Warum wird jemand zum Fußballfan? Viele Millionen Menschen in Deutschland haben darauf ihre jeweils eigene Antwort. Meine lautet, und sie dürfte eher selten sein: aus Trotz. Ich fing als kleiner Junge an, dem FC Bayern München die Daumen zu drücken, weil mein Vater für den HSV war.
Gelandet auf dem Stern des Südens
Ist schon sehr, sehr lange her. Der HSV war damals – in den 80er-Jahren - noch ein Spitzenverein und stritt sich unter anderem mit den Münchnern um die Meisterschaft. Mein Vater war Lokalpatriot, und ich brauchte offenbar ein ordentliches Stück Abgrenzung – so bin ich auf dem Stern des Südens gelandet.
Andere Fans wurden genau andersherum sozialisiert, und das ist vermutlich der „normale“ Weg: Sie wurden von ihrem Vater oder dem großen Bruder mit ins Stadion genommen und sind dann dort hängengeblieben, in den meisten Fällen für immer und ewig. Wer einmal dabei ist, kann nicht mehr anders. Wer anderes behauptet, hat nicht „Fever Pitch“ von Nick Hornby gelesen.
Trotz dieses im Grunde alles erklärenden Buchs wird das Fußball-Fantum gerade in bildungsbürgerlichen Kreisen mitunter noch immer mit einem verständnislosen Kopfschütteln bestraft. Ja, da laufen also 22 Männer oder Frauen einem Ball hinterher und versuchen, diesen in ein 7,32 mal 2,44 Meter großes Tor zu treten. Was – um Himmels willen – soll daran interessant und berauschend sein? Hier kommen ein paar Gründe, warum es sich lohnt und schlicht gut anfühlt, dem Fußball zu huldigen.
Der Fußball-Fan darf träumen
Der Fußballfan darf träumen. Fußball – das ist seine, wie es der Philosoph Robert Pfaller nennt, „zweite Welt“. Im Parallel-Universum warten große Gefühle: Fußballfans fiebern die ganze Woche dem Spiel am Wochenende entgegen. Im Stadion kommt es dann zur kollektiven Euphorie – oder aber zu Ernüchterung und Trauer, die ebenfalls brüderlich oder schwesterlich geteilt wird. „Und dann sinkt man zurück in den profanen Alltag“, sagt Pfaller - und alles beginnt wieder von vorn.
Der Fußball gliedert damit die Woche und - über die Saison - das Jahr für Fans, so wie auch Ostern, Pfingsten und Weihnachten unser Leben strukturieren. Dabei hat der Fußballfan seine eigenen Götter, Bonus-Götter gewissermaßen, die mit unfassbaren Dribblings, 60-Meter-Pässen aus dem Fußgelenk und Schüssen in den Torwinkel ihre Übermenschlichkeit beweisen, in deren Glanz sich der Fan ein wenig sonnen kann.
Fahnen, Gesänge, große Choreografien
Die Fankultur mit ihren Fahnen, Schals, Gesängen, den großen Choreografien und der Pyrotechnik ist zugleich Raum für Kreativität und eine Feier der Gemeinschaft, Stammesriten vielleicht nicht unähnlich. Über die Abgrenzung zu den Fans anderer Vereine wird das Eigene definiert, die Gruppe sorgt für Identifikation, Selbstvergewisserung, Geborgenheit und Sicherheit.
Wobei hier nicht verschwiegen werden soll, dass die Abgrenzung auch hochproblematische Seiten haben und in Gewalt und Rassismus münden kann. Interessant dabei ist aber, dass gewalttätigen Fußballanhängern, die das Spiel nicht als Spiel begreifen und mehr den Krieg als die Gemeinschaft suchen, vom Großteil der anderen Fans regelmäßig das Fantum abgesprochen wird.
Die Gewalttäter werden auf diese Weise aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Der „echte“ Fan erkennt sich in dem Fan einer anderen Mannschaft immer wieder – denn der da in der Stadionkurve gegenüber macht ja auch nichts anderes als man selbst. Ergebnis: eine Melange aus Konkurrenz und Solidarität.
