Im Herbst 1990 gehört die jugoslawische Nationalmannschaft zu den Besten der Welt. Ihre ersten Qualifikationsspiele für die Europameisterschaft 1992 gewinnt sie deutlich gegen Nordirland, Österreich und Dänemark. Robert Prosinečki, Darko Pančev oder Predrag Mijatović: Die Führungsspieler kennen sich seit Langem. 1987 hatten sie die Junioren-Weltmeisterschaft in Chile gewonnen. 1990 sind sie bei der WM in Italien erst im Viertelfinale an Argentinien gescheitert.
Nicht nur sportlich, auch politisch gilt das Nationalteam als Symbol für den jugoslawischen „Vielvölkerstaat“. 1990, zu Beginn der EM-Qualifikation, stammen die Spieler noch aus allen sechs Teilrepubliken, insbesondere aus Serbien, Kroatien und Bosnien. Dennoch sei das Team damals kein Spiegelbild der Gesellschaft gewesen, sagt der Sozialwissenschaftler Dario Brentin, der sich mit Fußball und Nationalismus auf dem Balkan beschäftigt: „Nationalmannschaften, vor allem im Geiste der jugoslawischen Sportschule, hatten einen sehr starken Eigencharakter. Was meine ich damit? Dass es eine Entwicklung gab, in der Nationalspieler von ihrem 14. Lebensjahr an bis in die Profikarriere – und auch der Tatsache geschuldet, dass sie ja lange nicht ins Ausland transferiert werden durften – zusammengespielt haben, sich gut gekannt haben und Freunde waren. Ich würde sagen, dass die Kohärenz innerhalb des Teams viel stärker war als die Kohärenz innerhalb des jugoslawischen Vielvölkerstaates.“
Beschimpfungen von den eigenen Fans
Von einer solchen Harmonie kann in der jugoslawischen Gesellschaft seit Anfang der Achtzigerjahre keine Rede mehr sein. Wirtschaftskrisen und Spannungen lassen die Sehnsucht nach ethnisch homogenen Einzelstaaten wachsen. Nationalismus führt in den Stadien zu Hassgesängen, Gewalt, Spielabbrüchen. Als Roter Stern Belgrad 1991 den Europapokal der Landesmeister gewinnt, schwenken seine Fans kaum noch jugoslawische, sondern serbische Fahnen, erinnert der Historiker Richard Mills, der ein Buch über die Geschichte des jugoslawischen Fußballs geschrieben hat: „Es gab einige Vorfälle, da wurde die jugoslawische Nationalmannschaft bei Heimspielen von eigenen Fans ausgebuht und beschimpft, besonders in der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Das Land zerfiel. Und das Nationalteam sah am Ende der EM-Qualifikation ganz anders aus als am Anfang. Denn Schritt für Schritt zogen sich wichtige Spieler aus der Mannschaft zurück. Ein regelrechter Exodus.“
Im Juni 1991 erklären Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Die serbisch dominierte Armee Jugoslawiens will das kroatische Gebiet unter Kontrolle bringen. Im folgenden Krieg werden mehr als 10.000 Menschen getötet. Die jugoslawische Nationalmannschaft darf sich trotzdem auf die Europameisterschaft vorbereiten – inzwischen aber ohne kroatische und slowenische Spieler.
Im März 1992 erklärt auch Bosnien-Herzegowina die Unabhängigkeit. Die Minderheit der bosnischen Serben will das nicht akzeptieren, ihre Truppen ziehen einen Belagerungsring um Sarajevo. In der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad ist Ivica Osim in großer Sorge. Der Trainer des jugoslawischen Nationalteams versucht verzweifelt, seine Familie in Sarajevo zu erreichen. Am 23. Mai 1992, zweieinhalb Wochen vor Beginn der Europameisterschaft, tritt er als Nationaltrainer zurück. Er sagt unter anderem: „Mein Land hat es nicht verdient, an der Europameisterschaft teilzunehmen. Der Rücktritt ist das einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Damit die Menschen sich erinnern, dass ich in Sarajevo geboren bin.“
Gebietsansprüche durch Fußball
Die jugoslawische Mannschaft reist dennoch zur EM nach Schweden. Ihr Quartier in der Küstenstadt Ystad liegt in der Nähe eines Lagers für Balkan-Flüchtlinge. Die schwedische Polizei fürchtet Proteste, und so verlegt die Mannschaft ihr Camp. Am 30. Mai 1992, elf Tage vor Beginn der EM, verabschieden die Vereinten Nationen die Resolution 757. Darin geht es um Sanktionen gegen Jugoslawien in Handel, Diplomatie, Kultur – und auch im Sport, sagt der Historiker Richard Mills: „Die Mannschaft erfährt im Prinzip aus den Medien, dass sie nicht an der Europameisterschaft teilnehmen darf und dass sie wieder heimreisen muss. Die größte Ironie der Geschichte ist natürlich, dass die nachnominierte Mannschaft Dänemarks am Ende das Turnier gewinnt.“
Richard Mills sieht Gemeinsamkeiten zwischen dem Jugoslawienkrieg 1992 und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022. Damals wie heute müssen Fußballvereine ins Exil. Damals wie heute mobilisieren Hooligans für den Kampf. Und prominente Spieler verbreiten Botschaften ihrer Regierungen. Darüber hinaus sei Fußball damals wie heute eine Bühne, um Gebietsansprüche deutlich zu machen, sagt Richard Mills: „Bereits 2015 wollte der russische Fußballverband Vereine von der Krim in den eigenen Spielbetrieb eingliedern, aber die Uefa hat das untersagt. Und in Jugoslawien gab es vergleichbare Situationen: Zum Beispiel in Banja Luka, einer serbisch geprägten Stadt in Bosnien. Der dortige Verein FK Borac zog während des Bosnienkrieges nach Belgrad um und spielte weiter in der jugoslawischen Liga. Ein Zeichen gegen die Unabhängigkeit des neuen bosnischen Nationalstaates.“
Heute blickt man auf dem Balkan unterschiedlich zurück. In Kroatien gilt 1992 nicht als Ende, sondern als Beginn einer erfolgreichen Ära.