SV Merseburg 99. Es geht gegen Chemie Leipzig, den Spitzenreiter in der Amateuroberliga Nordost, Staffel Süd – 5. Liga. Etwa 1.700 Zuschauer sind ins baufällige Stadtstadion am Hohendorfer Weg gekommen, das sich mal deftig-realsozialistisch "Stadion der Chemiearbeiter" nannte. Hier spielte einst die BSG Chemie Buna Schkopau, bevor sie 1991 in SV Merseburg 99 umbenannt wurde. Ein kleiner Ort zwischen Merseburg und Halle, berühmt für die Buna-Werke. In den 30er Jahren wurde hier erstmals synthetischer Kautschuk hergestellt, in der DDR war es ein wichtiges Zentrum für die Chemieindustrie.
Bis heute leuchten die Augen, bis heute schnalzen die Zungen, wenn sich ehemalige Spieler und Trainer an die vielleicht größte Fußballsensation im DDR-Vereinsfußball erinnern: Den Aufstieg von Chemie Buna Schkopau in die Oberliga, die höchste Spielklasse der DDR. Das war 1981.
"Einen krasseren Außenseiter als Chemie Buna Schkopau hat es vor einer Oberligasaison nur selten gegeben. So kommt Platz 13 keineswegs überraschend. Immerhin hat sich der Neuling schon besser an das rauere Klima der Oberliga gewöhnt…"
Ein Ausschnitt aus der Sendung "Sport aktuell" des DDR-Fernsehens, vergleichbar mit der samstäglichen ARD-Sportschau:
"Hans Meyer glaubt heute noch nicht, dass wir mit viermal Nachmittagstraining aufgestiegen sind. Der sagt immer noch, Du hör auf, mich zu verarschen..."
Gemeint ist der erfolgreichste DDR-Vereinstrainer Hans Meyer. Mit Carl Zeiss Jena erreichte Meyer 1981 das Finale im Europacup der Pokalsieger.
Konditionsprobleme bei Chemie Buna Schkopau
Trainer Keller schmunzelt ein wenig, dass sein Team Chemie Buna Schkopau fast alle Spiele verlor, wegen fehlender Kondition, wie er erzählt. Später sei es besser geworden, erinnert sich der frühere Mittelfeldspieler Peter Thomas. Ins Gedächtnis eingebrannt hat sich ihm die Niederlage gegen Dynamo Dresden. 1:10 kamen die "Bunesen" unter die Räder.
"Das sind so Bilder, die haben sie noch im Kopf?"
"Die hat man auf jeden Fall noch im Kopf, die wird man im ganzen Leben nicht vergessen. Es gibt planbare Aufstiege und ungeplante. Es hat uns vom Kollektivgeist her sehr geprägt. Das war schon eine fantastische Sache."
Am Ende stieg Chemie Buna Schkopau mit nur drei Siegen, lediglich 11 Punkten wieder ab. Und verschwand 1982 wieder in der Versenkung, eingegangen in die Annalen als der ewig schlechteste DDR-Oberliga-Verein.
Ein Betriebsunfall, denn das eine Betriebssportmannschaft in der DDR-Oberliga mitkickte, war so nicht geplant. Trainer Olaf Keller erzählt, wie die SED-Genossen noch bei den Aufstiegsspielen versucht haben, Einfluss zu nehmen.
"Und dann wurde mal kurz über die Wehrbezirksleitung organisiert, dass fünf Spieler einberufen werden sollten."
"Zur Armee heißt das.."
"Zur Armee, richtig. Ja, wenn fünf Stammspieler eingezogen wären, wäre der Aufstieg erledigt gewesen. Daran kann man ermessen, dass man das gar nicht wollte."
"Ja, das war ein DNA-Fehler, das war eindeutig nicht geplant."
Fußballklubs gegen Betriebssportgemeinschaften
Hanns Leske ist Historiker. Einer der ausgewiesensten Kenner des DDR-Fußballs, Autor diverser Standardwerke.
"Es gab ja diese Hierarchie im DDR-Fußball, die zwischen Fußballklubs und den BSGen [Betriebssportgemeinschaften] unterschied und es gab eben in der Provinz Vereine, die niemals in der DDR-Oberliga auftauchen sollten. Von daher war es ein Webfehler der DDR-Fußball-Geschichte. Der dann auch sehr schnell bereinigt wurde, weil Schkopau auch gar nicht die ökonomischen Mittel hatte, mitzuhalten."
