Seit Kurzem wird in der Ukraine wieder Fußball gespielt. Was manch einer ob der aktuellen Kriegssituation für unnötig hält, stand bei Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Monaten auf der To-do-Liste. In Gesprächen mit dem ukrainischen Fußballverbandschef Andrij Pawelko gab der Regierungschef grünes Licht für den Start der Profiliga.
Der erste Spieltag Ende August fand unter erschwerten Bedingungen statt, wie Ingo Petz, Redakteur von „Dekoder“, einer Informationsplattform zu Russland und Belarus, berichtet: „Einige Stadien und sportliche Infrastrukturen im Fußball sind natürlich durch russische Raketen seit dem 24. Februar zerstört worden. Tschernihiw und Charkiw beispielsweise. Und im Osten kann man generell nicht Fußball spielen, weil da der Krieg sehr heftig tobt.“
Spieler mussten während des Spiels dreimal in den Luftschutzkeller
Eine der ersten Partien dauerte insgesamt 4:27 Stunden, weil die Spieler von Ruch Lwiw und Metalist Charkiw dreimal in Luftschutzkeller eilen mussten. Diese Keller dürfen sich maximal 500 Meter vom Stadion entfernt befinden. Ohnehin wird aktuell nur in Kiew und Lwiw gespielt, denn es herrscht nun einmal in weiten Teilen des Landes Krieg.
Eigene Meisterschaft in den selbsternannten Volksrepubliken und der annektierten Krim
Das scheint Verantwortliche im russischen Sportministerium nicht zu kümmern. Während einer Beratung in der umkämpften Region Donezk vor einigen Wochen kündigte der stellvertretende Sportminister Odes Bajsultanow an: Zwischen März und November 2023 wolle man erstmals eine Meisterschaft austragen, an der bis zu 14 Teams aus den beiden selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, der von Russland annektierten Krim-Halbinsel, den teilweise besetzten Bezirken Cherson und Saporischschja und den ebenfalls international nicht anerkannten Republiken Abchasien und Südossetien teilnehmen würden.
„Die Botschaft ist, dass aus Sicht der russischen Führung die Ukraine, eigentlich die ganze Ukraine, aber auf jeden Fall die besetzten Gebiete zum russischen Staat gehören. Insofern ist die Ausdehnung von Sport auf dieses Territorium ein symbolischer Akt der Staatswerdung – aus deren Perspektive“, sagt Timm Beichelt, Politikwissenschaftler von der Europa-Universität Viadrina.
Auch Journalist Ingo Petz erkennt in erster Linie den symbolischen Charakter des geplanten Vorhabens: „Die Propaganda spielt da natürlich eine ganz große Rolle, um zu zeigen, diese Gebiete sind jetzt unsere und wir können da auch den Ball rollen lassen. Das hat man auch mit der Krim so gemacht. Sofort nach der Annexion 2014 ist eine eigene Liga entstanden.“
Symbolik steht im Zentrum
Der sportliche Wert war auf der Krim nebensächlich. Dabei stammte sogar Tawrija Simferopol, der erste Meister der unabhängigen Ukraine, von dort. Nach der Annexion wurde der Club aufgelöst, das Zuschauerinteresse am Fußball ging auf der gesamten Halbinsel in den Keller. Viele Vereine der Krim-Liga benötigten wohl finanzielle Unterstützung vom Sportministerium.
Gut möglich, dass das im Fall dieser „Annexionsliga“ ähnlich wäre. Aber die Symbolik steht im Zentrum – sowohl nach außen als auch nach innen. Nach innen wollen Angehörige von Institutionen unter Beweis stellen, dass sie dem Diktum des Kremls und der Vision Putins folgen, wie Politikwissenschaftler Timm Beichelt meint: „Eine der wichtigsten Währungen in der russischen Politik ist seit Beginn der Zeit Putins Loyalität. Und für diese Loyalität braucht es symbolische Akte. Da eben die politische Prämisse war, dass der russische Staat die Ukraine und die ukrainische Gesellschaft übernimmt und sie ‚befreit‘, sind alle Tätigkeiten, alle Aktionen, die Normalität in diesen besetzten Gebieten vorspiegeln, Akte der Loyalität. Und dann kommt im Verband oder in den einzelnen Vereinen oder auch im Ministerium jemand auf die Idee: ‚Wir müssen das machen.‘ Dann ist der nächste Schritt, zu sagen: ‚Nein, wir haben da kriegsähnliche Verhältnisse. Das geht jetzt nicht.‘ Das ist ja ein Akt der Illoyalität.“
"Annexionsliga" als Gegenteil von Normalität
Ob der Plan des Moskauer Sportsministeriums umgesetzt wird, zumal die besetzten Gebiete mehrheitlich schwer umkämpft sind, steht in den Sternen. Derweil geht es in der ukrainischen Liga weiter, obwohl auch dort nicht jeder mit dem Ansinnen von Selenskyj und Verbandspräsident Pawelko einverstanden ist.
Ukraine-Experte Ingo Petz sagt: „Die Rezeption ist sehr zwiegespalten. Einerseits sagen die Leute: ‚Was brauchen wir jetzt diesen Fußball?‘ Und andererseits sagen sie: ‚Wir lassen uns nicht totkriegen, wir brauchen ein Stück Hoffnung.‘ Und man darf auch die Kinder nicht vergessen. Die Ukraine ist ein sehr gutes Nachwuchsland, was den Fußball betrifft. Ich kenne auch viele Leute, die im Jugendbereich aktiv sind. Die auch jetzt Turniere organisieren für die Kleinen. Die brauchen eben auch Ablenkung und die brauchen eine gewisse Normalität. Und da ist es wichtig, denke ich, dass der Fußball ein gewisses Zeichen setzt.“ Eine russische „Annexionsliga“ würde jedoch das Gegenteil von Normalität im Fußball bedeuten.