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Fußball-WM 2014
"Eine gewisse Apathie wird Brasilien befallen"

Nach der Niederlage im WM-Halbfinale "wird eine große pessimistische Stimmung" Brasilien erfassen, sagte Thomas Fatheuer, Brasilien-Experte und Buch-Autor, im DLF. Daraus würden aber nun keine politischen Proteste entstehen. Die Unruhen nach dem Spiel seien "eher Attacken von Frustration und Vandalismus".

Thomas Fatheuer im Gespräch mit Silvia Engels |
    Ein brasilianischer Fan mit Tränen in den Augen während des Halbfinales der Fußball-WM in Belo Horizonte
    In Brasilien herrsche - wie bei diesem brasilianischen Fußball-Fan - große Fassungslosigkeit nach dem WM-Finale, betont der Brasilien-Experte Thomas Fatheuer. (dpa / picture alliance / Thomas Eisenhuth)
    Silvia Engels: Ein Bäcker im niederrheinischen Kamp-Lintfort hatte heute einen Ansturm zu bewältigen, aber keine großen Einnahmen – hatte er doch seinen Kunden vor dem Spiel für jedes deutsche Tor beim Halbfinale ein Gratis-Brötchen versprochen. Mit dem 7:1 hatte er sich jedoch verkalkuliert, er muss nun Gutscheine verteilen. Das sind Probleme, die nun wahrlich zu verschmerzen sind, angesichts der deutschen Euphorie nach einem wirklich historischen Halbfinale.
    Deutsche Fans feierten natürlich bundesweit mit Hupkonzerten, mit Feten und mit dem einen oder anderen Autokorso.
    Am Telefon ist nun Thomas Fatheuer. Er lebte von 1992 bis 2010 in Brasilien. Dort hat er unter anderem das Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung geleitet und er hat sich auch in Büchern mit Fußball befasst. Ich grüße Sie, Herr Fatheuer.
    Thomas Fatheuer: Schönen guten Tag!
    Engels: Sie haben natürlich nach wie vor engen Kontakt zu Brasilianern. Wie verliefen denn diese ersten Kontakte nach dem Spiel?
    Fatheuer: Ja. Es herrscht große Fassungslosigkeit. Es ist ja nicht nur eine normale Niederlage. Es ist ein Abgrund, der sich aufgetan hat und, ich glaube, der alle Freude in Brasilien, alle Hoffnung, aber auch vielleicht alle Illusionen verschluckt hat. Da ist erst mal nicht viel da. Es ist schwierig, das zu erklären. Alle sind erst mal fassungslos und stehen davor und wissen nicht, was sie damit anfangen sollen.
    Engels: Nach dem Spiel gab es in einigen brasilianischen Städten Ausschreitungen. Kippt nun zum Ende des Turniers die gesamte Stimmung im Land?
    Fatheuer: Die Stimmung kippt bestimmt. Ich glaube, es wird eine große pessimistische Stimmung das Land erfassen, die auch schon vor der WM da war. Die ist durch die WM etwas aufgelöst worden, auch durch die brasilianischen Erfolge. Aber diese pessimistische Stimmung heißt nicht unbedingt, dass große Unruhen ausbrechen. Ich glaube das nicht. Ich glaube eher, dass eine gewisse Apathie das Land befallen wird. Wie gesagt: Pessimismus, schlechte Stimmung ja, aber diese Unruhen, die man gestern gesehen hat, gestern Abend im Fernsehen, oder heute in den sozialen Netzwerken, sind eher Attacken von Frustration und Wandalismus. Es sind keine politischen Proteste.
    "Viel eher eine Niederlage Brasiliens als ein Sieg Deutschlands"
    Engels: Dann schauen wir noch mal kurz auf das Sportliche und auf die Spielanalyse. Bei aller Begeisterung für den deutschen Erfolg und die gute Abstimmung, sagen ja auch viele Beobachter, dass die Brasilianer es gestern im Spiel den Deutschen auch recht leicht gemacht haben. Deutschland hat gewonnen, okay, aber hat Brasilien auch kräftig verloren?
