Über Jahrzehnte ist Sarajevo die wohl vielfältigste Stadt Jugoslawiens. Muslimische Bosnier, orthodoxe Serben und katholische Kroaten leben miteinander. Das ändert sich Anfang der neunziger Jahre: Auf allen Seiten nimmt Nationalismus zu, der "Vielvölkerstaat" zerbricht, der Krieg erreicht 1992 auch Bosnien. Serbische Soldaten besetzen Teile von Sarajevo, erinnert der bosnische Journalist Danijal Hadžović.
"Damals wurden aus Hochhäusern Granaten auf Zivilisten geworfen. Wer nach draußen ging zum Einkaufen, Luft-Schnappen oder Fußballspielen, der riskierte sein Leben. Das Stadion des Vereins Željezničar lag direkt an der Front. Serbische Scharfschützen verschanzten sich im Innenraum. Es gab Gefechte, es gab Tote, eine Tribüne ging in Flammen auf. Der Rasen war wie ein Krater."
Im Fußball: Glorifizierung von Kriegsverbrechern
Während des Bosnienkrieges sterben rund 100.000 Menschen. Mehr als zwei Millionen fliehen oder werden vertrieben. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Bosnien und Herzegowina wird endgültig unabhängig und bald darauf in zwei Teilgebiete getrennt: Die von Muslimen und Kroaten regierte "Föderation Bosnien und Herzegowina" erhält 51 Prozent des Territoriums, eine symbolische Mehrheit. Der serbisch dominierten Republika Srpska werden 49 Prozent zugesprochen. Inzwischen leben Bosnier mit muslimischen, serbischen und kroatischen Wurzeln nicht mehr miteinander, sondern voneinander getrennt – auch im Fußball, sagt der Reporter Semir Mejkic.
"Der Fußball ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Nationalistische Politiker nutzen Vereine als öffentlichkeitswirksame Plattform. Häufig spannen sie Fans für ihre Demos ein, oder beauftragen sie als Sicherheitskräfte. Zeljezničar war in Sarajevo lange ein Arbeiterklub für alle. Doch heute schüchtern Hooligans jene Fans ein, die nicht muslimisch sind. Ähnlich läuft es in der Republika Srpska, dort werden im Fußball serbische Kriegsverbrecher glorifiziert."
Ultras präsentieren in Choreografien kämpfende Soldaten
Zum Beispiel Ratko Mladić. Der General ist Anfang der neunziger Jahre verantwortlich für ethnische Säuberungen – und er plant das Massaker von Srebrenica. Noch heute wird der zu lebenslanger Haft verurteilte Mladić von Fans in Banja Luka gefeiert, der Hauptstadt der Republika Srpska. Immer wieder verhöhnen sie dabei die Opfer der Massenexekutionen, etwa mit dem Spruch "Messer, Stacheldraht, Srebrenica".
Die muslimischen Bosnier, auch Bosniaken genannt, halten dagegen. In Sarajevo besingen Fans von Željezničar ihr kriegsgeschundenes Viertel. An ihrem neuen Stadion erinnert eine Tafel an die Opfer. Ultras präsentieren in Choreografien mitunter kämpfende Soldaten. Und sie organisieren Gedenkturniere für Dževad Begić Džilda. 1992 will der Fan-Anführer eine angeschossene Frau retten, dabei wird er von einem Scharfschützen getötet.
Der Politik- und Kulturwissenschaftler Alexander Mennicke: "Das heißt, unter dem Motto 'Kein Vergeben, kein Vergessen' gedenken die bosnischen Fanszenen den Opfern und klagen gleichzeitig die Täter an. Jeder Verein, der sich probosnisch positioniert, dort spielt Srebrenica eine gewisse Rolle. Die Fans fahren zu dem Gedenkmarsch vor Ort, es gibt in den Städten Graffitis oder eben Spruchbänder und Gesänge."
