Fußball als Theaterstück
Die historische Nacht von Sevilla 1982 in fünf Akten

Das WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich am 8. Juli 1982 war in mehrfacher Hinsicht historisch: Es gab das erste Elferschießen, aber auch das brutale Foul des DFB-Torhüters Harald "Toni" Schumacher an Patrick Battiston. Jetzt gibt es ein Theaterstück von Manuel Neukirchner, dem Direktor des Deutschen Fußballmuseums, das die Nacht von Sevilla in fünf Akten auf die Bühne bringt.

Von Jessica Sturmberg | 25.05.2024
Harald "Toni" Schumacher (2.v.l.), bei der WM 1982 deutscher Nationaltorhüter, streckt beim Hinauslaufen Frankreichs Patrick Battiston (3.v.l.) brutal nieder.
Harald "Toni" Schumacher (2.v.l.), bei der WM 1982 deutscher Nationaltorhüter, streckt im Halbfinale beim Hinauslaufen Frankreichs Patrick Battiston (3.v.l.) brutal nieder. Das Foul sorgt bis heute für Diskussionen. (imago sportfotodienst / imago sportfotodienst)
Es ist Zeit für eine Premiere bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Das Fußballdrama "Die Nacht von Sevilla" wird uraufgeführt. Das Bühnenbild ist schlicht, ein Tisch mit acht Mikrofonen, wie bei einer Pressekonferenz, dahinter eine runde Leinwand, auf der zunächst ein Bild des Estadio Ramón Pizjuán in Sevilla zu sehen ist – aus der Vogelperspektive, später werden Fotos des Spiels gezeigt. Zunächst ist alles ist in ein dunkelblaues Licht gehüllt.
Der Schauspieler Peter Lohmeyer tritt auf die Bühne, setzt sich an den Tisch und beginnt, das Drehbuch zu lesen. Helle Scheinwerfer sind nun ganz auf ihn gerichtet. Er ist an diesem Abend die Stimme für alle Beteiligten dieses denkwürdigen Halbfinales, das am Ende sogar die beiden Regierungschefs, Staatspräsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Schmidt beschäftigen wird.

Battiston: "Habt ihr diesen Torhüter gesehen? Er ist verrückt"

Spannung liegt von Beginn an direkt in der Luft. Auf der Bühne gehen Lichter an. Sie erinnern an Flutlicht, zeigen zugleich immer den Spielstand an. Lohmeyer zitiert Paul Breitner: "Das Spiel wird deshalb interessant werden, weil da zwei verschiedene Fußballwelten aufeinandertreffen. Die feingliedrigen Franzosen und die athletischen Deutschen."
Den Deutschen gehört der Anfang, sie gehen in Führung, die Franzosen gleichen nur neun Minuten später durch einen von Michel Platini verwandelten Foulelfmeter aus. Schumacher fällt bereits durch hartes Einsteigen auf, woraufhin Patrick Battiston, der da noch auf der Auswechselbank sitzt, feststellt: "Habt ihr diesen Torhüter gesehen? Er ist verrückt, total aufgedreht und aggressiv.

