Archiv

Fußball in Nahost (3)
Stadien als politische Orte

In ethnisch vielfältigen Gesellschaften der arabischen Welt können Diktatoren auf der Ehrentribüne den Anschein von Volksnähe erzeugen. Und auch beim WM-Gastgeber Katar kommt den Arenen eine symbolische Bedeutung zu. Doch die Ultras wollen den Autokraten nicht die Deutungshoheit überlassen.

Von Ronny Blaschke |
Das Azadi-Stadion in Teheran
Das Azadi-Stadion in Teheran kaschiert mit seinem Namen "Freiheit" die Kontrolle durch die Machthaber. (imago sportfotodienst)
Valladolid in Spanien 1982. Bei ihrer ersten WM überhaupt trifft die Nationalmannschaft aus Kuwait auf Frankreich. In der 80. Minute ertönt ein lauter Pfiff von der Tribüne. Viele Spieler sind irritiert und glauben, der Schiedsrichter habe unterbrochen. Der französische Spieler Alain Giresse lässt sich nicht ablenken und trifft zum 4:1 für den Favoriten.
Dann stürmt ein Mitglied der kuwaitischen Herrscherfamilie den Rasen. Scheich Fahad Al-Ahmed Al-Jaber Al-Sabah leitet auch den kuwaitischen Fußballverband. Er fordert seine Spieler auf, den Platz zu verlassen. Der Schiedsrichter wirkt eingeschüchtert und annulliert das Tor. Eines von vielen Beispielen, die zeigen: Autokraten aus dem Nahen Osten interpretieren das Stadion als politische Bühne. Manchmal sogar direkt für Wahlkampf, ergänzt der Politikwissenschaftler Jan Busse:
„Ein interessantes Beispiel fand sich im Irak unter Saddam Hussein. 1995 gab es die Qualifikation zum Olympischen Fußballturnier. Und wie es der Zufall so wollte, hat nur zwei Tage später Saddam Hussein ein Referendum abhalten lassen, um sich erneut zum Präsidenten wählen zu lassen. Also diese zeitliche Koinzidenz ist natürlich bewusst gewählt gewesen durch das Regime. Denn auch bei diesem Spiel gegen Katar im Oktober 1995 war es so, dass überall Plakate von Saddam Hussein zu sehen waren und auch sein Sohn Udai dieses Plakat sozusagen gegrüßt hat.“
Saddam Hussein geht als klarer Sieger hervor, doch die Wahl ist weder frei noch fair.

Konfrontation zwischen Staat und Menschen

Im Stadion können Diktatoren den Anschein von Volksnähe erzeugen. Viele Gesellschaften der arabischen Welt sind ethnisch und konfessionell fragmentiert. Beim Fußball vereinen sich unterschiedliche Gruppen hinter ihrem Nationalteam. Und so können Regime gerade im Stadion auf einen breiten Querschnitt der Gesellschaft einwirken. Übrigens nicht nur während der Spiele.
Ob Vereinsstrukturen, Sponsoren oder Stadionbauten: Häufig verdeutlicht der Fußball die Seilschaften zwischen Regierungen, Militär und anderen Sicherheitsorganen, sagt der Islamwissenschaftler Philip Malzahn:
„Also wie in Ägypten der Fußball auch durch das Militär und den Staat immer wieder instrumentalisiert wurde, und wie das Militär sich den Fußball auch immer mehr angeeignet hat, ist dadurch zu erkennen, dass zum Beispiel 16 von 22 großen Stadien in Ägypten von militäreigenen Baufirmen gebaut worden sind. Dazu kommt, dass gut die Hälfte aller Vereine in Ägypten dem Staat direkt gehören. Es gibt Vereine wie den ,Grenzschutz‘ oder man hat das ,Innenministerium‘ oder einen Verein wie die ,Kriegsproduktion‘. Das ist also eine wahnsinnig direkte Konfrontation, die man hat jedes Wochenende zwischen Staat und privatem Verein, zwischen Staat und den Menschen.“

Symbolik spielt wichtige Rolle

Diese strukturelle Kontrolle wird auch in anderen Ländern durch Symbolik kaschiert. In der iranischen Hauptstadt Teheran heißt das wichtigste Stadion Azadi, Freiheit. In Algier ist eine Arena dem „5. Juli 1962“ gewidmet, dem offiziellen Unabhängigkeitstag Algeriens. Und in Casablanca trägt ein Stadion den Namen von Mohammed V, dem ersten König im unabhängigen Marokko.
Doch manchmal sollen Symbole nicht an die Geschichte erinnern, sondern die Opposition brutal abschrecken. In Syrien lässt Präsident Hafiz al-Assad 1982 aufständische Islamisten im Stadion hinrichten. Mehr als dreißig Jahre später, während des syrischen Bürgerkrieges, nutzt sein Sohn Baschar al-Assad ebenfalls Stadien für militärische Zwecke, erläutert der aus Syrien stammende Fußballfan Nadim Rai:
„So wurde das Stadion in Damaskus als logistisches Zentrum für militärische Fahrzeuge genutzt, auch für Waffen zum Beispiel. Das Aleppo International Stadium, also das größte Stadion des Landes, wurde als Flüchtlingsunterkunft genutzt zwischenzeitlich. Das ist eines der wenigen Stadien in Syrien, die komplett überdacht sind. Diejenigen, die innerhalb des Landes vertrieben wurden, haben dort Schutz gesucht.“

Der letzte soziale Freiraum

Die Regime wollen rundum die Stadien die Deutungshoheit behalten. Doch das gelingt nicht immer. Für viele Fans in Ägypten, Tunesien oder Marokko ist das Stadion vielleicht der letzte soziale Freiraum. Das wird vor allem während des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 deutlich, als Tausende Ultras gegen die autokratischen Herrscher protestieren, erinnert der algerischstämmige Journalist Maher Mezahi, der sich seit langem mit Fußball und Politik in Nordafrika beschäftigt:
„Das Stadion wurde zu einem Ort von jungen Männern, die sich woanders nicht gewollt fühlten. Viele haben keine Arbeit. Unter den Studierenden in Algerien zum Beispiel sind Männer in der Minderheit. Für einen Job im öffentlichen Sektor müssen sie vorab Militärdienst leisten. Aber im Stadion, da können sie sich ausdrücken. Viele Fans achten dort gar nicht so sehr auf das Spielergebnis, sondern sie wollen zu einer größeren Gruppe gehören. Und sie wollen ihren Frust über den Staat loswerden. Gegen die Politik.“
Große Proteste sind nun bei der Weltmeisterschaft eher unwahrscheinlich. Stattdessen interpretiert das katarische Herrscherhaus seine acht WM-Stadien, die teilweise klimatisiert sind und sich zurückbauen lassen, als Symbolorte für eine modere Zukunft. Und auch die Geschichte des Landes soll eine Rolle spielen. So ist die Dachkonstruktion des al-Bayt-Stadions den traditionellen Zelten der einstigen Nomaden nachempfunden. Für viele Beobachter aus dem Westen symbolisieren die Stadien aber etwas anderes: Die menschenunwürdigen Bedingungen der Arbeitsmigranten.