Das Gefühl ist unglaublich. Es ist kaum zu beschreiben. Aber ich würde auch sagen, es geht nicht nur um das entscheidende Tor. Es geht um das Beisammensein im Stadion. Es geht um die Atmosphäre. Es geht um die Gesänge. Es geht um den Lärm. Es geht um das Zusammensein. Sich als Teil von etwas Größerem fühlen. Das ist das, was Fußball für mich ausmacht, und deswegen bin ich Ultra.
Ein Fan
Der Philosoph Robert Pfaller orientiert sich mit Blick auf die Rituale im Stadion an einer anthropologischen Ansicht, die besagt: Religionen erkennt man nicht am Glauben, sondern am Feiern. Nicht die Mythologien, sondern die Rituale sind das Entscheidende am religiösen Leben.
Wer mag, kann diese Perspektive auf den Fußball übertragen. Hier gibt es den heiligen Ort: das Stadion. Es gibt die heilige Zeit: Das ist die Dauer des Spiels. Und wem das überinterpretiert erscheint, der könnte wenigstens den Versuch wagen, dem heiligen Fußball-Gefühl nachzuspüren, das es ohne jeden Zweifel gibt: Niemand, der einmal den Liverpool-Fans zugehört hat, wie sie „You’ll never walk alone“ singen, wird hinterher behaupten, das habe ihn vollkommen kalt gelassen.
Emotionale Ansteckung im Stadion
Hier kann es nur zu emotionaler Ansteckung kommen. „In der Soziologie werden Stadien manchmal auch als emotionale Nischen beschrieben“, sagt der Soziologe Michael Mutz. Dort gelten andere Regeln als im Alltag, und die können befreiend sein: „Im Stadion kann ich spontan meine Freude, Ärger, Anspannung, Trauer zeigen, ohne dass das seltsam wirkt“, betont Mutz. Soll heißen: Hier darf ich sein, wie ich bin, wie ich mich gerade fühle, ohne Affektkontrolle, niemand muss sich verstecken.
Struktur, Gemeinschaft, Identifikation, Sinn und Bedeutung: Alles für den Fan! Doch warum Fußball? Warum hat es gerade dieses Spiel geschafft, so unfassbar populär zu werden? Der Physikprofessor und Fußballfan Metin Tolan hat darauf eine überraschende Antwort: weil Fußball ungerecht und unberechenbar ist.
Der Fußball und das Spielglück
„Fußball ist deswegen so interessant, weil so wenig Tore fallen“, sagt Tolan. Das mache die Komponente Glück bei dem Spiel riesengroß und damit auch die Spannung. Die deutlich schlechtere Mannschaft kann durch Zufall oder einen einzigen Konter das Siegtor schießen, während die viel bessere, dominierende Mannschaft nur Pfosten und Latte trifft und ansonsten an der Strafraumgrenze scheitert.
Fertig ist das Drama, das shakespearehafte Ausmaße annehmen kann. Großes Theater als Projektionsfläche: Wenn die kleine Mannschaft die große besiegt, kommt es zur Revolution, zum Umsturz der Verhältnisse.
Wir sind alle Weltpokalsiegerbesieger
Das sind die größten Momente des Spiels, Momente für die Ewigkeit, über die Fans ihr Leben lang sprechen. Legendär die „Weltpokalsiegerbesieger“-Shirts, die St. Pauli drucken ließ, nachdem die Mannschaft zu Hause am Millerntor 2002 den FC Bayern in einem Bundesliga-Spiel niedergerungen hatte. Man bekommt die T-Shirts – 22 Jahre später - noch immer im Fan-Shop des Vereins.
Ich fand den Pauli-Sieg als Bayern-Fan damals übrigens erhebend – denn ich bin auch Pauli-Fan. Wegen Papas HSV. Und aus politischen Gründen, schön bunt dort alles. Aus Freude an der Dialektik. Und weil meine Hamburger Freunde alle für St. Pauli sind. Wir sind alle echte Weltpokalsiegerbesieger – auch wenn ich mich da ein bisschen selbst besiegt habe.
Geschrieben mit einer Recherche der Sendung "Systemfragen".