Sogar die großen Bayern aus München – erzählt zumindest Herbert Skowronek – kannten das Team von Chemie Buna Schkopau.
"Ich habe mich mit dem Herrn Beckenbauer, dem Herrn Augenthaler unterhalten, die mal hier waren. Nicht gegen Buna, sondern bei einem Testspiel gegen Stahl Merseburg. Und da hat mich Beckenbauer gefragt, wer ist denn hier von Buna Schkopau…"
Die Augen von Skowronek strahlen. Er war der Vorstopper in der einzigen Oberligasaison. Und hat mit Chemie Buna Schkopau gegen Joachim Streich, den man heute auch den Gerd Müller des Ostens nennt und gegen Thomas Doll gespielt. Nach der Karriere war Herbert Skowronek der Platzwart im Verein. Seinem alten Verein Buna Schkopau, heute Merseburg 99, ist er immer noch herzlich verbunden. Der Stellenwert des Vereins in der DDR-Fußballhistorie ist in der breiten Öffentlichkeit jedoch so gut wie vergessen.
Schwerin, Senftenberg, Suhl, Weißenfels...
Ähnlich erging es auch Klubs wie Waggonbau Dessau, Rotation Babelsberg, Einheit Schwerin, Turbine Erfurt, SC Aktivist Brieske Senftenberg, Motor Suhl, Fortschritt Weißenfels. Teams mit illustren Namen, die allesamt mal ganz oben mitgespielt haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Heute kicken sie, meist unter anderen Namen, in den Niederungen der Verbands-, Landes- oder gar Kreisligen. Hier aber leben und überleben sie, die kleinen traditionsreichen Ostklubs, die nach dem Mauerfall viele Aufs und Abs erlebt haben.
Einer dieser Klubs ist Lok Stendal aus der Altmark, im nördlichen Sachsen-Anhalt. Ein fußballverrücktes Städtchen. Zu DDR-Zeiten war Stendal neben dem 1. FC Union Berlin so etwas wie die Fahrstuhlmannschaft der DDR. Vier Aufstiege, fünf Abstiege. Aktuell ist man in die Amateuroberliga Nordost aufgestiegen. Der wohl größte Erfolg, seit dem verlorenen DDR-Pokalfinale von 1966.
Grobkörnige schwarz-weiß Bilder zeigen gemächlichen Fußball. Von Kurzpassspiel keine Spur, stattdessen werden die Bälle lang in die Spitze geschlagen. Ganz nah am Rand stehen die Fußballfans, es kommentiert Heinz-Florian Oertel:
"Achtung Matoul. Und Tor. 1:0 … Wer will sie halten, die Leipziger Schlachtenbummler … Die Leipziger treiben ihre Anhänger wieder zurück. Da hilft kein Ordnerdienst…"
Platzsturm würde man sowas heute nennen. Am Ende hat Stendal das Pokalfinale ganz knapp mit 0:1 gegen Chemie Leipzig verloren.
Peter Ducke, Jürgen Nöldner, Manfred Kaiser
1966 – Das war die Zeit von Uwe Seeler, Haller, Beckenbauer und Overath, die großen Namen in der Bundesrepublik. Die namhaften DDR-Kicker hießen damals Peter Ducke, Jürgen Nöldner und Manfred Kaiser. Aber auch Gerd Backhaus und Peter Güssau, Nationalspieler. Letztere spielten bei der Eisenbahnerelf von Lok Stendal. Eine Mannschaft mit einem damals weithin bekannten Ruf. 1968 allerdings steigt man ab, wird bis in die Bezirksliga durchgereicht, kommt nie wieder hoch.
Noch heute trifft man sich regelmäßig, um über die alten Zeiten zu plaudern. Meist bei Peter Güssau, angegrautes wuschiges Haar, lockeres Mundwerk. Früher Mädchenschwarm, jetzt Hans Dampf in allen Gassen.
"Ich bin zu spät entdeckt worden, muss ich mal sagen. Erst mit 29 hab ich die Chance bekommen. Da ist ja kein Trainer aus Berlin hergekommen, zu unseren Heimspielen. Da wurde man nur schwer berücksichtigt. Aber ich habe noch mit dem Vater von Sammer noch zusammengespielt..."
