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Hilfsaktionen und Proteste gegen Erdogan
Der türkische Fußball nach der Erdbebenkatastrophe

Nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei engagieren sich auch viele Fußballfans in Hilfsprojekten für die Opfer. Der türkische Fußball wird aber auch zur Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement der türkischen Regierung.

Von Marion Sendker |
Stofftiere auf dem Rasen im Stadion von Besiktas
Stofftiere für Kinder, Proteste gegen Erdogan: Der türkische Fußball im Zeichen der Erdbebenkatatstrophe (picture alliance / Demiroren Visual Media / ABACA)
Nach genau vier Minuten und 17 Sekunden Spielzeit regnet es Kuscheltiere von den Tribünen: Bei der Begegnung der türkischen Erstligisten Istanbul Besiktas und Antalyaspor vor einer Woche ist Fußball zweitrangig. Jeder Spieler trägt auf dem Trikot den Namen einer der elf Provinzen im Südosten des Landes, die seit dem ersten Beben am 6. Februar zerstört wurden.
Die Spielzeuge im Besiktas-Stadium sind für die Kinder im Krisengebiet. Tief bewegt werfen Spieler Teddybären, Plüschhunde und andere Stofftiere hinter die Seitenlinie. Die Fans grölen dazu ein altes, nationalistisches Lied mit, das durch die Stadionlautsprecher tönt. Auszugsweise heißt es darin: "Jede Ecke meines Landes ist wie ein Paradies, in mir brennt es, meine Heimat, das ist etwas anderes."

Fußball-Fans als Helfer in den Erdbebengebieten

Ahmet Hilmi Yilmaz, Mitglied des Delgationsausschusses bei Besiktas, erklärt, was es mit der Kampagne auf sich hat: "Ziel ist, unseren Kindern, die in Not sind, Zuversicht zu geben, und sie, wenn auch nur ein bisschen, zum Lachen zu bringen. Besiktas-Fans tragen eine große Verantwortung, die Wunden des Erdbebens zu heilen." Auch bei einem Spiel des Stadtrivalen Fenerbahce, wurden vor einer Woche Schals auf den Rasen geworfen: als Spenden und als Ausdruck des Mitgefühls.
In der Erdbebenkatastrophe spielen Fußballclubs eine wichtige Rolle: Viele schickten direkt nach der Katastrophe Mitglieder als Helfer ins Erdbebengebiet. Sie suchten in den Trümmern nach Verschütteten, verteilten Suppe und organisierten Zelte und Toiletten.

Besiktas-Ultras kämpfen gegen Plünderungen

Eine Fangemeinde fiel dabei besonders auf: Anhänger der Besiktas-Gruppe Carsi, die als Ultras bekannt sind. Sie machten etwa Jagd auf Menschen, die in zerstörten Häuser geplündert oder die Arme von Leichen abgeschnitten haben sollen, um sich deren Schmuck zu sichern. Was danach mit ihnen geschah, zeigen Videos von Carsi im Internet: "Was haben sie Dir getan? Du bist ein Verräter, Du bist ein Hurensohn", brüllt einer.
In dem Video treten er und seine Kollegen auf einen Mann, der auf dem Gehweg liegt, seine Hände sind am Rücken zusammengebunden. Dafür wurden die selbst ernannten Hilfssheriffs im ganzen Land gefeiert. Erst als ein paar Tage später 16 Fans kurzzeitig in Gewahrsam genommen wurden, weil sie zur Gewalt gegen Syrer und Afghanen aufgerufen haben sollen, hörte die öffentliche Darstellung der Selbstjustiz auf.
Besiktas-Fans überreichen Stofftiere an Kinder im türkischen Erdbebengebiet
Solidarität mit den Erdbebenopfern: Besiktas-Fans im türkischen Hatay (picture alliance / AA / Mehmet Emin Menguarslan)
Wir haben die Gelegenheit, ein Carsi-Mitglied zu sprechen. Der junge Mann sagt, er sei als Helfer in der südtürkischen Stadt Antakya gewesen und beschreibt: "Wenn wir sicher waren, dass es Plünderer sind, haben wir sie den Sicherheitskräften übergeben. Wir haben versucht, das Eigentum und das Leben unserer Landsleute zu schützen."

