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Fußball in der Türkei
Doppelpässe zwischen Politik und Religion

Am Donnerstag wird die Fußball-Europameisterschaft 2024 vergeben - entweder nach Deutschland oder in die Türkei. Unter Präsident Erdoğan nimmt dort die Verquickung von Religion und Politik immer weiter zu. Diese Entwicklung zeigt sich auch in der beliebtesten Sportart, dem Fußball.

Von Ronny Blaschke |
    Präsident Erdogan mit Nationaltrainer Fatih Terim
    "Imam Beckenbauer" wurde der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan früher genannt. Hier mit dem ehemaligen Nationaltrainer Fatih Terim (links) (dpa /Seskim)
    Im Dezember 2016 wurde das neue Stadion von Trabzon eingeweiht, einer konservativ geprägten Stadt im Nordosten der Türkei. 40.000 Menschen hörten Verse aus dem Koran. Ein Imam gedachte der Opfer jüngster Terroranschläge. Immer wieder zeigten die Fernsehkameras die Ehrentribüne. Dort saßen Präsident Erdoğan und Gefolgsleute der Regierungspartei AKP. Der kritische Journalist Volkan Ağır beobachtet die gesellschaftliche Rolle des Fußballs seit Jahren.
    "Wahrscheinlich hat Erdoğan das Lesen aus dem Koran angeordnet. Ein wichtiges Thema war die Solidarität mit türkischen Soldaten in Kriegseinsätzen, vor allem in Syrien. Solche Gebete gehören zum Alltag, doch in einem Fußballstadion war es das erste Mal. Religion und Politik wurden vor einem großen Publikum zusammengeführt."
    "Imam Beckenbauer"
    Erdoğan hat in seiner Jugend selbst passabel Fußball gespielt, sogar eine Profilaufbahn erschien möglich. Sein Spitzname: "Imam Beckenbauer". Als Politiker lässt er sich auch in Stadien oder Spielerkabinen blicken, manchmal kickt er sogar noch mit. Vor allem in islamisch-konservativen Städten wie Trabzon, Konya oder Bursa. Auf den Tribünen treffen sich auch Vertreter der Regionalverwaltungen und der Moscheen, erzählt Patrick Keddie. Der britische Journalist hat ein Buch über den türkischen Fußball veröffentlicht.
    "Wie lässt sich Ideologie leicht verbreiten? Auch durch Fußball, den mit Abstand wichtigsten Sport der Türkei. Die AKP verknüpft Politik und Alltag mit Religiosität. So formt sie sich ihre eigene konservative Mittelschicht. Wichtig dafür ist auch die Bauindustrie. Die Wirtschaftselite der Türkei hatte sich lange an den säkularen Werten des Staatsgründers Atatürk orientiert. Die AKP hat dann immer mehr Bauaufträge an konservative Firmen übertragen, auch für neue Fußballstadien."
    Seit Beginn des Jahrtausends wurde der Bau von dreißig neuen Stadien auf den Weg gebracht. Meist in Vororten von Städten, die stark islamisch geprägt sind, zum Beispiel in Başakşehir, einem Vorort Istanbuls. Sie ersetzten einige ältere Stadien in den Stadtzentren, die abgerissen und durch Einkaufszentren ersetzt wurden. Zwölf alte Stadien waren nach Atatürk oder seinen Weggefährten benannt. Sie hatten die Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches modernisiert – und Staat und Religion getrennt. In Istanbul trug das alte Stadion im regierungskritischen Bezirk Beşiktaş den Namen von İsmet İnönü, einem Freund Atatürks – das neue ist nach einem Mobilfunkunternehmen benannt.
    Gebetsräume in Fußballstadien
    Felix Schmidt von der Friedrich-Ebert-Stiftung beschreibt die allgemeine Entwicklung: "Also die Werbung für Alkohol ist stark eingeschränkt worden. Die Alkoholsteuern werden jedes Jahr ziemlich massiv erhöht. Es wird also ein Elitengetränk. Und ein großes Problem ist, dass man eben jetzt in den Schulen immer mehr den Islam-Unterricht in den Vordergrund stellt. Es werden immer mehr so genannte Imam-Hatip-Schulen gegründet, die eigentlich Religionsschulen sind. Und das wird, glaube ich, eine Generation hervorbringen, die sehr viel stärker der Religion nahesteht. Die säkulare Türkei nimmt ab und die religiöse Türkei nimmt zu."
    Und in den Stadien gibt es zunehmend Gebetsräume. Einige Vereine greifen in Wappen oder Hymnen Symbole der osmanischen Kultur auf. Allen voran der Fußballklub Osmanlispor in Ankara. Das wiederum nutzen gegnerische Fans für Provokationen gegen Osmanlispor. Sie besingen die Schlacht bei Ankara 1402: Das Osmanische Reich erlitt eine der schwersten Niederlagen, der Sultan wurde gefangen genommen.
    Keine Spiele der Nationalmannschaft in Istanbul
    In den Stadien nehmen die Spannungen zu. Die eine Seite empfindet anti-osmanische Gesänge als Beleidigung. Bei den säkular geprägten Vereinen in Izmir oder Istanbul dagegen wird die Verquickung von Fußball und Religion mit Befremden beobachtet. Zum Beispiel Emre, Fan des Vereins Beşiktaş:
    "Fluchen, Schimpfen, auch das Skandieren von Koran-Versen auf Arabisch ist keine Seltenheit mehr. Es gibt immer mehr nationalistische Gesänge in den Stadien. Zudem muss man für das elektronische Ticketsystem wichtige persönliche Daten hinterlegen. So kann man die Fans leicht identifizieren. In den vergangenen vier Jahren ist der Zuschauerschnitt um ein Drittel gesunken. Viele Familien und liberale Menschen bleiben fern, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Das ist ein Effekt von Erdoğan."
    Auch bei der türkischen Nationalmannschaft scheint der Konflikt zwischen Säkularisten und Anhängern der islamisch-konservativen AKP eine Rolle zu spielen. Seit Jahren hat die Auswahl nicht mehr in den Stadien der drei großen Istanbuler Vereine gespielt, also Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray. Zu groß scheint die Sorge der AKP vor Protesten zu sein. Stattdessen spielt das Nationalteam häufig in konservativen Hochburgen wie Konya, so auch im Oktober 2015 gegen Island. Vor dem Anpfiff war eine Schweigeminute für Opfer eines islamistischen Selbstmordattentäters geplant. Hunderte Zuschauer störten die Stille. Mit Pfiffen und Rufen nach Allah.