EM 2024 im Fernsehen
Das letzte große Lagerfeuer glimmt noch

Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer vor den Fernsehern, Rekordwerte bei den Interaktionen im Internet: Aus Mediensicht war diese EM ein großer Erfolg. Doch angesichts der Debatte um teure Sportrechte und immer größere Turniere könnte der Höhenflug bald vorbei sein.

Von Christian von Stülpnagel | 14.07.2024
Deutschland-Fans schauen an einem Fernseher im Stadion das andere Spiel des Tages an
Die TV-Übertragungen von der Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland haben wieder zahlreiche Menschen vor die Bildschirme gebracht. (IMAGO / MIS / IMAGO / Bernd Feil / M.i.S.)
Für die Deutschen war es der Aufreger bei dieser EM: Im Viertelfinale gegen Spanien schießt Jamal Musiala in der 106. Minute auf’s Tor – und trifft die Hand von Marc Cucurella. ARD-Kommentator Gerd Gottlob sagt in der TV-Übertragung: "Auf jeden Fall Handspiel! Auf jeden Fall Handspiel von Cucurella!"
Die meisten Fans sehen das ähnlich – und diskutieren darüber im Internet wie nie zuvor: Laut der Netzbetreiber wurden in den Minuten nach der Szene im deutschen Mobilfunknetz rund 2.000 Gigabit pro Sekunde an Daten verschickt. Das entspricht der Menge von rund 50.000 hochauflösenden Fotos, die im selben Moment hochgeladen werden. So viel waren die Deutschen zuvor noch nie zeitgleich im Netz unterwegs.

Soziale Medien ersetzen den Stammtisch

"Soziale Medien wie Twitter sind ein neuer Kanal geworden, der auch so ein bisschen den Stammtisch von früher ersetzt", sagt Christiana Schallhorn, Sportsoziologin an der Universität Mainz. "Insbesondere nach solchen strittigen Szenen, wo das Bedürfnis nach Diskussion und nach Austausch besonders groß ist."
Millionen Menschen zeitgleich vor dem Fernseher. Was früher bei großen Shows wie "Wetten, dass…?" die Regel war – heute scheint es nur noch der Fußball zu schaffen. Schallhorn betont: "Die Besonderheit ist gerade bei Live-Sport-Events, dass man es eben live mitbekommt, was passiert. Der Fußball ist sozusagen das kleine letzte Lagerfeuer für den gemeinsamen Konsum vor dem Fernseher."

Starke TV-Quote muss differenziert betrachtet werden

Allein das Viertelfinal-Aus gegen Spanien haben rund 26 Millionen Menschen vor dem eigenen Fernseher verfolgt. Insgesamt rund 80 Prozent aller TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer an dem Abend haben das Spiel gesehen. Eine höhere Quote gab es zuletzt beim WM-Finale 2014, als Deutschland Weltmeister wurde.
Bei den absoluten Zahlen zeigt der Trend hingegen nach unten. Trotz Euphorie-Stimmung dank der EM im eigenen Land: Bei der EM 2021 haben noch eine Million Menschen mehr die Spiele vor dem Fernseher verfolgt. "Das muss man ein bisschen differenziert betrachten", sagt Christiana Schallhorn: "Gerade jetzt zur Heim-EM waren viele Menschen wieder auf den Straßen unterwegs, auf den Fanmeilen, um eben das Geschehen mit anderen zu teilen. Und das war vor vier Jahren, als die Corona-EM war, ganz anders."
Deshalb blicken die übertragenden Sender mehr als zufrieden auf die vergangenen Wochen. ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky unterstreicht: "Es war eine sehr stimmungsvolle Europameisterschaft, die uns viel Freude bereitet hat, weil wir gemerkt haben, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer wieder zurückgekommen sind."
In den vergangenen Jahren hatten die mauen Leistungen der Nationalelf auch das Interesse der Fans schwinden lassen. Balkausky fährt fort: "Es gab ja auch eine Corona-EM, und es gab eine WM in Katar, die sehr politisch belastet war. Und das alles zusammen auch mit dem ganz anderen Auftreten der deutschen Mannschaft hat dazu geführt, dass sich wieder viele Menschen der EM zugewandt haben."