Kritik an der Regierung: "Schwaches Krisenmanagement"

Der Mann hat Angst vor Verfolgung durch die Behörden und will seinen Namen nicht nennen. Zur Solidarität mit den Opfern gehört für ihn - wie für viele Fußballfans - die Kritik an der Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Der erlaubte zum Beispiel erst nach Tagen den Soldaten in der notwendigen Anzahl vor Ort zu sein. Dabei ist die Armee für solche Katastrophen mit am besten ausgerüstet. Das Carsi-Mitglied meint: "Ich denke, dass die Regierung beim Krisenmanagement schwach ist. In den ersten drei Tagen wurde nur von Nichtregierungsorganisationen Hilfe geleistet. Wir können also sagen, dass der Staat nicht da war."
Als die Regierung dann präsenter wurde, beschwerten sich manche lokale Helfergruppen: Verwalter aus Ankara würden ihre Hilfsgüter konfiszieren und im eigenen Namen verteilen. Die Zeltlager von Carsi, Fenerbahce oder anderen Klubs bestehen dagegen weiterhin, die Fußballvereine scheinen unantastbar.

Anti-Erdogan-Sprechchöre in den Stadien

Das zeigt auch eine aktuelle Gerichtsentscheidung: Richter, die sonst für ihre freiwillige oder gezwungene Regierungstreue bekannt sind, entschieden kürzlich zugunsten der Fenerbahce-Anhänger. Sie dürfen nun doch zum Spiel ihres Vereins an diesem Wochenende gegen Kayserispor. Ursprünglich hatten die Behörden den Fenerbahce-Fans Stadionverbot erteilt. Grund sind Anti-Erdogan-Sprechchöre wie diese bei der Partie von Fenerbahce gegen Konyaspor vor einer Woche: "Voller Lügen, Lügen, Lügen, es sind 20 Jahre geworden, tritt zurück!"
Auch in anderen Spielen gab es Rücktrittsrufe für Erdogan, der seit gut zwei Jahrzehnten regiert. Fußballstadien sind mittlerweile der einzige Ort im Land, an dem Bürger den türkischen Staatspräsidenten noch lautstark und publikumswirksam kritisieren können, ohne mit direkter Polizeigewalt rechnen zu müssen.

Enge Verflechtungen zwischen Süperlig und türkischer Politik

Doch nicht alle Vereine unterstützen die Parolen. Kayserispor distanzierte sich zum Beispiel schriftlich. In der Türkei seien Politik und Fußball eben eng verflochten, meint Ahmet Hilmi Yilmaz, Vereinsfunktionär von Besiktas Istanbul. In manchen Vereinen werde der Vorstand direkt von der Regierungspartei ernannt. Er wünscht sich, dass Ankara konstruktiver mit Kritik umgehen würde: "Fans können vom Klubmanagement den Rücktritt fordern, wenn die Mannschaft schlecht spielt. Und sie verlangen von der Regierung den Rücktritt, wenn das Land schlecht geführt wird. Ich halte das für völlig normal und im Rahmen der Meinungsfreiheit."
Einen Rücktritt gab es immerhin schon: Devlet Bahceli, Erdogans Regierungspartner, verkündete Ende der Woche im Parlament, nicht länger Besiktas-Mitglied zu sein. Klubanhänger lachten daraufhin: Bahceli habe sowieso schon lange keinen Mitgliedsbeitrag mehr gezahlt.
Anmerkung der Redaktion: Wie erst unmittelbar vor der Sendung des Beitrags bekannt wurde, gab es kurzfristig eine weitere Gerichtsentscheidung, wonach den Fenerbahce-Fans der Zutritt ins Stadion doch wieder verboten wurde.