"1500 deutsche Schlachtenbummler ließen sich beim Fußballspiel des Jahres die seltene Gelegenheit nicht entgehen, das ferne Moskau kennenzulernen", so berichtete ein Sportreporter über dieses historische Sportereignis: Die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes trat im August 1955 zum ersten Mal in der Sowjetunion an - und die Sorge der Bundesregierung war groß. Der von Deutschen angezettelte Zweite Weltkrieg hatte mehr als 20 Millionen Sowjetbürger das Leben gekostet.
Zwischen Moskau und Bonn gab es keine diplomatischen Beziehungen. In den sowjetischen Lagern warteten noch Tausende deutsche Gefangene auf ein Zeichen. Würden die Kommunisten dieses Länderspiel instrumentalisieren, wenige Wochen vor einem geplanten Besuch von Bundeskanzler Adenauer in Moskau?
Der Historiker Matthias Kneifl hat dazu intensiv in Archiven geforscht: "Als dieses Länderspiel dann gegen die Sowjetunion vereinbart war, musste der DFB-Präsident Peco Bauwens zum Außenminister Heinrich von Brentano. Und dann hatte Brentano eben Bauwens und damit auch der Delegation aufgetragen, in Moskau mit äußerster Zurückhaltung aufzutreten, Propaganda keinen Vorschub zu leisten. Und in Hab-Acht-Stellung zu sein."
Sport als Element der Außenpolitik
War die Sorge begründet? Spätestens nach dem Krieg hatte die Sowjetunion ihre Selbstisolation aufgegeben. Mitgliedschaften in internationalen Sportverbänden wie der FIFA waren nun Element der Außenpolitik, Erfolge galten als Statussymbole. Diese Strategie ging manchmal auf, wie eine umjubelte Reise von Dynamo Moskau Ende 1945 nach England. Und sie ging schief wie 1952 bei den Olympischen Spielen in Helsinki. Der jugoslawische Diktator Tito hatte sich mit Josef Stalin überworfen, nun sollten ihre Teams im Achtelfinale aufeinander treffen. Das Spiel wurde als Duell der kommunistischen Modelle überzeichnet.
Und die große UdSSR scheiterte, erinnert Martin Brand, Herausgeber des Buches "Russkij Futbol": "Und für Stalin ist das, und das hat er wohl in einem Telegramm auch an die Mannschaft ziemlich deutlich gemacht, weit mehr als ein Fußballspiel. Und das hat tatsächlich böse Konsequenzen: Die Nationalmannschaft hat in den folgenden zwei Jahren keine Spiele mehr. Der Verein ZSKA Moskau, der Armeeklub, der den Kern der sowjetischen Nationalmannschaft stellte, wird kurzerhand aufgelöst. Viele der Spieler verlieren ihre Titel als Meister des Sports, werden also degradiert."
Auch nach dem Tod Stalins fürchtete die Bundesregierung ähnliche Machtspiele vor dem DFB-Gastspiel 1955. Die Politik übte auch auf Journalisten und Zuschauer Einfluss aus. Man möge auf das offensive Schwenken von Fähnchen in Moskau verzichten, formulierten Beamte des Auswärtigen Amtes. Die 1500 mitreisenden Fans kamen zur Hälfte aus West und Ost.
Aufnahme diplomatischer Beziehungen
Matthias Kneifl fand auch Hinweise darauf, wie zum Beispiel der FDGB, der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund der DDR, auf westdeutsche Gäste einwirken wollte: "Ich glaube aber, dass dieses Ansinnen gar nicht so sehr aufging, denn die westdeutschen Reisenden waren durchaus heterogen. Es waren auch Unternehmer dabei, die mit nach Moskau reisten, um Wirtschaftskontakte anbahnen zu wollen. Es gab auch viele Angehörige von Kriegsgefangenen oder Verschollenen. Man wusste einfach nicht - 'was ist mit meinen Angehörigen?'"
"Am Tag des Spiels war es drückend heiß", berichtete der Reporter, "dreißig Grad im Schatten zeigten die Thermometer. Stundenlang stürmten die Massen in das Dynamo-Stadion." Vor der Partie übergaben die deutschen Spieler Blumen an das Publikum. Die wenigen der 80.000 Zuschauer, die antideutsche Transparente mitgebracht hatten, waren bald gut gestimmt. Die UdSSR gewann 3:2.
Und drei Wochen später reiste der Bundeskanzler nach Moskau: "Ich hoffe sehr, dass der erste Kontakt, den wir mit unserer Anwesenheit in Moskau aufnehmen, die Herstellung normaler guter Beziehungen einleitet." Konrad Adenauer setzte die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen durch. Einige von ihnen berichteten später, dass die Radioreportage des Länderspiels ein wichtiges Hoffnungssignal war. Die Sowjetunion und die Bundesrepublik nahmen diplomatische Beziehungen auf.
Fußball als "Eisbrecher"
Nikolaus Katzer, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, beschäftigt sich regelmäßig mit Fußball: "Nicht zufällig ist das die Zeit, in der das beginnt, was wir Kulturdiplomatie nennen. Und da ist für Sowjetunion der Sport erstrangig gewesen. Abgesehen davon, dass natürlich auch Theaterensembles und Orchester auf Reisen gehen, dass es Jugendfestivals gibt. Aber der Sport blieb für die künftigen Jahrzehnte das wesentliche Element dieser Kulturdiplomatie."
Heute ist das Spiel von 1955 ein Baustein der Erinnerungskultur. Anlässlich des 60. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen wurde in Moskau dazu eine Dokumentation gezeigt. Und 2017 begann DFB-Präsident Reinhard Grindel seine Rede beim Petersburger Dialog mit jenem "Eisbrecher". Damit lockerte er vor russischen und deutschen Politikern die Atmosphäre im Saal. Angesichts der aktuellen Spannungen dürfte 1955 auch bei der WM noch oft erwähnt werden.