Integrationsprojekte gibt es im französischen Fußball kaum. Das ist in Deutschland anders, sagt Robert Chatterjee vom Nahost-Magazin Zenith: "Viele mit einem Fluchthintergrund sagen, dass ihnen gerade die deutsche Vereinskultur, die Fußballkultur bei der Integration geholfen hat."
Die arabische Diaspora kann sich spätestens seit dem WM-Sieg 2014 mit der deutschen Nationalmannschaft identifizieren. Das liegt damals auch an Leistungsträgern wie Mesut Özil und Sami Khedira. Ob sich ihre Perspektive nun ändert? Schließlich kommt die Kritik am ersten arabischen WM-Gastgeber vor allem aus Deutschland.
"Die wenigsten in der arabischen Diaspora kommen ja aus den Golfstaaten. Generell gibt es eher kritische Stimmen. Weil man sagt, dass andere Araber am Golf als Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt werden", sagt die Journalistin Dunja Ramadan, die sich bei der Süddeutschen Zeitung auch mit der arabischen Diaspora befasst: "Aber durch die geballte Kritik aus Europa habe ich beobachtet, dass man dann irgendwann sagt: Ok, Ihr habt euren Punkt gemacht, jetzt langsam schlägt es in etwas anderes um. In unverhältnismäßige und in teils rassistische, exotisierende Kritik. Und deswegen beobachte ich in der arabischen Diaspora eher Solidarität mit Katar."
Wie kann der Deutsche Fußball-Bund in der Einwanderungsgesellschaft wieder mehr Glaubwürdigkeit gewinnen? Das ist eine von vielen Fragen, auf die der Verband bis zur heimischen Europameisterschaft 2024 Antworten finden muss.