Vor acht Jahren wurde die WM nach Russland vergeben. Wladimir Putin gab eine Pressekonferenz und erinnerte mit anschwellender Stimme auch an das Schicksal seiner Heimatstadt. Die Deutschen wollten Leningrad aushungern lassen. Eine Tagesration bestand zeitweise aus 125 Gramm Brot. Frauen und Kinder aßen mitunter ihre eigenen Haustiere. Trotz dieser Katastrophe blieben die Menschen aufrecht, sagte Putin. Und zog Fußballspiele heran. Spiele während der Belagerung.
Die Osteuropa-Forscherin Anke Hilbrenner hat sich mit dieser Zeit intensiv beschäftigt: "Zu diesem Mythos der Heldenstadt zählen eben unterschiedliche Ereignisse, und eins ist eben das Fußballspiel. Genauso wie diese Kultur, diese Hochkultur, gehörte eben auch Sport zum sowjetischen Leben. Es ist dementsprechend kein Zufall, dass ausgerechnet dieses Fußballspiel inszeniert wurde, wenn es denn inszeniert wurde. Um eben in dieser Unterlegenheit eigentlich eine existente kulturelle Überlegenheit des sowjetischen Menschen gegenüber den Deutschen, die diese grausame Vernichtungspolitik gegenüber Leningrad machten, zu zeigen."
Sport als Mittel zur Selbstermächtigung
Die Quellen und Informationen sind dünn und zum Teil widersprüchlich. Ein Foto zeigt fünf Spieler auf einem holprigen Rasen, im Hintergrund Baracken und eine Mauer. Es wurde am 31. Mai 1942 aufgenommen, als Dynamo Leningrad gegen eine Auswahl des Metallwerks 6:0 gewann. Soldaten waren für die Partie von der Front beordert worden. Ein Spieler soll erschöpft zusammengebrochen sein, andere Berichte schildern den Einschlag einer Granate. Die Kommunistische Partei schickte Dynamo Leningrad später in Städte, wo hunderte Arbeiter aus Leningrad Rüstungsgüter herstellten.
Doch neben dieser Propaganda hatte der Fußball auch einen anderen Wert, erzählt Anke Hilbrenner: "Eine Erklärung, die mir sehr einleuchtet, ist, dass eben gerade in diesen Situationen, wo einem von außen so stark Regeln aufgezwungen werden, etwas macht, was nach eigenen Regeln funktioniert. Und damit auch eine gewisse kulturelle Souveränität unter den Umständen von Zwang, von Hunger, von Gewalt behauptet. Und dadurch auch in dieser Situation von einem wehrlosen Opfer möglicherweise zumindest für den Moment des Spiels zu jemandem wird, der wieder eine eigene Gestaltungsmöglichkeit hat. Und der vielleicht sogar auch gewinnen kann."
Komponist und Fußball-Fan: Schostakowitsch
Der Fußball ist ein Mythos, die Musik ein anderer. Das wohl wichtigste Element der russischen Gedenkkultur ist die siebte Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch. Komponiert während der Belagerung, erstmals in Leningrad aufgeführt am 9. August 1942 im Konservatorium. Mit einem ausgezehrten Orchester, viele Musiker waren gestorben oder litten an Mängelernährung. Die Aufführung sollte zur Legende werden.
Doch was weit bekannt ist: Schostakowitsch, einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, suchte stets Ablenkung im Fußball. Das amerikanische Time-Magazin zitiert ihn in einer großen Reportage 1942: "Der Gipfel der Freude ist nicht der Moment, wenn man mit einer Sinfonie fertig ist, sondern wenn du heiser bist vom Rufen, deine Hände vom Klatschen brennen, deine Lippen trocken sind und einen Schluck von deinem zweiten Bier nimmst, nachdem du mit 90.000 anderen Zuschauern darum gekämpft hast, den Sieg deiner Lieblingsmannschaft zu feiern."
Dimitri Schostakowitsch verkörpert die Brüche der 1930er und 1940er Jahren. Auf der einen Seite galt er als Vorzeigekünstler des Staates. Auch wegen seines früh komponierten Balletts "Das goldene Zeitalter". Darin gewinnt ein sowjetisches Fußballteam in einem fiktiven "bourgeoisen" Land gegen Faschisten. Auf der anderen Seite wurde seine Musik auch als "chaotisch" und "volksfremd" bezeichnet. Eine Gefahr während des Terrors von Stalin.
Unverzichtbar für die Identität von St. Petersburg
Schostakowitsch folgte stattdessen seiner Leidenschaft, ging zu Spielen von Zenit Leningrad und hörte Spielkommentare im Radio. Martin Brand ist Herausgeber des aktuellen Sammelbandes "Russkij Futbol": "Wenn ich das deuten sollte, würde ich sagen, ist es wahrscheinlich die Flucht aus diesem unglaublichen Druck, dem er ausgesetzt ist als bekannter Künstler. Zum einen, eine staatstragende Rolle zu spielen. Zum anderen aber auch immer wieder auf der Abschussliste zu stehen. Da ist für ihn, glaube ich, der Fußball eine Welt gewesen, in die er sich flüchten konnte."
Dimitri Schostakowitsch ist heute für die Identität von St. Petersburg unverzichtbar, ebenso wie die Fußballspiele während der Belagerung. Noch immer fließen Erzählungen in aktuelle Filme oder Romane ein. Am Stadion von Dynamo steht eine Gedenktafel. Und im Museum der Blockade im Stadtzentrum hängt ein sowjetisches Plakat. Darauf zerschießt ein Spieler von Dynamo ein deutsches Propagandaposter.