Schumachers Hüfte knockt Franzosen brutal aus

In der 50. Minute wird Battiston eingewechselt, in der 57. Minute kommt dann der Moment, der bis heute für Diskussionen sorgt. Lohmeyer zitiert den Franzosen:
"Michel Platini spielt mich wunderbar frei, ich laufe auf das deutsche Tor zu. Niemand ist zu sehen, ich fühle mich großartig, frei in einem Zustand, der mir alles erlaubt. Dann nähert sich mir etwas Schwarzes, ein Schatten. Das ist gar nicht gut! Ich laufe, ich versuche den Ball, der in der Luft schwebt, zu erfassen. Wie soll ich ihn annehmen? Alles geht so schnell. Alles geht so schnell. Wenn ich ihn rechts annehme, geht es schief, weil ich ein Linksfuß bin. Ich hebe meinen Kopf. Ich nehme jetzt noch stärker diese dunkle Masse wahr."
Toni Schumacher läuft ungebremst auf Battiston zu. Die schwarze Masse, die Battiston im Augenwinkel noch wahrgenommen hat, bevor er zu Boden fiel und das Bewusstsein sowie vier Zähne verlor, springt ihm entgegen. Als Schumacher mit seiner Hüfte voll gegen die Schläfe des Franzosen knallt, ist der Ball schon längst weg. Das ZDF hat das Spiel in seiner Mediathek eingestellt, diese Szene lässt sich nachschauen. Wer sie sieht, muss zu dem Schluss kommen: Das war ein sehr brutales Foul, das eine Rote Karte hätte nach sich ziehen müssen. Und Elfmeter. Heute würde das sicher keiner mehr in Frage stellen.

Schumachers Mutter sagte: "Es war schlimm, Harald"

Aber damals war der Zeitgeist noch ein anderer. Reporter Rolf Kramers erste Reaktion: "Jei, jei, jei." Und auch nach einigen Minuten, nachdem Battiston schon vom Feld getragen wurde, kommt Kramer zu der Feststellung: "Ein böser Zwischenfall, diese Karambolage, Toni Schumacher musste alles wagen. Das ist halt ab und zu drin in so einem Spiel, bei dem beide Mannschaften in die Vollen gehen." Der französische Reporter ist dagegen empört: "C'est pas vrai [z. Dt.: Das ist nicht wahr]!"
Toni Schumacher kommt später persönlich auf die Bühne, Lohmeyer setzt sich zur Seite und Schumacher vor das Mikrofon: "War es ein Foul? Für die Schiedsrichter nicht, die entscheiden auf Abstoß, aber was sagt mein Bauchgefühl? Es war ein Zusammenprall, ich empfinde es auch heute noch nicht als Foul, aber meine Mutter hat die Szene damals im Fernsehen gesehen und mir ein paar Stunden später gesagt – es war schlimm, Harald."
Olaf Kröck, Harald "Toni" Schumacher, Peter Lohmeyer und Manuel Neukirchner (v.l.) sitzen auf der Theaterbühne beim Stück "Die Nacht von Sevilla".
Im Theaterstück "Die Nacht von Sevilla" fungiert Peter Lohmeyer (3.v.l.) als Erzähler. Auch Harald "Toni" Schumacher (2.v.l.), der als Torwart damals Patrick Battiston heftig erwischte und bewusstlos checkte, kommt zu Wort. (Foto: Jessica Sturmberg)

Torwart Schumacher bedauert Verhalten nach dem Foul

Das Publikum in Recklinghausen bekommt beide Seiten erzählt. Die Empörung der Franzosen und auch wie Schumacher reagiert, nachdem Battiston minutenlang auf dem Boden liegt: bewusstlos, mit einer Halswirbelverletzung und Gehirnerschütterung. Statt sich zu entschuldigen, sich zu erkundigen, wie es dem Gefoulten geht, verharrt er im Strafraum und spielt mit dem Ball. Ein Fehler, wie er seit Jahren schon zugibt: "Was ich heute anders machen würde? Ich würde zu ihm gehen und mich um ihn kümmern."
Direkt nach dem Spiel auf Battiston angesprochen, sagt Schumacher den bekannten Satz, dass er Battiston die Jacketkronen für die ausgeschlagenen Zähne zahlen würde. Er fühlt sich in der Interpretation falsch verstanden:
"Das war eigentlich eine Äußerung der Erleichterung, weil ich habe ja gesehen, er ist bewusstlos vom Platz getragen worden und das war von dem, was ich erwartet hatte, nicht so schlimm und nach der WM ist es ja auch so gekommen, dass die Journalisten nicht mehr auf den Platz dürfen, weil einfach zu viele Emotionen mit im Spiel sind. Weil man von keinem Spieler dann erwarten kann, dass er noch druckreife Interviews geben kann. Deshalb dürfen die heute alle erst rein, dann werden die von ihren Medienberatern beraten und dann gehen die in die Mixed Zone und geben ihre Interviews."