Kompliziertes Regierungssystem - auch im Fußball
Als geografisches Zentrum des westlichen Balkans werden Bosnien und Herzegowina seit Generationen von Bosniaken, Kroaten und Serben beansprucht. Um allen Forderungen gerecht zu werden, entsteht nach dem Bosnienkrieg ein kompliziertes Regierungssystem. Der Staat wird nicht nur in zwei Teilgebiete getrennt, es gibt zusätzlich zehn Kantone und ein selbstverwaltetes Gebiet im Nordosten, alle mit eigenen Parlamenten. Dem obersten Staatspräsidium gehören ein muslimischer, ein kroatischer und ein serbischer Vertreter an, alle acht Monate wechselt der Vorsitz. Und wie sieht es im Fußballverband von Bosnien und Herzegowina aus? Dženan Đipa ist dort für soziale Projekte verantwortlich.
"Es ist unsere größte Herausforderung, Kompromisse zu schließen. Nach dem Krieg hatten Bosniaken, Serben und Kroaten zunächst eigenen Meisterschaften ausgetragen. Doch irgendwann gab es eine gemeinsame Profiliga. Nach Regeln der Uefa darf unser Verband nur einen Präsidenten haben. Im Vorstand aber sitzen Bosniaken, Serben und Kroaten mit jeweils fünf Vertretern. Einige bosnische Staatsbürger unterstützen eher das serbische oder das kroatische Nationalteam. Das ist ok, sie haben das Recht dazu."
"Es ist unsere größte Herausforderung, Kompromisse zu schließen. Nach dem Krieg hatten Bosniaken, Serben und Kroaten zunächst eigenen Meisterschaften ausgetragen. Doch irgendwann gab es eine gemeinsame Profiliga. Nach Regeln der Uefa darf unser Verband nur einen Präsidenten haben. Im Vorstand aber sitzen Bosniaken, Serben und Kroaten mit jeweils fünf Vertretern. Einige bosnische Staatsbürger unterstützen eher das serbische oder das kroatische Nationalteam. Das ist ok, sie haben das Recht dazu."
Auch die Nationalmannschaft kann nicht einen
Der Fußballverband von Bosnien und Herzegowina wird 1996 in die Fifa aufgenommen. Zu jener Zeit spielt Sergej Barbarez erfolgreich in der Bundesliga, doch aus seiner Heimat Bosnien und Herzegowina lehnt er Länderspieleinladungen zunächst ab. Der Grund: Seine kroatischstämmige Mutter wird von Nationalisten bedroht. Immer wieder boykottieren Spieler das bosnische Nationalteam. Nach ihrer Einschätzung legt der Verband mehr Wert auf Nationalitäten der Spieler als auf ihre Talente.
2014 treten die Spannungen in den Hintergrund. Die Nationalmannschaft von Bosnien und Herzegowina bestreitet ihre bislang einzige WM. Doch ein grundlegender Wandel tritt nicht ein: Noch heute bestreitet die Auswahl ihre Heimspiele in Zenica oder Sarajevo, in Städten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Ein Auftritt im serbisch geprägten Banja Luka ist unrealistisch. Und es gibt auch ökonomische Probleme, sagt Robert Prosinečki, bis Ende 2019 Nationaltrainer von Bosnien und Herzegowina.
"Die jungen Leute möchten mehr, dass sie gut verdienen, dass sie Arbeit haben. Du musst halt weiterleben. Kinder gehen mit 13 Jahren schon weg. Weil es hier bestimmt nicht so ist wie draußen. Die Liga ist ganz anders, ist nicht bezahlt. Die Infrastruktur ist nicht am besten. Nicht bloß hier, in Kroatien, Serbien, überall haben sie die gleichen Probleme."
Auch Prosinečki musste sich mit Politik beschäftigen. Einer seiner Nationalspieler, Ognjen Vranješ, geboren in Banja Luka, ließ sich den Grenzverlauf der Republika Srpska auf den Arm tätowieren. Zudem ein Tattoo von Momčilo Đujić. Der serbische Priester hatte im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert. Für viele muslimische Bosnier: unerträgliche Provokationen. Denn sie denken auch daran, was ihnen serbische Milizen in Srebrenica angetan haben.
Auch Prosinečki musste sich mit Politik beschäftigen. Einer seiner Nationalspieler, Ognjen Vranješ, geboren in Banja Luka, ließ sich den Grenzverlauf der Republika Srpska auf den Arm tätowieren. Zudem ein Tattoo von Momčilo Đujić. Der serbische Priester hatte im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert. Für viele muslimische Bosnier: unerträgliche Provokationen. Denn sie denken auch daran, was ihnen serbische Milizen in Srebrenica angetan haben.