EM 2024
Fußball als Drama: Über Glück und Pech in der Nachspielzeit

Kroatien trauert, Italien feiert in letzter Sekunde. So lässt sich das Drama, das 1:1 in Gruppe B bei der Fußball-EM 2024, zusammenfassen. Diskutiert wird über die lange Nachspielzeit. Geht es nach der Experimentalphysik, ist Fußball per se ein ungerechter Sport – was auch den Reiz ausmacht.

Von Julian Tilders | 25.06.2024
    Bei der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland trifft Italiens Mattia Zaccagni (3.v.l.) gegen Kroatien spät zum 1:1-Ausgleich
    Bei der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland hat Italiens Mattia Zaccagni (3.v.l.) Kroatien mit seinem späten Treffer im letzten Gruppenspiel so gut wie sicher aus dem Turnier geschossen. (picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Das Drama ist eine Urform der Literatur. In mehreren Akten entwickelt sich die Geschichte durch einen Spannungsbogen, den alleine die interagierenden Personen bestimmen. Diese Schablone passt auch auf den Ablauf eines Fußballspiels, besonders auf ein solches Duell, wie es sich Kroatien und Italien am Sonntag (24.06.2024) bei der Europameisterschaft geliefert haben.
    Dieses Drama endete letztlich 1:1. Damit steht Italien im Achtelfinale und Kroatien ist so gut wie raus, nur noch durch ein Wunder ist das Weiterkommen als Gruppendritter möglich. Die handelnden Hauptpersonen: die Torschützen Luka Modric (55.) für Kroatien und Mattia Zaccagnin (90.+8) in letzter Sekunde für Italien. Und der niederländische Schiedsrichter Danny Makkelie.

    Kroatische Wut wegen achtminütiger Nachspielzeit

    Seine Entscheidung, acht Minuten nachspielen zu lassen, hat die Kroaten wütend gemacht. Trainer Slatko Dalic witterte eine Verschwörung: "Ich möchte sagen, dass acht Minuten auf keinen Fall berechtigt waren. Es gab keine Spielunterbrechungen und auch nicht so viele Fouls. Mich nervt, dass Kroatien nicht respektiert und anerkannt wird. Wir haben viel zu lange gespielt. Passiert das bei Portugal oder Spanien auch?"
    Deutschlandfunk-EM-Reporter Matthias Friebe analysiert: "Natürlich gab es Unterbrechungen durch Auswechselungen, es gab auch einen Videobeweis rund um den Elfmeter. Aber acht Minuten – das hat man bei dieser EM eigentlich noch nicht so gesehen. Und der UEFA-Schiedsrichterchef Roberto Rosetti wollte auch nicht diese langen Nachspielzeiten, die wir bei der WM in Katar hatten, mit zum Teil zweistelligen Nachspielzeiten."

    Ermessensspielraum: Nachspielzeit nicht klar geregelt

    Legitim war die Nachspielzeit in jedem Fall. Denn eine für die Teams unkontrollierbare Variable im Fußball-Drama ist der Ermessensspielraum des Schiedsrichters. Der bezieht sich auch auf die Entscheidung über eine angemessene Nachspielzeit.
    Die Verlängerung der Spieldauer kann laut des International Football Association Board (IFAB), das als Gremium das Fußball-Regelwerk kontrolliert, mehrere Gründe haben. Zum Beispiel: Auswechselungen, Verletzungsunterbrechungen, Überprüfungen durch den Videoassistenten, Jubel nach Toren, Zeitspiel. Auf alleine schon vier der aufgeführten Punkte – denn auch die Kroaten nahmen gegen Ende ordentlich Zeit von der Uhr – können Argumente für Makkelies veranschlagte Nachspielzeit gewesen sein.
    Darüber hinaus kann praktisch alles als Rechtfertigung dienen, so führt das IFAB sogar einen Punkt für "alle sonstigen Fälle" auf, die das Spiel signifikant verzögern. Und so sah das eine Fanlager (Italien) in der langen Nachspielzeit und dem Ausgleich Gerechtigkeit, das andere (Kroatien) großes Unrecht.
    Der niederländische Schiedsrichter Danny Makkelie (2.v.l.) zückt im Spiel Kroatien gegen Italien eine Gelbe Karte.
    Der niederländische Schiedsrichter Danny Makkelie entschied sich für eine achtminütige Nachspielzeit beim EM-Gruppenspiel zwischen Kroatien und Italien. (IMAGO / BSR Agency / IMAGO / Peter Lous)

    Physiker: Fußballteams können durch reines Glück siegen

    Aber (gefühlte) Ungerechtigkeiten müsse man als Fußballfan in Kauf nehmen, erklärt Metin Tolan im Interview mit der SWR-Wissenschaftsredaktion. Der Experimentalphysiker und Präsident der Universität Göttingen hat ein Buch zur Physik des Fußballspiels geschrieben. Beim Fußball gewinnt zu oft die schlechtere Mannschaft, sagt Tolan: "Sie können sich das grob ausrechnen. Angenommen, eine Mannschaft ist halb so gut im Vergleich zu einer anderen. Dann kriegen sie aber raus, dass die Siegwahrscheinlichkeit der nur halb so guten Mannschaft immer noch 26 Prozent ist. Das ist relativ viel."
    Der Grund dafür ist laut des Experimentalphysikers, dass nur wenige Tore fallen. Andere Sportarten sind tor- oder punktreicher, etwa Handball oder Basketball. Tolan stellt im SWR-Interview klar: "Eine Mannschaft kann nur durch reines Glück gewinnen."

    "Das Ziel ist, etwas Dramatisches abzuliefern"

    Überprüfungen durch den Videoassistenten, automatisierte Abseitserkennung – der Zweck dieser Innovationen ist, als Schiedsrichter gerechtere Entscheidungen treffen und klare Fehler vermeiden zu können. Laut Tolan ist aber das einzige Mittel, den Fußball gerechter zu machen, den Faktor Glück zu reduzieren. Dem SWR sagt er: "Indem man einfach die Tore größer macht. Dann enden die Spiele nicht mit 2:1, sondern mit 25:20. Wenn da vielleicht ein Tor durch eine Schiedsrichterentscheidung falsch gegeben wurde, dann spielt das keine so große Rolle."
    Dass die Idee realitätsfern ist, weiß der Physiker. Er misst dem Fußball in seiner Normalform sogar einen höheren Unterhaltungswert bei: "Die Ungerechtigkeit ist doch das Schöne am Fußball, weil die Dramen dadurch geschrieben werden, dass es die wenigen Höhepunkte gibt. Gerechtigkeit ist gar nicht das Ziel. Das Ziel ist es, uns etwas Dramatisches abzuliefern und das schafft der Fußball."
    Ein Beispiel dafür: das dramatische 1:1 zwischen Kroatien und Italien.