In Deutschland als Held gefeiert, in Frankreich eine Hassfigur

Das Spiel verläuft damals dramatisch weiter. In der Verlängerung führen die Franzosen mit 3:1 und wähnen sich schon im Finale. Doch die Deutschen gleich noch aus. Im Elfmeterschießen ist es ausgerechnet Torhüter Toni Schumacher, der zwei Elfmeter hält. Horst Hrubesch muss nur noch treffen, dann ist der Sieg perfekt.
Lohmeyer fungiert wieder als Erzähler: "Horst Hrubesch verwandelt ins rechte untere Eck. 5:4 für Deutschland, Deutschland gewinnt das Halbfinale nach 2 Stunden und 41 Minuten." Das Publikum jubelt und klatscht. Im Theater-Saal sitzen viele, die das Spiel als Jugendliche oder junge Erwachsene erlebt haben und sich nochmals von der damaligen Atmosphäre fesseln lassen.
Wie damals nach dem Spiel in Deutschland wird Schumacher auch jetzt im Saal als Held gefeiert. In Frankreich erhält er 1982 dagegen sogar Morddrohungen, seine Kinder sollen entführt werden, Vergleiche aus der Nazi-Zeit kommen hoch und schocken ihn.

Theaterstück als Echtzeit-Erlebnis für die Zuschauer

Stephan Klemm hatte vor zwei Jahren all das, was rund um das Spiel geschah, in seinem umfassenden, gleichnamigen Buch beschrieben und analysiert. Vieles aus seiner reichen Zitatsammlung und Recherche hat er auch Manuel Neukirchner zur Verfügung gestellt. Dem Direktor des Fußballmuseums gelingt wiederum das Kunststück, diese Zitate, die von den Beteiligten teils Jahre danach im Rückblick geäußert wurden, quasi live auf den Platz zu bringen.
Wie ein Echtzeiterlebnis fließen somit die Gedanken aller ein, was gut im Publikum ankommt. Ein Zuschauer sagt nachher: "Ich habe noch nie ein Fußballspiel so von innen heraus erlebt." Und ein anderer meint: "Die haben es ja rübergebracht, als ob man live im Stadion war."
Was das Bühnenstück dagegen im Vergleich zum Buch von Klemm nicht leistet, ist diese Einordnung als eines der brutalsten Fouls der WM-Geschichte, auf die Autor Manuel Neukirchner wiederum ganz bewusst verzichtet hat: "Ich habe mich sehr bemüht, beide Perspektiven zu zeigen, ich lasse die Spieler sprechen. Die Besucherinnen und Besucher sollen sich selber ein Bild machen. Ich möchte mich ganz bewusst zurückhalten und es dem Betrachter überlassen, welche Wertung er übernimmt."

Echte Ausgewogenheit gäbe es nur durch Battistons Anwesenheit

Hätten Battiston und Schumacher im Theater danach nebeneinander gesessen, hätte die Ausgewogenheit vielleicht funktioniert. So neigt das deutsche Publikum dem anwesenden Schumacher in seiner Sichtweise zu folgen. Aber Battiston äußert sich inzwischen dazu nicht mehr. Das kann man schade finden oder auch verstehen. Immerhin hat er sich auch, als Schumacher attackiert wurde, immer beruhigend geäußert und seinen Teil dazu beigetragen, dass die Situation lange nach dem Spiel nicht weiter eskaliert ist.
Das Fußballdrama der Nacht von Sevilla in fünf Akten ist ein dokumentarisches Theatererlebnis, das dramaturgisch ansprechend gestaltet ist, die Menschen auch 42 Jahre später immer noch mitreißt und Einblicke in die damalige Gedankenwelt gibt. Für die weitergehende Einordnung der Geschehnisse lohnt es sich, das umfassende Werk Klemms zu lesen.