Der Stendaler Linksaußen Güssau hat ein einziges A-Länderspiel gemacht. Nicht ohne Stolz erzählt er, dass er die 100 Meter mal unter 11 Sekunden gelaufen ist. Gerd Backhaus nickt, ein gefürchteter Torjäger. Er hat von den Pässen Güssaus profitiert. In der Saison 1963/64 war Backhaus mit 16 Treffern Torschützenkönig in der DDR-Oberliga.
"Wir waren alle aus der Altmark. Und wenn ich mich so an die Zeit erinnere, war das mehr oder weniger auch eine Auszeichnung, wenn man in Stendal Fußball spielen durfte. Dadurch hatten wir alle auch – auch weil wir alle aus der Gegend kamen – ein gutes Verhältnis zueinander. Einer ist für den anderen eingesprungen, das hat auch dazu geführt, dass wir unter den großen Vereinen immer noch eine ganz gute Rolle gespielt haben."
SED verordnet Erfolg
Ab 1964 war größtenteils Schluss mit den kleinen Vereinen in der höchsten Spielklasse. Im DDR-Fußball spielten sie keine Rolle mehr. Denn in einem Papier der SED mit dem Titel "Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Leistungen im Fußballsport der Deutschen Demokratischen Republik" stellten die Genossen im Juni 1964 fest, dass in der DDR über Jahre hinweg kaum fußballerische Fortschritte zu erkennen waren. Weshalb man die Gründung reiner Fußballklubs beschließt, auch ein Reflex auf die Gründung der Bundesliga, konstatiert Historiker Hanns Leske.
"Daran hat sich im Prinzip auch nichts mehr geändert. Entstanden ist die Vormachtstellung beispielsweise der Leipziger Vereine, von Karl-Marx-Stadt, von Hansa Rostock oder von Dynamo Dresden."
Die Leistungskonzentration in Schwerpunktklubs war – mit wenigen Ausnahmen – gleichzeitig das Ende der sogenannten Betriebssportgemeinschaften, die nach dem Krieg nach sowjetischem Vorbild gegründet wurden.
Darunter litt auch die BSG Chemie Zeitz, aus dem Süden Sachsen-Anhalts. 1959 spielte der Klub in der DDR-Oberliga ganz oben mit.
"Chemie Zeitz diese Aufstiegsmannschaft ist quasi eine Truppe, die aus dem Nachwuchs hervorgegangen ist…"
Die Zeit der schweren Lederbälle
Walter Böttner kennt die Hochzeit der Zeitzer noch als kleiner Steppke, als im Ernst-Thälmann-Stadion die Großen des DDR-Fußballs Station machten. Als man noch mit schweren Lederbällen spielte.
"Das hat in der Region eine Euphorie ausgelöst, das war unwahrscheinlich. War eine großartige Leistung überhaupt, zwei Jahre Oberliga, die höchste Spielklasse in der DDR zu spielen."
1961 steigt Zeitz wieder ab. Bis in die Bezirksliga Halle werden die Zeitzer durchgereicht. Auch weil nach SED-Befehl alle Talente nach Halle mussten. 1994 hat Böttner Chemie Zeitz, als 1. FC Zeitz neu gegründet.
"Danach ging es unaufhörlich abwärts bis 1996. Da haben wir unsere letzte Blütezeit erlebt und noch einmal den Aufstieg in die Verbandsliga geschafft."
Abstieg in die 8. Liga
Heute spielt Zeitz mit einem Minietat in der Landesliga. Und ist mit 12 Punkten gerade in die 8. Liga, die Landesklasse abgestiegen. Ein vorläufiger Tiefpunkt, sagt Böttner, der einst das spätere "enfant terrible" der Bundesliga – Jörg Böhme – entdeckt hatte. 1982 begann er seine Karriere bei der BSG Chemie, wo auch schon sein Vater kickte. Und Böhme hat dem Verein – in Form einer Ausbildungsvergütung – viel Geld eingebracht. Die Rede ist von 20.000 DM. Für einen Verein wie Zeitz eine Menge Holz.
"Davon haben wir zehn Jahre gelebt. Nur durch ihn sind wir in der Lage gewesen, den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten."