    Fatheuer: Ja. Es war viel eher eine Niederlage Brasiliens als ein Sieg Deutschlands. In der Wahrnehmung in Brasilien steht total die Frage, wie konnte es dazu kommen, im Mittelpunkt. Klar, die Deutschen waren gut, das wird allgemein anerkannt, aber das würde zu einem 2, 3:0 Sieg reichen, nicht zu einer 7:1-Klatsche. Das ist ja die große Frage: Was ist da passiert? Ich glaube, es sind zwei Erklärungen, die man als Haupttendenz wiederfindet. Das Erste ist, dass sich das nicht existente Mittelfeld Brasiliens jetzt gerächt hat. Die Lücke im Mittelfeld und die damit fehlende Kompaktheit auch in der Abwehr ist teilweise durch Neymar überbrückt worden. Das war jetzt nicht mehr möglich. Dadurch war das ganz, ganz klar, dass Brasilien nur noch mit weiten Pässen nach vorne spielen konnte, aber keinen systematischen Spielaufbau und keine systematische Bewegung nach hinten hatte. Das ist das eine und das Zweite ist und, glaube ich, das Wesentliche, dass Brasilien versucht hat, die Schwächen in seinem Spiel durch die großen Emotionen, durch diese ganz, ganz große Bestimmtheit, siegen zu wollen, überbrücken wollte, und das hat nicht mehr geklappt. Die Emotionen sind in dem Moment, wo sie nicht mehr positiv waren, wie eine Flutwelle auf Brasilien zurückgeschlagen und haben diese Mannschaft dann auch ganz schnell ertränkt.
    Fatheuer glaubt, dass Scolaris Trainerlaufbahn nun zu Ende ist
    Engels: Die Einstellung einer Mannschaft ist auch viel Aufgabe des Trainers. Ist das nun das Ende der langen Trainerlaufbahn von Luiz Felipe Scolari?
    Fatheuer: Ich glaube, ja. Ich glaube, das Modell Scolari, was schon vorher Grenzen aufwies und nicht von allen in Brasilien auch gemocht wurde – es wurde viel kritisiert, sein Fußball sei nicht technisch genug, sein Fußball sei zu hart auch -, dieses Modell, das wirkt jetzt noch mehr als ein Trainermodell aus dem letzten Jahrhundert, an dem die letzten 20 Jahre in der Entwicklung des Fußballs vorbeigegangen sind.
    Das Problem ist, dass Brasilien keine wirklich guten anderen Trainer hat, oder wenige, die zur Auswahl stehen. Das heißt, man muss auch in Brasilien nachdenken über eine Entwicklung im brasilianischen Fußball und sich die Frage stellen, hat die WM eigentlich dazu beigetragen, den brasilianischen Fußball wirklich auch nach vorne zu bringen.
    Engels: Riesiger Erwartungsdruck lastete ja rund um die WM auf den brasilianischen Spielern. Sie haben es angedeutet. Wann wurde denn der Heimvorteil in Brasilien für die Spieler de facto zum Heimnachteil?
    Fatheuer: Ich glaube, in dem Moment, wo es anfing zu wanken, wo sozusagen diese Woge der Euphorie und der Unterstützung nicht mehr nach vorne trägt, sondern nur noch zur Last wird, und das war, glaube ich, tatsächlich nach den ersten beiden Toren von Deutschland. Man hat ja gesehen, dass vorher bei Kroatien im ersten Spiel das Selbsttor von Marcelo noch ganz weggesteckt werden konnte. Aber ich glaube, diese Last hat sich doch immer mehr aufgebaut und wird dann verstärkt durch die zusätzliche Last, den Ausfall Neymars ausgleichen zu müssen, und das wurde dann zu viel in dem Moment, wo es nicht mehr gut lief.
