Der Maidan im Herzen von Kolkata ist der größte öffentliche Park Indiens. Der Lärm der Megacity ist weit weg. Auf holprigen Rasenflächen finden dutzende Spiele im Kricket und Fußball statt. Im Norden des Parks ragen Flutlichtmasten in den Himmel. Im Abstand von wenigen hundert Metern stößt man hier auf kleine Stadien, Sportplätze und Vereinsheime. Mittendrin: das Gelände des Fußballklubs Mohun Bagan, gegründet 1889. Mohun Bagan ist älter als der FC Bayern oder der FC Barcelona.
„Man wird nicht im Laufe seines Lebens zum Fan von Mohun Bagan. Man wird als Fan geboren. Ich habe die Vereinsliebe von meinem Vater geerbt.“ Debashis Dutta ist Vorsitzender von Mohun Bagan. In seinem Büro ist er umgeben von Pokalen, historischen Fotos und Urkunden. „Ich bin zehn Kilometer von hier aufgewachsen. Zum ersten Mal im Stadion von Mohun Bagan war ich 1977, da war ich sieben Jahre alt. Damals war Pelé mit Cosmos New York zu Gast.“
Im indischen Fußball hat Mohun Bagan die meisten Titel gewonnen. Doch die fast mythische Bedeutung des Klubs hat eine andere, eine politische Ursache.
Inder durften erst spät eigene Fußballteams gründen
Anfang des 20. Jahrhunderts: Kolkata, damals noch Kalkutta, ist seit zwei Jahrhunderten das Machtzentrum des britischen Empire in Indien. Die Kolonialherren verschiffen von hier Rohstoffe und Gewürze nach Europa. Sie halten ihre „Untertanen“ klein, verweigern ihnen höhere Bildung.
Der britische Politiker Thomas Macaulay beschreibt die Inder damals so: „Ihre körperliche Organisation ist schwach bis hin zur Verweichlichung. In vielen Zeitaltern wurden sie von kühneren und härteren Menschen mit Füßen getreten.“
Auch in ihren mitgebrachten Sportarten wollen die Briten unter sich bleiben. Erst spät dürfen die Inder eigene Fußballteams gründen und am wichtigsten Turnier teilnehmen, am „IFA Shield“, einem jährlichen Wettbewerb englischer Militärmannschaften. Und dann folgt 1911 das Ereignis, das in Indien bis heute in Büchern und Filmen beschrieben wird.
Vorsitzender von Mohun Bagan: "Fußball stützte Freiheitskampf"
Am 29. Juli 1911 findet das Finale des „IFA Shields“ statt. Das East Yorkshire Regiment, eine britische Infanterieeinheit, trifft zum ersten Mal auf eine indische Mannschaft: Mohun Bagan. Auf dem Maidan von Kalkutta existiert noch kein Stadion mit Tribünen. Zuschauer klettern auf Bäume oder bringen Holzkisten zum Sitzen mit. Mehr als 100.000 Menschen drängen auf die riesige Freifläche.
Das berichtet der Fußballhistoriker Gautam Roy: „Zuschauer in den vorderen Reihen ließen Drachen steigen, um Zuschauer in den hinteren Reihen über den Spielstand zu informieren. Am Ende gewann Mohun Bagan 2:1. Eine Sensation. Und das nur wenige hundert Meter von Fort William entfernt, dem Sitz der britischen Kolonialverwaltung.“
Nach dem Sieg werden die Spieler von Mohun Bagan auf Händen getragen und auf Kutschen durch Kalkutta gefahren. Junge Inder gründen eigene Mannschaften, die auch als politische Treffpunkte dienen, erinnert Debashis Dutta, der aktuelle Vorsitzende von Mohun Bagan. „Der Fußball stützte den Freiheitskampf. 1911 war Kalkutta die Hauptstadt von Britisch-Indien. Der Kampfgeist und die Begeisterung beim Fußball stimmten die Briten skeptisch. Wie lange konnten sie Kalkutta noch unter Kontrolle halten? 1913 verlegten sie die Hauptstadt dann nach Delhi.“
Indien nahm nie an einer Fußball-WM teil
Es vergehen mehr als 30 Jahre, bis Mohun Bagan erneut das „IFA Shield“ gewinnt. 1947, im Jahr der indischen Unabhängigkeit. Fortan richtet sich die Wut im Fußball nicht mehr gegen die Briten, sondern sie entlädt sich zwischen den Bevölkerungsgruppen: zwischen Hindus und Muslimen. Immer wieder kommt es in Stadien zu Ausschreitungen.
Für eine Weile kann die junge Nationalmannschaft Indiens die Spannungen überdecken. Zwischen 1948 und 1960 nimmt sie an allen olympischen Fußballturnieren teil. Zweimal gewinnt sie in diesem Zeitraum Gold bei den Asienspielen, berichtet der Fußballreporter Gautam Roy:
1950 hatte sich Indien zum ersten und bislang einzigen Mal für die Fußball-WM qualifiziert. Der Verband wollte sich aber auf die Olympischen Spiele konzentrieren und zog seine Teilnahme zurück. Das war ein großer Fehler und ein entscheidender Rückschlag für die Entwicklung des indischen Fußballs.
Gautam Roy über die indische Fußball-Entwicklung
80.000 Menschen bei Derby Mohun Bagan gegen East Bengal
Korruption, Missmanagement, eine schlechte Talentförderung – während die Kommerzialisierung den Fußball in fast allen Regionen der Welt wachsen lässt, stagniert seine Bedeutung in Indien. Stattdessen wird Kricket ab den 1980er Jahren zum beliebtesten Sport auf dem Subkontinent. Doch es gibt eine Ausnahme.
In Kolkata, am östlichen Rand von Indien, ist Fußball die populärste Sportart. Das liegt am Traditionsklub Mohun Bagan. Und an seinem großen Stadtrivalen: East Bengal. Mehr als 80.000 Menschen verfolgen das Derby mitunter im Stadion. Es ist eines der größten Fußballspiele in Asien, betont Uttiyo, Fan von East Bengal.
Uttiyo erzählt: „Als ich angefangen habe, East Bengal zu unterstützen, habe ich mich nur für Fußball interessiert. Aber die Bedeutung dieses Klubs geht darüber hinaus. East Bengal repräsentiert die Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und alles verloren haben. Und die dann alles neu aufgebaut haben.“
East Bengal: Anlaufpunkt für geflüchtete Hindus
Der Verein East Bengal aus Kolkata, gegründet 1920, bildet in seiner Geschichte immer wieder einen Anlaufpunkt für geflüchtete Hindus aus dem Osten von Bengalen. Aus einer Region, die geprägt ist von Konflikten, und die seit 1971 den muslimischen Staat Bangladesch einschließt.
Die Ultras von East Bengal greifen diese Geschichte in Gesängen und Choreografien auf, erzählt Uttiyo, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. „Wir erhalten keine Unterstützung vom Verein. Wir entwerfen unsere Banner im Verborgenen, zum Beispiel in Lagerhallen und Parkhäusern. Und dann schmuggeln wie das Material ins Stadion.“
Mohun Bagan und East Bengal: Die großen Klubs aus Kolkata zelebrieren ihre Geschichte. Doch Uttiyo und seinen Freunden reicht das nicht. Die Ultras kritisieren auch den Nationalismus der aktuellen indischen Regierung von Premier Narendra Modi. Sie finden das wichtig. Wichtiger als den Erfolg der indischen Nationalmannschaft.