Lange her. Doch ob Zeitz überhaupt noch mal eine Chance auf der großen Fußballbühne bekommt? Alle ehemaligen Spieler – die zum wöchentlichen Spielerstammtisch in ein Café am Rande eines Plattenbauviertels gekommen sind – schütteln energisch den Kopf.
"Um Gottes willen. Streichen sie die Frage, bringt nichts."
Sagt der frühere Zeitzer Libero Heinz Zeyler. 1963 stand er mit auf dem Platz, als Zeitz im DDR-Pokalfinale stand. 0:3 verlor man da gegen Motor Zwickau.
Bei Lok Stendal kann man dagegen etwas entspannter in die Zukunft schauen. Das auch damit zu tun hat, dass man dieses Jahr den Aufstieg in die Oberliga geschafft hat. Man dürfe jetzt aber nicht überdrehen, warnt der Stendaler Dirk Schultz. Er ist der Vereinshistoriker.
"Wenn wir tatsächlich noch weiter höherklassig spielen wollten, dann müsste Lok Stendal sich gezielt mit Geld auf dem Transfermarkt verstärken. Aber Geld, was wir nicht haben, geben wir nicht aus. Wir wollen nicht landen, wie andere Mannschaften, die in der Insolvenz stehen."
Wie schnell das gehe, zeigten doch Beispiel, wie 1860 München oder Alemannia Aachen, ergänzt Schultz noch. Und verweist auf Traditionsvereine, die wegen teurer Kredite und geschönter Bilanzen Zwangsabsteigen mussten.
Von den Fernsehgeldern kommt nichts an
Vom Solidarsystem des DFB, das in Sonntagsreden gern die Unterstützung der Amateurvereine beschwört, spürt kaum einer der Vereinsverantwortlichen etwas, egal ob in Ost oder West. Denn von den ständig steigenden Fernsehgeldern kommt so gut wie nix an. Nur das würde die Chancen eines sportlichen Aufstiegs – etwa früherer DDR-Oberligisten – erhöhen, heißt es.
Und: Es könnte den Menschen Identifikation mit der Heimat bieten, zudem dem demografischen Wandel entgegen wirken, da Regionen durch den Fußball auch an Attraktivität gewinnen. Das kann aber nur passieren, wenn der DFB seine Geldverteilungspolitik grundlegend überdenke, sagt Michael Schädlich, der Präsident vom Drittligisten Hallescher FC.
Der Erfolg im Fußball macht auch stolz, lehrt Selbstbewusstsein.
Großkonzerne fördern nur am Hauptsitz – im Westen
Solange jedoch Großkonzerne ihren Hauptsitz in den alten Bundesländern haben, solange werden sie die dortigen Vereine – die in der Nähe der Zentrale liegen – bedienen. Nicht den Osten. Darin sind sich alle Experten einig.
Von Europapokal-Abenden ostdeutscher Mannschaften wagt heute nicht einmal der kühnste Fan zu träumen, wenn man mal von den Anhängern RB Leipzigs absieht. Seit 2009 war – außer den mit Zigmillionen aus Österreich gepäppelten "Roten Bullen" – kein Fußballklub zwischen Rostock und Suhl, Schwerin und Görlitz erstligatauglich.
In guter Erinnerung sind das 4:0 von Jena gegen den AS Rom 1980. Oder 1974. Der 1. FC Magdeburg gewann – als einziger DDR-Verein – den Europapokal der Pokalsieger, gegen den AC Mailand!
Glorreiche Zeiten. Längst vorbei. Allein die Erinnerung lebt, auch in den kleinen Ostklubs. Doch ob Mannschaften wie Stendal, Zeitz oder Merseburg je wieder in die Nähe des Profifußballs kommen? Publizist Christoph Dieckmann, Kolumnist in der Wochenzeitung Die Zeit, Fan des FC Carl Zeiss Jena, schüttelt den Kopf.
Da sich die Parallelen im Unendlichen schneiden, ist alles möglich. Wenngleich derzeit nicht absehbar.
Aus Anlass von 30 Jahren Mauerfall bietet der Deutschlandfunk das Gespräch mit Hans-Georg Moldenhauer vom 08.07.2015 noch einmal zum Anhören an.
Aus Anlass von 30 Jahren Mauerfall bietet der Deutschlandfunk das Gespräch mit Hans-Georg Moldenhauer vom 08.07.2015 noch einmal zum Anhören an.