Die Hauptstraße von Maré wirkt ganz normal. Straßenhändler grillen Fleischspieße auf kleinen Öfen, Motorrad-Taxis verschwinden in winzigen, unübersichtlichen Gassen und öffentliche Lautsprecher verkünden Angebote für Bekleidung. Wären da nicht die Einschusslöcher rechts und links der Straße in Häuserwänden, Türen und Strommasten. Bis vor ein paar Tagen standen sich hier verfeindete Drogenbanden gegenüber. Sie kontrollierten das Gebiet im Norden von Rio de Janeiro, so wie in den meisten der über eintausend Favelas dieser riesigen Großstadt. Jetzt gibt es zwar keine Schusswechsel mehr, die Stimmung ist trotzdem angespannt, sagt Graffiti-Künstler Felipe: "Ich fühle", sagt er, "dass irgendwas Komisches in der Luft liegt, irgendwas wird passieren, nichts ist definitiv."
Luftaufklärung mit Hubschraubern
An einem frühen Sonntagmorgen Ende März: Als die Hubschrauber beginnen über den Häusern zu kreisen, ist es noch dunkel. Aber die Anwohner wissen, dass jetzt die Invasion beginnt, die kurz vorher angekündigt worden war. Die Hubschrauber übernehmen die Luftaufklärung für die Spezialeinheiten von Polizei und Militär: 1300 schwer bewaffnete Uniformierte besetzen das Gebiet vom Maré. Gegenwehr gibt es nicht, die Drogenbanden haben sich längst zurückgezogen. Um das Gebiet dauerhaft zu sichern, werden dem Militär per Dekret von Präsidentin Dilma Rousseff Sonderrechte eingeräumt. Kurz darauf rücken 2700 Mann mit Schützenpanzern und aufmontierten Maschinengewehren in Maré ein, flankiert von Infanteristen mit Sturmgewehren. Szenen wie aus einem Kriegsgebiet, findet der deutsche Geographie-Doktorand Timo Bartholl. Er lebt seit sechs Jahren in Maré und fühlt sich bedroht: "Wenn schon Militärbesetzung, dann achtet doch auf die Rechte der Bewohner. Wir sind der Meinung, in dem Moment, wo ein Panzer in ein Wohngebiet fährt, brauchen wir nicht mehr von Grundrechten der Bewohner zu sprechen, weil die sind alle schon gebrochen worden."
Dagegen protestiert Bartholl zusammen mit ein paar dutzend Freunden und Aktivisten. Die meisten Bewohner schauen sich den Umzug interessiert an, nehmen aber nicht teil. Zu groß ist die Unsicherheit, was die Zukunft bringt. Die Drogengangs waren schlecht, aber die Jungs kamen zumindest aus der Nachbarschaft und man kannte sie. Was ändert sich nun unter Polizei und Militär? Einer der wenigen aus Maré, die darüber offen reden, ist der Fotograf Naldinho: "Die Leute sind besorgt", sagt er. Sie wüssten aus den Nachrichten, wie die Polizei in die Favela komme, um zu töten.
Exekutionen von Drogengangstern
So wie die so genannten Totenkopf-Einheiten, die seit Jahren punktuell in die Favelas eindringen, um Drogengangster zu exekutieren. Ihrem rigorosen Vorgehen seien auch Unschuldige zum Opfer gefallen, ist oft zu hören. Der Ausdruck "Verirrte Kugel" ist längst zum geflügelten bitter-zynischen Wort geworden. Die Staatsorgane haben in Rios Armenvierteln einen denkbar schlechten Ruf. Nun, wenige Wochen vor den Spielen der Fußball-Weltmeisterschaft, kommt deshalb José Mariano Beltrame, der ranghöchste Sicherheitsbeamte, persönlich nach Maré, um dort für die Befriedung der Favela zu werben: Schwierig sei es, wirklich schwierig. Das Verhältnis zwischen Polizei und Bürgern sei nicht gut. Es habe früher schlechte Polizei-Methoden gegeben und die Menschen hätten sich abgewendet. Dies zu verändern, werde eine tägliche Herausforderung bleiben für die nächsten 30, 40 Jahre.
Doch so viel Zeit bleibt Beltrame nicht. Sein Befriedungsprogramm steht auf der Kippe: Schon seit fünf Jahren besetzen seine Einheiten strategisch wichtige Armenviertel in der Sechs-Millionen-Stadt Rio de Janeiro. Kontrolliert durch junge Polizisten, die noch unberührt seien vom Korruptionsdunst, der die alte Garde umweht. Begleitend dazu sollten Sozialprogramme die Armenviertel reformieren und aufwerten. Soweit die Theorie. Tatsächlich aber machten von Seiten der Anwohner Folter- und Mordvorwürfe gegen seine Polizisten die Runde. Und: Statt in Schulen und Krankenhäuser investierte Brasilien umgerechnet bis zu zehn Milliarden Euro in teure Stadien und in die Infrastruktur für die Fußball-WM. Und seit Jahresbeginn attackieren Drogenbanden wieder verstärkt die Sicherheitskräfte. Dabei sind bislang mindestens drei Polizisten ums Leben gekommen.
Besetzung von Maré
Die WM vor Augen reagierte schließlich Gouverneur Sergio Cabral: "Die von dort Verdrängten, so Cabral, versuchen die Gebiete wieder zu besetzen und unsere Polizei zu demoralisieren, aber es gibt nur einen Staat! Und der müsse sich stark zeigen, geeint, und in der Lage sein, die organisierte Kriminalität zu beseitigen!" Und Cabral kündigte dann die Besetzung von Maré mit Unterstützung des Militärs an. Offen ließ er, warum ausgerechnet Maré zum Ziel geworden ist und nicht andere Favelas. Die Sozialpsychologin Raquel Willadino arbeitet in Maré und sie glaubt den Grund zu kennen: "Das ist eine Reaktion auf die toten Polizisten", meint sie, "eine Machtdemonstration". Maré sei wichtig im Bereich der öffentlichen Sicherheit. Denn es liege strategisch zwischen zwei wichtigen Zufahrtsstraßen von und nach Rio de Janeiro.
Beide Trassen verbinden den internationalen Flughafen mit dem Stadtzentrum. An den Einfahrten nach Maré stehen jetzt ständig Militärpolizisten und Schützenpanzer. Uniformierte patrouillieren mit ihren Schusswaffen im Anschlag. Doch die Mitglieder der Drogenbanden sind nicht verschwunden, sagt Geografie-Doktorand Bartholl: "Die werden auch bleiben. Insgesamt ist eine sehr angespannte Stimmung. Insgesamt auch eine sehr unsichere Stimmung, wie sind eigentlich jetzt gerade die Machtverhältnisse. Wer hat das Sagen, wer hat nicht das Sagen: im Grunde ist das ein Mischding." Langsam wird es dunkel. Bilder im Internet zeigen wie Bandenmitglieder im Schutz der Dunkelheit mit Waffen ungestört unterwegs sind. Jetzt soll das Militär 24 Stunden, rund um die Uhr patrouillieren. Zumindest bis ihr Auftrag endet und sie wieder abziehen müssen: Ende Juli, dann, wenn die Fußball-WM bereits Geschichte ist.