ZDF-Sportchef: "Fußball versammelt Menschen hinter sich"

Dass auch die Spiele ohne deutsche Beteiligung oft mehr als zehn Millionen Menschen vor die Fernseher gelockt haben, gibt den Sendern Argumente in der Debatte um die hohen Preise, die sie für die Übertragungsrechte zahlen müssen. Yorck Polus, Sportchef beim ZDF, erklärt: "Der Fußball ist über weite Strecken und mit großem Abstand das Einzige, das es noch schafft, Menschen egal welcher Herkunft hinter sich zu versammeln und eben diese Begeisterung auszulösen. Und das kostet auf dem freien Markt einfach Geld."
Allerdings mussten die öffentlich-rechtlichen Sender bei dieser EM neue Wege gehen: Erstmals bei einer EM waren sie nicht die Hauptrechtenehmer – sondern Magenta-TV, der Streaming-Dienst der Telekom. ARD, ZDF und RTL mussten von Magenta-TV Sublizenzen kaufen.
"Im Vorfeld muss man sagen, dass Magenta einfach das bessere Angebot vorgelegt hat. Und das dokumentiert, dass ARD und ZDF da nicht uneingeschränkt mitgehen können und auch nicht wollen", sagt Polus. Vor allem, da in der Debatte um die Höhe des Rundfunkbeitrags auch die teuren Sportrechte als Negativbeispiel verwendet werden. Die Sender müssen also zwischen dem Interesse am Sport und der Verantwortung gegenüber den Beitragszahlern abwägen.

Mega-WM mit 48 Teams wirft ihre Schatten voraus

"Da muss man einen Mittelweg finden, und in dem Kauf von Sublizenzen kann genau dieser Mittelweg liegen", führt Sebastian Uhrich aus, er ist Professor für Sportbetriebswirtschaftslehre an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er sieht auch im Gigantismus der Sportverbände ein Problem: "Es wird zu groß, es wird zu teuer. Und die Frage ist ja auch, gibt es genug Sendeplätze, um das alles in einem Sender abzubilden?"
Zum Beispiel bei der kommenden Weltmeisterschaft in den USA, Kanada und Mexiko: Erstmals werden 48 Teams daran teilnehmen – mehr als fünf Wochen lang werden mehr als 100 Spiele ausgetragen, bisher waren es 64.
"Wir werden erleben, dass das auf gar keinen Fall mehr von einem Rechtenehmer allein mehr geschultert werden kann", sagt ARD-Sportkoordinator Balkausky. "Es gilt ja nicht nur Lizenzen zu zahlen, sondern auch der Produktionsaufwand für 104 Spiele ist riesig." Kamerateams, Reporter, Journalisten – alle müssen von einem Ort zum nächsten geflogen werden.
Bei ZDF-Sportchef Yorck Polus sorgt die Mega-WM für Fragezeichen: "Ob diese Aufblähung, und ich benutze dieses Wort ganz bewusst, ob die für den Markt und auch für die Sportarten und für den Sport, nämlich den Fußball, so gut ist..."

Wann wird die Fußball-Schraube überdreht?

Mehr Spiele gleich mehr Geld – diese etablierte Rechnung der Verbände könnte irgendwann nicht mehr aufgehen. Das glaubt auch Sebastian Uhrich, Professor für Sportbetriebswirtschaftslehre an der Deutschen Sporthochschule in Köln: "Ab einem bestimmten Punkt wird es eine Übersättigung geben. Oder zumindest eine Fokussierung auf die wirklich relevanten Spiele des eigenen Teams oder in den Ausscheidungsrunden. Von daher darf diese Schraube sicher nicht überdreht werden."
Wann das der Fall ist, werden die nächsten Rechtevergaben zeigen. Die für die WM 2026 wird frühestens im Herbst 2024 starten.