Der Einzug ins Endspiel der Europameisterschaft wurde auch in einem Labor in Kiew geplant: Schallgedämpfte Räume, klobige Monitore, dutzende Kabel. Ein Physikprofessor füllte Datenbanken, grübelte über Reaktionsfähigkeit und Ausdaueroptimierung. Alle Informationen liefen beim Trainer zusammen: Walerij Wassiljewitsch Lobanowski wollte einen unberechenbaren Sport berechenbar machen. Er entwickelte für jeden Spieler einen Plan, schaffte den Libero ab, trat mit zwei Viererketten an. In den 1970er-Jahren eine Revolution, auch durch die Wissenschaft.
"Natürlich schaute Lobanowski auch über die Grenze hinweg. Er war interessiert an Statistik, an Mathematik, an Kybernetik, die lange Zeit unter Stalin verfemt war", sagt Nikolaus Katzer. Der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau verweist auf die politische Wirkung Lobanowskis in der späten Phase der Sowjetunion. "Und Sport hat immer auch nach außen hin den Eindruck erweckt, diese Gesellschaft ist modern. Oder gibt sich modern. Deswegen ist der Sport ja auch symbolisch von so hoher Bedeutung gewesen. Auch wenn die Infrastruktur und die ökonomischen Strukturen dahinter bei weitem nicht in gleicher Weise konkurrenzfähig waren."
Geheimnisvoll, autoritär, auf einschüchterne Weise erfolgreich
In der Sowjetunion wurden sogar Lieder für Walerij Lobanowski geschrieben. Der wie geschaffen wirkte für westliche Vorstellungen im Kalten Krieg. Geheimnisvoll, autoritär, auf einschüchterne Weise erfolgreich. Er hatte ständigen Zugriff auf seine Spieler, dabei waren das Nationalteam und Dynamo Kiew zeitweise fast identisch. Sowjetische Fußballer durften nicht für ausländische Vereine spielen. Lobanowski hatte mächtige Fürsprecher im Politbüro. Er wollte nicht für die Partei posieren, doch er übertrug deren Grundsätze in sportliche Formulierungen. Er sagte, das System sei größer als jeder Einzelspieler.
Nikolaus Katzer sagt dazu: "Darf es individuelle Größe geben? Darf es herausragende Spieler geben? Natürlich war immer von Helden die Rede. Aber eigentlich mussten sie sich immer der Mannschaft, dem Kollektiv, der Gemeinschaft unterordnen. Das war natürlich ein bisschen heuchlerisch. Natürlich war man an herausragenden Sportlern interessiert und natürlich waren das Helden des Alltags."
Später in der Perestroika forderte Michail Gorbatschow, dass Betriebe sich selbst tragen müssen. Auch Fußballklubs, die seit den 1920er-Jahren an Industriebranchen gekoppelt waren. Walerij Lobanowski konnte nicht mehr alles entscheiden, sein erfolgreiches Nationalteam der EM 1988 zerbrach. Sowjetische Spieler konnten nun lukrative Angebote annehmen: Oleg Blochin, Europas Fußballer des Jahres 1975, ging nach Steyr in Österreich.
Nationaltorwart Rinat Dassajew wechselte von Spartak Moskau zum FC Sevilla, erzählt Martin Brand, Herausgeber des Buches "Russkij Futbol": "Das ist der Beginn eines kapitalistischen Fußballs in Russland. Dassajew zum Beispiel ist nicht wirklich glücklich geworden in Sevilla. Er wollte zurück, aber er konnte nicht zurück, weil die haben immerhin zwei Millionen Ablöse bezahlt für ihn. Und dieses Geld ging zur Hälfte an den Staat und zur Hälfe an den Verein, ungefähr so war die Aufteilung. Und die Ablöse hätte zurückgezahlt werden müssen, wenn er seinen Vertrag dort nicht erfüllt hätte. Und 1989, 1990 folgen ja relativ viele Spieler, die ins Ausland wechseln."
1997: Rückkehr nach Kiew
Auch in Kiew zog sich der Staat zunehmend aus dem Fußball zurück. Erlöse durch Ticketverkäufe und Fanartikel wuchsen nur langsam. Walerij Lobanowski folgte dem Lockruf des Geldes und verbrachte sechs Jahre im Ausland, als Nationaltrainer der Vereinigten Arabischen Emirate und in Kuwait. Dem russischen Fußball fehlte eine Führungsstruktur. Aus der Ferne musste Lobanowski mit ansehen, wie etliche russische Nationalspieler anlässlich der WM 1994 höhere Prämien forderten. Ihrem Team stand nicht mal ein Reservesatz an Trikots zur Verfügung. In diesen chaotischen Jahren konnte sich Spartak Moskau vergleichsweise schnell auf die freie Wirtschaft einlassen.
Die Folge in den 1990er-Jahren für Spartak: sieben russische Meisterschaften, erzählt Martin Brand: "Also während die anderen Spitzenteams in der Sowjetunion, entweder Lokomotive zur Eisbahn gehört oder Dynamo zum Geheimdienst, ist Spartak eher zivil und keinem Unternehmen wirklich zugeordnet. Und das hat sie wahrscheinlich prädestiniert dazu, viel schneller den Übergang zu schaffen zu einem kapitalistisch funktionierenden Fußballverein."
Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 entstanden 15 neue Staaten, bald mit eigenen Fußballligen, auch in der Ukraine. Walerij Lobanowski kehrte 1997 nach Kiew zurück, zunächst als Trainer von Dynamo, 2000 übernahm er das ukrainische Nationalteam. Seine strengen Methoden wurden nun mitunter als rückständig bezeichnet.
Seit seinem Tod 2002 steht er auch für die komplizierte Erinnerungskultur des postsowjetischen Sports, sagt Nikolaus Katzer: "In der Ukraine grenzt man sich ganz scharf von der sowjetischen Kultur ab, was aber bedeutet, dass man sich auch von der russischen, der gegenwärtigen russischen Kultur abgrenzt will. So dass Lobanowski und Blochin natürlich von der ukrainischen nationalen Sportgeschichtsschreibung vereinnahmt werden. Und entsprechend in der russischen Sportgeschichtsschreibung eine weniger herausragende Rolle, als ihnen eigentlich gebührt."
Bei der Eröffnung eines Lobanowski-Denkmals 2003 gehörte zu den Rednern auch ein Vertreter des russischen Fußballverbandes. Doch nach Euromaidan und Krieg in der Ost-Ukraine wäre das heute wohl undenkbar. Lobanowski wurde posthum zum "Helden der Ukraine" ernannt, es ist die höchste staatliche Auszeichnung. In Russland hat das in den Sonderpublikationen zur aktuellen WM keine Rolle gespielt.