    "Stimmung und Emotionen sind wichtig für eine Entwicklung eines Landes"
    Engels: Herr Fatheuer, Sie haben ein Buch herausgegeben mit dem Titel "Fußball in Brasilien - Widerstand und Utopie". Es befasst sich mit der weit über den Sport hinausgehenden Bedeutung des Fußballs für das Land. Welche Folge hat diese Niederlage mittelfristig?
    Fatheuer: Wenn man natürlich immer sagt - und das ist gesagt worden -, auf dem Fußballplatz steht nicht eine Selecao, eine Mannschaft nur, sondern die Nation steht auf dem Feld, dann ist natürlich auch bei einer Niederlage die Nation betroffen. Man sieht gleich auch in den ersten Reaktionen im Internet und so: Es gibt sofort eine Diskussion über Brasilien. Ist Brasilien wieder dazu verdammt, nicht dahin zu kommen, wo andere Länder sind? Ist es ein Muster, ist es ein Exempel für die Frage der Entwicklung? Schaffen wir es nicht, in die Erste Welt aufzusteigen, trotz der positiven Entwicklung Brasiliens? Im Fußball werden wieder diese Fragen behandelt und diskutiert. Brasilien findet sich dort wieder im Fußball, positiv wie negativ. Das natürlich auch. Das wird man sehen. Nicht nur in den Siegen. Man dachte, Brasilien ist ein Siegerland vor der WM, wir sind auf dem Weg nach oben, wir sind jetzt eine aufstrebende Mittelmacht. Dieser Glaube wird sehr erschüttert durch seine Niederlage. Aber ich glaube, letztendlich werden diese Fragen nicht auf dem Fußballfeld entschieden, sondern in der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes. Aber Stimmung und Emotionen sind wichtig für eine Entwicklung eines Landes.
    Traditionelle Feindschaft und latein-amerikanische Solidarität
    Engels: Auch wenn Brasilien noch in der Trauer verharrt, ein Ausblick auf das Finale, der sei uns gestattet. Südamerikaner wünschen sich natürlich, dass der Fußballweltmeister aus ihrem Kontinent kommt, erst recht, wenn es diese Serie gibt, dass noch nie ein europäisches Team in Südamerika Weltmeister wurde. Andererseits ist die Rivalität zwischen Brasilien und Argentinien, das ja noch im Wettbewerb ist, sprichwörtlich. Spekuliert: Falls nun ein Finale Deutschland gegen Argentinien zustande kommt, für wen sind die Brasilianer?
    Fatheuer: Die werden sich spalten. Ein Großteil wird gegen Argentinien sein wegen der traditionellen Feindschaft und ein anderer Teil wird Argentinien unterstützen wegen einer lateinamerikanischen Solidarität. Das wird sich spalten, obwohl ich glaube, dieser zweite Teil wird die Minderheit sein. Ich habe es erlebt, das Endspiel Deutschland gegen Argentinien habe ich in Brasilien erlebt. Dort hat ein Teil der Brasilianer tatsächlich auch damals für Argentinien gehalten. Man sollte also diese Rivalität, die sicherlich vorhanden ist, auch nicht absolut setzen. Nicht alle Brasilianer werden wie ein Mann, oder nicht jede Brasilianerin wie eine Frau hinter Argentinien stehen. Das wird sich spalten.
    Engels: Das heißt aber andererseits, auch wenn es sich spaltet, ein möglicher argentinischer Sieg kann der brasilianischen Seele eigentlich nicht helfen?
    Fatheuer: Überhaupt nicht. Der wird ihr besonders wehtun. In der Hinsicht wäre ein deutscher Sieg leichter zu verkraften. Auch die Tatsache, gegen den späteren Weltmeister verloren zu haben. Ich glaube, ein argentinischer Sieg wäre noch eine besondere Demütigung der Nation.
    Engels: Wieder ein Argument, warum Deutschland jetzt Fußballweltmeister sein sollte. Vielen Dank an Thomas Fatheuer. Er hat das Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien geleitet und ist Experte für den Fußball und die Bedeutung dort. Danke für die Zeit.
    Fatheuer: Ja, auf Wiederhören nach Köln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.